Neue Gemeinplätze I und II

Bewegung, Organisierung und linke Intervention // Globale Soziale Rechte und linke Intervention

Dieser Text erschien in den Ausgaben 11 und 12 der Zeitschrift Fantômas (2007/2008) und bilanziert den Stand globalisierungskritischer Bewegung nach der Woche von Heiligendamm: nicht wissend, bereits am Ende ihrer Sequenz geschrieben zu sein. Zu prüfen bleibt, ob und wie die am Schluss in den Blick genommene „Phase 2 der Globalisierungskritik“ einst praktisch wird. Von besonderer Aktualität sind dazu die knappen, aber entscheidenden Bemerkungen zu den „dunklen Seiten der Multituden“ bzw. den „verwilderten Mächten des Empire.“ Eine englische Fassung erschien in den Materialien zum Left Forum 2008. (Länger)

Teil 1

Von breiten Bündnissen getragene Großmobilisierungen sind immer ein Anlass, perspektivische Fragen nach dem Stand der sozialen Bewegungen und ihrer politischen Linken aufzuwerfen. Sie sind aber auch eine Gelegenheit, Antworten neu zu diskutieren, die zuvor auf solche Fragen gegeben wurden. (1) Die Mobilisierung nach Heiligendamm erfordert von daher den Rückblick auf den letzten G8-Gipfel in Deutschland, der 1999 in Köln stattfand, und sie gibt Raum für eine Zwischenbilanz der Bewegungen, die sich seit der selben Zeit als „globalisierungskritische Bewegungen“ bezeichnen. Denn nur wenige Monate nach der enttäuschenden Kölner Mobilisierung kam es zu den Demonstrationen von Seattle, die in der Folgezeit ein anhaltendes, wenn auch nicht gleichmäßig starkes Echo fanden: in Prag (2000), in Göteborg und Genua (2001), in Florenz (2002) und Evian (2003), im Prozess der Europäischen Sozialforen (Paris 2003, London 2004, Athen 2006). Hierher gehören natürlich auch die von mehreren Millionen getragenen Globalen Antikriegstage (2003, 2004), in denen sich die mit den Sozialforen verbundene „Internationale von Porto Alegre“ als weltumspannender politischer Akteur artikulierte. Für die deutschen Zustände bleibt an die bundesweiten Großdemonstrationen des 1. 11. 2003 sowie des 3. 4. und des 2. 10. 2004 zu erinnern, zwischen denen die wochenlangen Hartz IV-Proteste lagen. Unvollständig wäre diese Liste allerdings, fehlte das Datum, das verbietet, hier in einer geraden Linie zu denken: der 11. September 2001, der Tag, auf den der offizielle Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ fällt.

Von Köln nach Seattle und…

Zu Beginn der Mobilisierungen zum Kölner G8-Gipfel 1999 glaubten viele an einen Neuanfang sozialer Bewegung. Die Abwahl der Kohl-Regierung (1998) schien das Ende des „alternativlosen Jahrzehnts“ nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus (1989) zu markieren. Natürlich machte sich damals kaum jemand Illusionen über die rot-grüne Koalition: Längst war klar, dass sie die postfordistische (biopolitische, hochtechnologische, neoliberale…) Transformation des Kapitalismus nicht einmal im Ansatz in Frage stellen würde. Dennoch schien das Ende der „Ära Kohl“ einen Umbruch anzuzeigen, ging der Wende in Berlin doch die von Thatcher zu Blair und die von der bürgerlich zur sozialistisch dominierten „Cohabitation“ in Paris (beide 1997) voraus.

Das Scheitern der Kölner Mobilisierung war denn auch zweideutig. Einerseits kam Köln schlicht zu früh: was manche damals erhofften, wurde erst in Seattle zum weltweiten Ereignis. Andererseits steht Köln für ein Problem, dass sich den globalisierungskritischen Bewegungen und ihren Linken noch heute stellt. Denn der Knick in der Mobilisierung folgte auf den Beitritt der rot-grünen Koalition zum imperial(istisch)en Kosovo-Krieg (März – Juni 1999). Insofern nahm Köln vorweg, was auch in Florenz, diesmal nach dem 11. September, nach dem Angriff auf Afghanistan (Oktober 2001) und in Erwartung des Angriffs auf den Irak (März 2003) unabweislich wurde: dass die Herausbildung einer sozialen Opposition gegen die kapitalistische Globalisierung mit der Herausbildung einer Opposition zum globalen imperialen Krieg zusammenfallen muss. Zeit, sich den eigentümlichen Charakter der globalisierungskritischen Bewegungen noch einmal zu vergegenwärtigen.

