Erste Positionsbestimmungen von Franco ‚Bifo‘ Berardi und Thomas Seibert
In der Ausgabe 2/2009 ging die Zeitschrift LuXemburg der Frage nach, wo wir 10 Jahre nach Seattle 1999 stehen. Zur Beantwortung wählte die Redaktion ein besonderes Verfahren: sechs Autor*innen-Aktivist*innen sollten zu einem Text von Franco ‚Bifo‘ Berardi Stellung beziehen. Der Philosoph und Aktivist Bifo war Mibegründer der Zeitschrift A/traverso und von Radio Alice, dann Protagonist der kurzlebigen „Stadtindianer“-Bewegung. Hier dokumentiere ich Bifos Text und meine Antwort: Positionsbestimmungen noch ganz am Anfang der Gegenwart: der Zeit der Monster.
Die alte Welt liegt im Sterben,
die neue ist noch nicht geboren:
Es ist die Zeit der Monster.
Antonio Gramsci zugeschrieben.
Franco ‚Bifo‘ Berardi: Rückzug in sichere Häfen
Im November 1999 begann eine politische-ethische Rebellion: der Protest unterschiedlicher Gruppen aus aller Welt gegen die Folgen kapitalistischer Globalisierung, sozialer und ökologischer Zerstörung kristallisierte sich an diesem Ort des WTO-Gipfels. In den folgenden zwei Jahren entwickelte eine globale Bewegung eine effektive Kritik neoliberaler Politiken und machte Hoffnung auf einen radikalen Wandel. Dann, nach dem G8-Gipfel in Genua, bricht die Erzählung um – Krieg rückte in den Vordergrund. Die Bewegung ließ nach, ihre Wirkung reduzierte sich nahezu auf Null. Sie verfehlte es, in den Alltag der Weltgesellschaft auszustrahlen. Sie verfehlte es, einen Prozess der alltäglichen Selbstorganisation der techno-wissenschaftlichen Arbeiter in Gang zu setzen.
Zehn Jahre nach Seattle müssen wir eine neue Strategie der Bewegung entwickeln. Neoliberale Politik hat die Idee des Öffentlichen zerstört. Sie hat Produktion, Kommunikation, Sprache und Affekte privatisiert und inwertgesetzt. Konkurrenz hat den Platz der Solidarität eingenommen. Die vorherrschende Form ökonomischer Beziehungen ist kriminell geworden. Krieg begleitet diese kriminelle Mutation der kapitalistischen Produktionsweise. Eine systematische Verwahrlosung der physischen und psychischen Umwelt ist logische Folge dieser Mutation.
Die Wahl von Barack Obama öffnete ein Fenster von Möglichkeiten. Doch die gegenwärtige Situation ist unübersehbar paradox. Die USA hat ihre militärische Vorherrschaft verloren, weil religiöser Fanatismus, Fundamentalismus, Nationalismus und Terror in weiten Teilen der Welt befördert wurden. Definitiv verliert die westliche Hegemonie an Grund. Die Finanzkrise bringt darüber hinaus den Zusammenbruch der finanziellen US-Vorherrschaft mit sich und führt zur Ausbreitung der Krise, produziert Unruhe und Misstrauen auch in den westlichen Gesellschaften.
Zu Zeiten der Präsidentschaft Bill Clintons war es möglich (wenn auch nie überzeugend) von einem amerikanischen Empire zu sprechen. Mit George W. Bush’s Staatsstreich innerhalb des Empires beginnt die Zeit des ‚permanenten‘ Krieges. Sofern dies zutreffen sollte, hat der Staatsstreich seine Ziele erreicht. Bush und seine kriegerische Meute haben zwar ihre Kriege verloren (der Irak-Krieg ist ein vollständiger Mißerfolg, Afghanistan eine nicht endende Niederlage und der ‚Krieg‘ gegen den Iran nicht zu gewinnen). Dennoch gewannen sie ihren Krieg zur Aneignung von Ölprofiten, ihren Krieg gegen den Frieden und Menschheit. Nun, da das Weiße Haus von einem Präsidenten mit genuine demokratischerer Kultur bewohnt wird, fällt das amerikanische Empire auseinander. Chaos ist der einzige Herrscher der Welt.