Die Bewegung der Bewegungen

Markiert Seattle das Ende des alternativlosen Jahrzehnts, wurde dort auch sichtbar, dass Gegenwehr vorher schon geleistet wurde: „In diesem Jahrzehnt gab es die ArbeiterInnenkämpfe, die die großen Automobilfabriken in Korea in Brand gesetzt haben, den Widerstand gegen die multinationalen Konzerne in Nigeria, die Kämpfe der Landlosenbewegung in Brasilien, den Widerstand in Los Angeles oder den im zapatistischen Chiapas. Zum Verständnis der Alchimie, die die großen proletarischen Revolten kennzeichnet, lohnt es sich, in Erinnerung zu rufen, dass das Jahr 1994 sowohl das Jahr des zapatistischen Aufstandes als auch das Jahr mit der weltweit höchsten Anzahl von Generalstreiks im 20. Jahrhundert war.“ (2)

Die Eigenart der globalisierungskritischen Bewegungen lässt sich seither an drei konstitutiven Momenten ausweisen: ihrem Internationalismus, ihrem Pluralismus und, beides zusammennehmend, dem Umstand, dass sie von der sozialistischen, kommunistischen wie der antikolonial-antiimperialistischen Tradition des 20. Jahrhunderts durch einen Bruch getrennt waren und sind. Um mit letzterem zu beginnen: Alternativlos waren die 1990er, weil mit dem Einsturz des Real-Soz jede antikapitalistische Alternative gescheitert schien. Das lag nicht nur am neoliberalen Trommelfeuer. Zu offensichtlich wurde, dass zentrale Annahmen der marxistisch-leninistischen wie der sozialdemokratischen Tradition definitiv nicht mehr zu halten waren: die Vorstellung einer stufenförmig aufsteigenden, notwendigen Entwicklung der Geschichte, eines einheitlichen revolutionären Subjekts und seiner Verkörperung in der einen Partei und ihrer „Wissenschaft“, die Vorstellung von Reform und/oder Revolution als gebunden an die „Eroberung der Staatsmacht“, von der Internationalisierung von Reform wie Revolution auf dem Weg „nachholender Entwicklung“. Klar war jetzt aber auch, dass die sich von der Arbeiterbewegung emanzipierenden Neuen Sozialen Bewegungen und ihre „alternativen“ bzw. „autonomen“ Linken der 1960er bis 1980er Jahre nur erst die Abkehr von Marxismus-Leninismus und Sozialdemokratie, nicht schon die Lösung ihrer Aporien erreicht hatten. Der Ent-Täuschung entsprechen die „altermondialistischen“ Bewegungen durch einen Pluralismus, dessen gemeinsamer Nenner die Wiedereroberung der Möglichkeit überhaupt einer „anderen Welt“ war, und durch einen Internationalismus, dessen Koordinaten nicht mehr die West-Ost-Konfrontation, sondern der Nord-Süd-Zusammenhang sind: die Globalisierung selbst.

Der „Krieg gegen den Terror“ als vorauseilende Konterrevolution der imperialen governance stellte der „Bewegung der Bewegungen“ dann allerdings ihre erst noch zu bestehende Probe: Wie verhält sich ihr Internationalismus zur Globalität des Empire, gesetzt, dass dessen innere Widersprüche auch solche der Bewegungen sind oder werden können? Stellt das globale, stellen die kontinentalen, nationalen, regionalen und lokalen Sozialforen wirklich schon das Modell einer freien Kommunikation und Koordination unhintergehbar pluraler Kämpfe und ihrer Subjektivitäten bereit? Genügt es, fragend voran zu schreiten, um eine (welt-)gesellschaftliche Alternative zum globalen Kapitalismus auszubilden, die kein eines Subjekt, keine eine Partei und eben deshalb auch keinen „Hauptwiderspruch“ und keine Hauptstraße mehr kennen wird?

Die dunkle Seite der Multituden

Der Erfolg von Hardt/Negris Empire (engl. Orig. 2000, dt. 2002) liegt auch darin, in solcher Lage begriffliche Haltepunkte gesetzt zu haben, die zwar unbestreitbar vage und schillernd, zugleich aber von bleibender Evidenz sind. Die Globalisierung? Das globale Imperium, trotz des Anspruchs auf Weltordnung von Konkurrenzen durchzogen (zwischen der „cäsarischen“ Gewalt der USA und seinen nur in letzter Instanz „willigen“ Aristokratien, also der EU, Russlands, Chinas, Indiens und, nicht zu vergessen, der großen transnationalen Kapitale. Die Multitude? Nach ihrer „generativen“, kreativen Seite: die Bewegung der Bewegungen selbst als Menge aller Mengen ohne Subjekt und Partei. Dazu gehören nicht nur explizit politische, sondern auch originär soziale Bewegungen, voran die der Migration. Nach ihrer „korruptiven“, von der Spontaneität der Menge zumindest tendenziell, oft schon vollends abgespaltenen Seite: die „plebejischen“ Mächte des Empire, voran die NGOs, Parteien, Gewerkschaften und Parteien der traditionellen Linken, ein Teil der internationalen Organisationen des UNO-Komplexes, die subalternen Staaten. Ein Antagonismus (Empire vs. Multitude), der trotz aller Unterschiede an den „alten“ Antagonismus (Imperialismen vs. Weltproletariat und antiimperialistische Befreiungsbewegungen) anschließt, mit einer institutionellen Grauzone, die zugleich dem Empire und den Multituden angehört und sich augenblicklich vor allem in den „linken“ Staaten Lateinamerikas verdichtet. (3)

Aber stimmt das Bild überhaupt, selbst wenn man es nur als grobe Skizze nimmt? Nicht ganz. Denn es fehlt, was als dunkle Seite der Multituden, aber auch als verwilderte Mächte des Empire bezeichnet werden kann. Hierher gehören der irakische und afghanische „Widerstand“ und die ihm unmittelbar und mittelbar verbundenen sozialen, ökonomischen und politischen Kräfte (der Iran zum Beispiel, mitsamt der freundlichen Beziehungen, die ihn mit Venezuela verbinden). Hierher gehören die untereinander allerdings nicht umstandslos vergleichbaren „Aufständischen“ und „Rebellen“ vieler bewaffneter Konflikte vor allem Afrikas und Asiens und die zahllosen Akteure der Gewalt, die den Alltag der peripheren Elendsmetropolen und –territorien längst zum sozialen Krieg haben werden lassen. Es sind diese mehr als beunruhigenden Mächte, die dem Empire und seiner – ich nehme den Teil fürs Ganze – „Operation Enduring Freedom“ tagtäglich neu Grenzen setzen: de facto wirksamere Grenzen als die, die ihm in den Globalen Antikriegstagen gezogen wurden. Hierher gehören allerdings auch die nördlichen Entsprechungen des nihilistisch-„postpolitischen“ Syndroms des Südens, nicht weniger dunkel und kaum weniger verwildert: die Nationalismen und Rassismen der europäischen und nordamerikanischen Rechten und deren nicht immer nur stilles Reservoir in der alle subalternen und mittleren Klassen durchziehenden „Politikverdrossenheit“. (4) Setzt man diese eher düsteren Perspektiven – die sich übrigens zwanglos ins Kalkül der imperialen governance fügen, dort längst in Rechnung gestellt sind – mit dem ins Verhältnis, was sich als „ökologische Katastrophe“ nicht mehr nur andeutet, drängen sich apokalyptische Überlegungen auf, das gebe ich zu. Doch tut, wer an die Apokalypse rührt, gut daran, an die nächsten Schritte zu denken, um bleibende Handlungsoptionen abzuschätzen.

Bewegung und – ja doch: Partei und Staat

So wenig der radikale Bruch zwischen den sozialen Bewegungen und politischen Kämpfen des 20. und des 21. Jahrhunderts geleugnet werden kann, so wenig darf er verabsolutiert werden. Das gilt selbst für den Kern der Differenz, die Frage nach Subjekt, Partei und Staat. Von den aktuellen lateinamerikanischen Staatsregierungen wurde schon gesprochen, zu reden wäre von den postsozialistischen oder –kommunistischen Parteien, die allesamt auf Staatsmacht zielen. Ihre wachsende Bedeutung zeigt sich auch und gerade in Europa, wo es in fast jedem Land eine Rifondazione-Partei gibt. In Genua und Florenz nahm sich das harmonisch aus, Bewegung und Partei zogen an einem Strang, die Massen jubelten Fausto Bertinotti zu, und das zu recht: fand er doch deutlichere und klarere Worte als die „Bewegungsprominenten“ einschließlich des etwas blumigen Subcomandante aus dem Chiapas. Die Florentiner Festtagsstimmung ist vorbei, Altes und Neues treten wieder scharf auseinander. Ad 1: Es wird weiterhin linke Parteien und deshalb auch linke Regierungen und „linke“ Nationalstaaten geben, es ist erfreulich, ja sogar wünschenswert, dass es so was gibt. Ad 2: Es gibt kein Zurück hinter den Pluralismus der Bewegungen und Subjektivitäten, kein Zurück zur Unterordnung der Bewegungen unter Staat und Partei. Letztere sind besondere Medien der sozialen und politischen Kämpfe, doch nur ein Medium unter anderen und definitiv nicht das wichtigste. Hinfällig wird damit allerdings die prinzipielle Ablehnung beider: eine jede Ablehnung wird konkret, d.h. im Einzelfall zu begründen, oder sie wird Anarchismus sein, d.h. eine ideologische Position im negativen Sinn des Worts. Am ferneren Ziel eines „Absterben des Staats“ wird deshalb weiter zu arbeiten sein, und zwar nirgendwo anders als im Hier und Jetzt der Kämpfe: nur war das, Hand aufs Herz, im Prinzip immer schon Konsens. Der Ton macht die Musik.