Was kann in einer solchen Situation getan werden? Es ist keine Hoffnung in Sicht, da die kriminelle Wende des Kapitalismus unumkehrbare Effekte in der Kultur und dem Verhalten der planetarischen Gesellschaft hervorgebracht hat. Ein Drittel der Menschheit ist vom Tode bedroht: Hunger verbreitet sich wie nie zuvor. Die Energiekrise füttert Aggressionen und Inflation. Ein Drittel der Menschheit arbeitet zu Bedingungen, die Sklaverei nahe kommen oder sind gezwungen Prekarisierung und Ausbeutung hinzunehmen. Ein Drittel der Menschheit ist bis an die Zähne bewaffnet, um seinen Lebensstandard gegen ein Heer von Migranten zu verteidigen. Wir sollten uns auf eine lange Phase der Barbarisierung und der Gewalt vorbereiten.
Wir sollten einige sichere Häfen für eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung schaffen, die das Erbe einer humanistischen Zivilisation und der Potenzen des General Intellect bewahrt, welche in ernsthafter Gefahr sind. Das bevorstehende Zeitalter ist durchaus zu vergleichen mit dem sog. europäischen Mittelalter. Während Invasoren durch das Land streiften und die Spuren antiker Zivilisationen zerstört wurden, retteten Gruppen von Mönchen die Erinnerung an die Vergangenheit und die Samen einer möglichen Zukunft.
Wir können nicht wissen, ob das anstehende Zeitalter der Barberei Jahrzehnte oder Jahrhunderte währen wird. Noch können wir sagen, ob unsere physische Umwelt die Verwüstungen des kriminellen Kapitalismus überleben wird. Aber wir wissen sicher, wir haben nicht die Waffen den Zerstörern entgegenzutreten. So müssen wir uns selbst und die Möglichkeit einer Zukunft retten. Eine Strategie reicht nicht aus, wenn die Dinge so unvorhersehbar sind wie gegenwärtig. Wir kennen weder die Konsequenzen des Niedergangs amerikanischer Vorherrschaft, noch die Entwicklung und Folgen der Kriege von Pakistan bis Gaza. Wir haben keine Vorstellung von den Folgen der ethnischen Bürgerkriege niedriger Intensität, noch welche Explosionen den krisenbedingten Verwüstungen der politischen Ökonomie der Arbeiter nachfolgen.
Wir sehen einer langen Periode mönchhaften Rückzugs entgegen und müssen zugleich mit der Möglichkeit einer plötzlichen Verschiebung der globalen politischen Landschaft rechnen. Stellen wir uns etwa die Revolte chinesischer Arbeiter gegen den national-kommunistischen Staatskapitalismus vor, die Unfähigkeit des US-Militärs einer neuen Welle des Terrors entgegenzutreten, den Kollaps von Ökosystemen in wesentlichen Teilen der Welt – Szenarios, die absolut realistisch sind. Solche Ereignisse könnten dramatische Veränderungen der politischen Haltungen einer Mehrheit der Weltbevölkerung nach sich ziehen. Auch darauf müssen wir vorbereitet sein, bereit eine solche Wendung zu erklären und aufzugreifen. Und wir sollten lebensbejahende Beispiele einer anderen Lebensweise entwickeln, die nicht auf Konsumismus, Wachstum und Konkurrenz basiert. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Redefinition der Verständnisses von ‚gutem Leben‘, Wohlstand und Glück.
Unsere Aufgabe wird sein, Klöster zu errichten, in denen bescheiden, genügsames Wohlergehen gelebt und erprobt wird – eine gelebte Kritik der Naturalisierung der Wachstumsnotwendigkeit. Wir sollten Schritte einer kulturellen Produktion eines neuen Paradigmas gehen, weg vom obsessiven Wachstum, hin zu Genügsamkeit, kultur-intensiver Produktion, Solidarität, der Wertschätzung von Faulheit und Zurückweisung von Konkurrenz. Der Kapitalismus setzt gutes Leben mit Akkumulation gleich, Glück mit Konsumismus und Reichtum mit der Zerstörung von Natur. Wir hingegen sollten Lebensweisen vorleben, in denen gutes Leben Genügsamkeit bedeutet, Glück Großzügigkeit heißt und Reichtum den Genuss von Zeit einschließt. (Aus dem Englischen von Mario Candeias)
Thomas Seibert: Die Klöster der Militanten
Jede*r kennt das: man liest einen Text, stimmt fast jedem Satz zu und weiß trotzdem schon kurz danach nicht mehr, worum’s eigentlich ging. Es gibt Autor*innen, deren ganze Produktion aus solchen Texten besteht. Bifo gehört nicht zu ihnen, das zeigt sich auch in Zehn Jahre nach Seattle. Dem widerspricht nicht, dass ich seinen „Punkt“ so nicht teile. Nein, unsere Situation lässt sich nicht mit der des europäischen Mittelalters vergleichen. Nein, das Empire versinkt nicht im Chaos – und das, obwohl die Phänomene, auf die Bifo sich beruft, wirklich vorliegen. Ja, imperiale Herrschaft wird systematisch militarisiert und mafiotisiert. Ja, ihr amerikanisches Nicht-Zentrum verliert an Boden, gibt Kräftekonstellationen Raum, die möglicherweise noch furchtbarer sein werden. Die Erde wird systematisch verwüstet. Im Doppel von Liberalismus und Fundamentalismus, also von Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung, schließt sich der politische Raum schon gegen die Idee von Befreiung. Die kulturindustriell simulierte Öffentlichkeit produziert systematische Konfusion. Vergesellschaftung und Vereinzelung gehen tendenziell in einer klassenspezifisch fragmentierten, aber stets konkurrenzegoistischen Mobilmachung aller gegen alle auf, die schon dort tiefe, vielleicht nicht mehr zu heilende Wunden schlägt, wo sie (noch) nicht blutig ausgetragen wird. Die ökonomische Krise barbarisiert diese Tendenz. Und doch: Wir sprechen von mächtigen, nicht von unumkehrbaren Tendenzen. Von daher mein erster Einwand: Wörtlich genommen, trüge Bifos „Doppelstrategie“ selbst zur fortschreitenden Entpolitisierung bei.