Und action: Heiligendamm und weiter

Um mit den deutschen Zuständen und speziell mit denen der radikalen, also parteifernen Linken abzuschließen: hier müssen Debatten nicht mehr geführt werden, die noch vor kurzem einige Mühe kosteten. Die Antideutschtümelei ist zum Kuriosum geworden, das kaum noch der Kritik mehr bedarf, selbst wenn es in Antifa-Kreisen wirkungsmächtig bleibt: eine auslaufende Serie. Dafür gibt es eine Interventionistische Linke, die ihre Position in mehrfacher Hinsicht noch verdeutlichen wird. (5) Einmal, natürlich, hinsichtlich der Sache selbst: der Wiedergewinnung einer aktivistischen und, traditionell gesprochen, „massenpolitisch“ ausgerichteten strategischen Konzeption linken Handelns. Hier bleibt noch einiges zu klären, im Blick auf den Verlust einer solchen Konzeption (spätestens) seit den 1990er Jahren, und im Blick auf das, was „postautonome Organisationsfrage“ genannt werden kann. Dabei wird es um das Verhältnis zu den Bewegungen gehen (die als solche nicht notwendig links und schon gar nicht linksradikal sind), um das zur Partei (die hier wohl Die Linke. heißen und kaum weniger problematisch sein wird als das, was aus der italienischen Rifondazione geworden ist). Und um das Verhältnis zu sich selbst. Denn was wird eine radikale Linke werden, die unter der Zukunft der Kämpfe nicht mehr die Verallgemeinerung ihrer eigenen Linksradikalität versteht, weil sie weiß, dass der Pluralismus der Kämpfe und Subjektivitäten jeder Vereinheitlichung widersteht, auch einer „linksradikalen“? Und was aus einer radikalen Linken, die auf die globalen Multituden setzt und eben deshalb ein Verhältnis zu deren dunkler Seite gewinnen muss, das nicht mehr „antiimperialistisch“ sein kann und doch nie „weiß“ werden darf, in welcher Fassung des „Kampfs der Kulturen“ auch immer?

Auch darum geht es in Heiligendamm, und darum wird es erst recht nach Heiligendamm gehen, wenn die Alltagstauglichkeit linker Interventionen (wieder) zum Brennpunkt wird, global und lokal. Ein Beispiel nur, zum Abschluss und zum Weiterdenken: So viel versprechend „Agenturschluss“ und „Euromayday“ sein mögen, so unverbunden blieben beide mit den Protesten der Studierenden – und mit den seit Jahrzehnten ersten politischen Streiks in der BRD, an denen sich im Januar diesen Jahres bis zu 250.000 Leute beteiligten. Wie gesagt: ein Beispiel nur.

 

(1) Erster, mittlerer und vorläufig letzter Text einer längeren Serie: Kein Gipfelsturm, Graswurzelrevolution 241, 1999; The People of Genova. Plädoyer für eine post-avantgardistische Linke, in: BUKO (Hg.), radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke, 2003 sowie, zus. mit Werner Rätz, Fünfzehn Thesen zur vorläufigen Beantwortung der Frage, wie man in nahezu aussichtsloser Lage wenigstens eine andere Richtung einschlägt. In: A. Exner, J. Sauer u.a., Losarbeiten – Arbeitslos, Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft, 2005.

(2) Gemeinsame Orte. Bewegung, Organisierung, Untersuchung: ein Vorschlag von DeriveApprodi, in: analyse + kritik 481/2004. Der italienische Titel des Texts lautet luoghi comuni und meint nicht „Gemeinsame Orte“, sondern „Gemeinplätze“: was hier richtig gestellt wird.

(3) Zu „Korruption“ und „Generation“ als den Grenzmarken im Antagonismus von Multitude und imperialer governance vgl. Empire, S. 377ff.

(4) Die Nord-Süd-Differenz ist hier wie anderswo nur provisorisch und löst sich in dem Maß auf, wie sich „Norden“ im Süden und „Süden“ im Norden ausbreiten.

(5) Bis auf weiteres zu erreichen unter: http://g8-2007.de/

Teil 2

 

Für die radikale Linke in Deutschland war die Heiligendamm-Mobilisierung trotz des Verlaufs der Samstags-Demonstration ein Erfolg. Punkt. Ein zweiter Erfolg war die nur zwei Wochen später vollzogene Gründung der Partei DIE LINKE – für die, die da mitmischen wollen wie für die, die das nicht tun. Soll vermessen werden, was in globalisierungskritischer Bewegung jetzt auf dem Spiel steht, bleibt zuerst zu erinnern, was von ihr bisher zu sagen war. Dies betrifft ihren programmatischen Einsatz, ihre subjektive Zusammensetzung, ihren strategischen Ansatz und ihren heute erreichten Stand.

In gebotener Kürze

Den programmatischen Einsatz dieser Bewegungen benennt ihre zentrale Losung: „Eine andere Welt ist möglich!“ Deren Unbestimmtheit reflektiert ihren historischen Ausgangspunkt: den Zusammenbruch nicht nur des real existierenden Sozialismus, sondern der gesamten Linken des 20. Jahrhunderts im Prozess der neoliberal dominierten kapitalistischen Globalisierung. Sie reflektiert zugleich, dass die Bewegungen bisher nur durch ihre Entgegensetzung zum neoliberalen Regime zusammengehalten werden. Darin artikuliert sich zugleich ihre subjektive Zusammensetzung: sind sie bis heute doch nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Allianz aller anti-neoliberalen politischen Akteure. Zu ihr gehören Sozial- und Umweltverbände sowie NGOs, Gewerkschaften und kirchliche Organisationen, die Reste der Friedens- und Umweltbewegungen, AktivistInnen verschiedener Sozialproteste sowie die Reste und die Neuaufbrüche moderater wie radikaler linker Parteien und Organisationen – das Ganze natürlich in kontinental- und länderspezifischer Variation, aber immer irgendwie so. In Lateinamerika beziehen sich auch einzelne Regierungen bzw. Staaten auf die „Bewegung der Bewegungen“, nicht nur, weil sie auf deren Loyalität hoffen, sondern weil auch sie primär durch ihre oppositionelle, eben: anti-neoliberale Rolle im globalen Staatensystem bestimmt werden.

Der subjektiven Zusammensetzung entspricht ihr strategischer Ansatz. Dieser liegt in einer Verpflichtung auf einen grundsätzlichen, weil zugleich strategisch und programmatisch verstandenen Internationalismus und Pluralismus. Von entscheidender Bedeutung kann sein, dass dieser Pluralismus auf einen neuen Umgang mit der ebenso historischen wie strukturellen Spaltung der Linken in moderate und radikale Strömungen zielt.

Bedeutsam ist das gerade in Hinsicht auf ihren heute erreichten Stand. Dieser wird durch die offenbare Krise des Neoliberalismus bestimmt, die sich nicht mehr nur in der Ideologie, sondern auch auf der Ebene der Realpolitik artikuliert. Um einem Missverständnis vorzubeugen, seien zwei Punkte ausdrücklich festgehalten:

  1. Auch wenn die Krise erste realpolitische Effekte zeitigt, bleibt sie eine solche der Hegemonie, d.h. der ideologischen Dimension der Herrschaft.
  2. Auch wenn sie zu ihr beigetragen haben, kann die Krise selbst nicht als Folge der Bewegungen gewertet werden. Die Schwäche des Neoliberalismus resultiert vielmehr aus mehreren, internen wie externen Gründen. Zu denen gehört nicht zuletzt der zunehmende Einfluss von Staaten bzw. Regierungen, die wie China oder Russland zwar Teil des kapitalistischen Empire sind, doch an der Bildung der neoliberalen Hegemonie nicht beteiligt waren und deshalb für alternative Regulationsweisen des Kapitalismus offen sind.

Globale Soziale Rechte

Soll die Krise des Neoliberalismus forciert und die Möglichkeit einer anderen Welt praktisch werden, müssen die Bewegungen diese Welt allerdings dringend näher bestimmen. Sie werden auch dabei auf das Scheitern ausnahmslos aller Versuche einer Überwindung kapitalistischer Gesellschaft zurückverwiesen. Tatsächlich ist mit der Wende von 1989 nicht nur die unmittelbare Bezugname auf die Namen Sozialismus und Kommunismus, sondern auch die Bezugname auf die in ihnen gedachte Form der Gesellschaftsveränderung unmöglich geworden, nach der es dabei um „Systemalternativen“ zwischen zwei prinzipiell unterschiedlichen „Gesamtgesellschaften“ gehen sollte. Das heißt nicht, dass es künftig nur noch um Veränderungen innerhalb des Kapitalismus gehen dürfe. Doch kann dessen Überwindung nicht mehr als Abfolge verschiedener „Systeme“ gedacht werden, selbst dann nicht, wenn sie durch Übergänge vermittelt würde.

In den Bewegungen selbst wird dieses Problem in den internationalen Diskussionen um „Globale Soziale Rechte“ bearbeitet. Auch wenn es dort im Wortsinn zunächst „nur“ um Rechte von transnationaler Geltung geht – eine Sache, die schon von den Menschenrechten her vertraut und zugleich strittig ist -, schwingt im Ausdruck „global“ doch die weiter reichende Bedeutung mit, nach der im Kampf um solche Rechte genau die andere Welt gemeint wird, um die es den Bewegungen geht. Vor und in Heiligendamm wurde diese Diskussion von einem typisch globalisierungskritischen Bündnis vorangetrieben, zu dem neben attac die entwicklungspolitischen NGOs medico international und FoodFirst Informations- und AktionsNetzwerk (FIAN), das antirassistische Netzwerk kein mensch ist illegal, die Grundsatzabteilung der IG Metall sowie zumindest zeitweilig einerseits Greenpeace und andererseits die Euromärsche und schließlich die Interventionistische Linke gehörten; im Rahmen ihrer eigenen Aktivitäten nahm an der Debatte auch die noch als PDS firmierende Linkspartei teil. Dabei wurde deutlich, dass es einerseits stets um konkret einzufordernde besondere Rechte geht: um das Recht auf eine bedingungslose Grundsicherung (attac) bzw. auf Nahrung (FIAN) und den global gleichen Zugang zu Gesundheit (medico), um im Rahmen transnationaler Konzerne durchzusetzende Rechte von ArbeiterInnen und Angestellten (IGM), um das Recht auf weltweite Freizügigkeit und freie Wahl der Niederlassung (kmii) und schließlich um globale ökologische Gerechtigkeit (Greenpeace). Trotz ihrer zum Teil ja erheblichen Unterschiede stimmten alle Beteiligten darin überein, dass es in den verschiedenen Forderungen nach Globalen Sozialen Rechten nicht nur um im Einzelfall verbriefte und niedergelegte Rechte, sondern auch um die Kämpfe selbst geht – und damit nicht nur um staatlich, d.h. „von oben“ institutionalisierte, sondern auch um „von unten“, d.h. selbsttätig und eigenmächtig in Anspruch genommene Rechte. Dabei wurde deutlich, dass sich die beteiligten Bewegungen und Organisationen dazu auf ein eine längerfristige politische Zusammenarbeit einlassen und einen gemeinsamen Anspruch auf Gesellschaftsveränderung ausarbeiten müssen. Schließlich war und ist man sich auch darin einig, im europäischen Einigungsprozess die jedenfalls für uns nächste Dimension der Durchsetzung eines solchen Projekts auszumachen und den Kampf um die Konstitution der EU derart als nächsten Ernstfall anzusehen. Das Wort „Konstitution“ im doppelten Sinn verstanden: als formelle Verfassung und als Prozess der Hervorbringung.

Auf die Plätze, fertig…

Hing der für den bisherigen Zyklus der globalisierungskritischen Bewegungen kennzeichnende Internationalismus und Pluralismus immer auch an der aus dem Zusammenbruch der Realsozialismen resultierenden politischen Schwäche ihrer verschiedenen Akteure, könnte sich dies für einige Beteiligte schon in absehbarer Zeit ändern. Tatsächlich ist nicht mehr auszuschließen, dass es bald auch außerhalb Lateinamerikas anti-neoliberale Regierungen oder aber mindestens anti-neoliberale gesellschaftliche Mehrheiten und damit eine anti-neoliberale Realpolitik geben wird. Dabei wirkt in der Perspektive der dringendsten gesellschaftlichen Herausforderungen wie etwa der ökologischen oder der Herausforderung des im Wortsinn tödlichen Massenelends im Süden ein Problemdruck, der so stark ist, dass er sich seine subjektiven Akteurskonstellationen gleichsam objektiv schaffen wird. Auf die Probe gestellt werden damit aber gerade der Internationalismus und der Pluralismus der Bewegungen und darin besonders der Zusammenhalt ihrer moderaten und ihrer radikalen Linken. Sofern Realpolitik immer auch staatliche Politik und damit Sache einer (heute stets transnationalen und nach Lage der Dinge deshalb auch imperialen) Staatlichkeit sein wird, heißt das nämlich gar nichts anderes, als dass ein Teil der anti-neoliberalen Allianz selbst Staat werden wird. Natürlich werden dies die mit den Bewegungen verbundenen Parteien sein, deren gemeinsamer Charakter grob gesprochen darin liegt, in jeweils eigensinniger Variation zugleich „post-sozialdemokratisch“ und „post-kommunistisch“ zu sein. Hält man sich an die prominentesten Beispiele – die brasilianische Partido dos Trabalhadores (PT) und die italienische Partito Rifondazione Comunista (PRC) – besteht dabei zu Optimismus kaum Anlass. Im Gegenteil: macht man sich klar, dass solche Parteien – in Deutschland also DIE LINKE – zunächst nur in Koalition mit weiter rechts stehenden Parteien regieren können, wachsen sich die Bedenken des Unheils fast zu Gewissheiten aus. Dies ändert sich auch dann nicht, wenn die Mehrzahl der NGOs, die größeren Sozial- und Umweltverbände und vermutlich auch die Gewerkschaften offen auf diese Parteien orientieren und dabei auf sie einwirken sollten Bleibt also trotz der von Seattle bis Heiligendamm fortlaufend bestätigten Gemeinsamkeit der Bewegungen und ihrer Linken nur das alte Spiel, die letztendliche Spaltung zwischen „Reformisten“ und „Revolutionären“, und das heißt dann die mehr oder minder bereitwillige „Systemintegtration“ der realpolitischen Mehrheit und die mehr oder minder freiwillige (Selbst-)Marginalisierung der radikalen Minderheit, bei zunehmender Ent-Politisierung derjenigen, um die es eigentlich geht – der Leute selbst? Bleibt, aus der radikalen Perspektive gesprochen, also wieder nur das Vertrauen auf die spontane und autonome Massenaktion, zeitgemäß in Holloway’schen Phrasen von „Anti-Macht“ verpackt? Oder zielt die den Bewegungen im Grunde heute schon gestellte Probe auf eine politische Erfindung, die nur als gemeinsame gelingen kann, d.h. in fortgesetzter, wenn auch nicht widerspruchsfreier Kollaboration, man kann auch sagen: Komplizenschaft von Moderaten und Radikalen? Eine solche Erfindung bestünde in ihrem Kern in einer Neubestimmung des Unterschieds von moderater und radikaler Linken, der dann nicht mehr im Sieg der einen oder der anderen Seite aufzuheben, sondern absichtlich und von beiden Seiten her auf Dauer zu stellen wäre, um derart zur Sache einer strukturellen und darin bitter ernsten, wenn auch nur mit Ironie auszutragenden Arbeitsteilung zu werden.

…Und los: Phase Zwei der Globalisierungskritik

Keinesfalls zufällig kommt im Problem einer solchen Erfindung der Partei eine entscheidende Rolle zu. Dies allerdings nur so, dass deren genauer Charakter zureichend erstens nur von allen Beteiligten auszuhandeln wäre und zweitens darin bestünde, dass ihr eben nicht die entscheidende Rolle zufällt. Keinesfalls zufällig lässt sich diese scheinbare Paradoxie (der Partei und damit dem Staat fällt und fällt nicht die entscheidende Rolle zu) wiederum in der Perspektive der Globalen Sozialen Rechte erläutern. Solche Rechte wird es nur dann geben, wenn sie im autonom organisierten Kampf gegen den Staat oder jedenfalls staatsfern erstritten werden. Mehr noch: solche Rechte wird es überhaupt nur geben, wenn die Leute, um die es geht, sich diese Rechte selbst nehmen. Paradigmatisches Beispiel ist hier die autonom organisierte Migration, sofern es ein Recht auf weltweite Freizügigkeit und freie Wahl der Niederlassung de facto nur insoweit gibt, als die Leute von sich aus längst hier (d.h.: überall) sind. Und andererseits: Soll der diesem Recht einbeschriebene Anspruch wirklich auf seinen Punkt kommen, wird es auch ein institutionalisiertes, d.h. ein verbrieftes, niedergelegtes und vom Staat garantiertes Recht werden müssen: weil es nur so wirklich in jedem einzelnen Fall und zugleich immer auch für alle gelten wird.

Wollte man dazu die TeilnehmerInnen der aktuellen Diskussionen um Globale Soziale Rechte befragen, wäre konkret nach ihrem Blick auf die Konstitution des europäischen politischen Raums zu fragen. In der Perspektive der Mehrheit der Beteiligten geht es dabei sicherlich um ein reformistisches Projekt, aus der Perspektive der radikalen Minderheit gesprochen: um den Versuch, in der europäischen Dimension dem transnationalen Kapital den „Klassenkompromiss“ abzuringen, der in nationalstaatlichen Grenzen nicht mehr durchzusetzen ist. Zentraler Akteur in dieser Auseinandersetzung wird eine Allianz der neuen Linksparteien sein, in Koalition mit nach dem Modell der amerikanischen Demokraten „modernisierten“ Sozialdemokratien und ebenfalls bestenfalls sozialliberal ausgerichteten Grünen – etwa so, wie es sich in Italien, aber auch in Deutschland in ersten Ansätzen abzuzeichnen beginnt.

Wäre ein solches Szenario das Ende der globalisierungskritischen Bündnisfreuden? Nicht unbedingt. Eine solche Wendung könnte nämlich dann gelingen, wenn sich moderate wie radikale Linke theoretisch und praktisch darüber verständigten, dass der Partei und mit ihr im Staat immer nur das möglich ist, was autonom organisierte Kämpfe herauszuschlagen vermögen. Ist die Intensität der Kämpfe hoch, geht da einiges, flacht sie ab, geht nur weniges oder gar nichts. Im Kampf um die Konstitution Europas könnte sich das zum Beispiel in der Definition einer dann europäischen Staatsbürgerschaft niederschlagen, in der Frage, wer warum welchen Anspruch auf sie hat und welche Rechte mit ihr verbunden sein werden. (2) Kann es hier eine Komplizenschaft zwischen der moderaten und der radikalen Linken geben, müsste es nicht eine solche geben, jenseits steriler Denunziationen „reformistischer“ Beschränkung oder „revolutionärer“ Staats- und Realitätsferne? Wie wäre auf beiden Seiten das Vertrauen in die Möglichkeit einer solchen Komplizenschaft zu schaffen? Wie wäre ein solcher Austausch zu organisieren und zu institutionalisieren, in welchen Medien, in welchen Formen? Überhaupt: die Form – um sie kreisen die eigentlich wichtigen Fragen, weniger um die Mäßigung oder das Zulangen in den sog. „inhaltlichen“ Punkten. Wie also müsste eine zu solcher Komplizenschaft bereite, ansonsten „bloß reformistische“ Partei beschaffen sein, wie ihr Verhältnis zu den Bewegungen und den Kämpfen, und wie umgekehrt deren Verhältnis zur Partei? Wie müsste sich in diesem Verhältnis eine radikale Linke verhalten, die selbst weder Partei noch Bewegung wäre? Das sind die entscheidenden Probleme, und erst in zweiter Linie der Wohl- oder Missklang von Partei- oder gar Koalitionsprogrammen. Schon in der Mobilisierung zu Heiligendamm hat sich gezeigt, dass der „Konsens von Porto Alegre“ zur Trennung von Partei und Bewegung bzw. Zivilgesellschaft dazu relativiert werden müsste. Man sieht: die Dinge bleiben kompliziert und sind nur mit Ironie auszutragen. Dabei wurde von der in letzter Instanz entscheidenden Sache noch gar nicht gesprochen, von der Anordnung der Produktivkräfte als dem, was aller Politik vorausliegt und deshalb das eigentlich Politikum darstellt.

(1) Vgl. Thomas Seibert, Neue Gemeinplätze. Bewegung, Organisierung und linke Intervention. In: Fantomas 11. Connecting Words and Struggles. Wie und wozu man auf der Straße und im Saal „Bündnispolitik” betreibt. In: analyse+kritik 518, Juni 2007. Gregor Samsa: Mythos Heiligendamm. In: analyse+kritik, August 2007

(2) Aus diesem Grund stimmten prominente Linksradikale wie Toni Negri oder Etienne Balibar für den von den EU-Regierungen ausgehandelten Verfassungsentwurf: eine Entscheidung, die in ihrer Logik wegweisend bleibt, obwohl sie der damaligen Situation und den um sie geführten Kämpfen falsch war. Vgl. Etienne Balibar, Sind wir Bürger Europas?, Hamburg 2003