Was schlägt er vor? Die klösterliche Sezession der „übriggebliebenen“ Militanten einerseits, die Öffnung zum unberechenbaren Einbruch des ganz Anderen andererseits. Ist das so falsch, angesichts der gegebenen Lage? Nein, nicht ganz. Es ist auch nicht wirklich neu. Die individuelle und kollektive Absonderung war immer schon Moment der Selbstkonstitution militanter Subjektivität und ist dies deshalb auch und gerade im kulturindustriellen Spektakel wie im konkurrenzegoistischen Rattenrennen. Dasselbe bleibt vom Sichbereithalten für eine plötzliche Wende, für ein Ereignis zu sagen: nicht zufällig ein Fokus auch der neueren philosophischen Debatten. Übrigens gehörte beides schon in der christlichen Sezession zusammen, artikuliert in der apokalyptischen Formel „Das Reich Gottes ist nah.“ Die bezieht sich gerade nicht auf eine demnächst eintretende Begebenheit, sondern auf eine Möglichkeit, die ihr Sein und also ihre Wahrheit in ihrem Kommen selbst hat, nicht in einer letztendlichen Ankunft: Allein so war und ist sie der bleibende Bezugspunkt des subjektiven Bruchs mit der Normalität wie der subjektiven Öffnung zum ganz Anderen.
Und dennoch: „Zwischen“ diesen beiden Grenzoptionen liegt eine breite Palette anderer Optionen – die ganze Alltäglichkeit der politischen Militanz, des profanen Aktivismus. Zu ihr gehören auch die Feineinstellungen der historischen Analyse, also das breite Tableau der Phänomene, die Bifos Szenario systematisch ausblendet, ohne deshalb ganz falsch zu sein. Nur auf diesem Tableau aber bleibt anzugehen, was auch er früher als „Massenlinie“ bezeichnet hat: die Suche nach einer organischen Verbindung der Minderheit militanter Intellektueller mit der Masse derer, die potenziell Militante, potenziell Intellektuelle sind. Natürlich geht es dort weniger dramatisch und vor allem uneindeutiger zu als im Neuen Mittelalter; doch liegt hier die eigentliche Probe der Politisierung. An dieser Stelle bleibt anzumerken, dass Bifos Perspektive eine euro-, wenn nicht italo-zentrische ist und ihren Ausgangspunkt im Zerfall der globalisierungskritischen Linken Italiens seit den Massendemonstrationen von Genua (2001) bzw. Florenz (2002) hat. Doch auch wenn die Stagnation, wenn nicht Rückläufigkeit der Bewegungen nicht nur Italien betrifft, ist der daraus resultierende resignative Unterton seiner „Doppelstrategie“ politisch fragwürdig. Zum einen natürlich, weil Bifo gegenläufige Tendenzen außer Acht lässt: ich nenne hier nur die verschiedenen, je für sich hochinteressanten, weil in sich konfliktiven Konstellationen einer kämpfenden und einer regierenden Linken in Lateinamerika. (1)
Zum anderen aber und vor allem, weil die unterschwellige Resignation nicht an der Idee eines Rückzugs ins Kloster hängt, die an sich eine legitime Antwort auf die Frage „Was tun?“ sein könnte. Nein, sie hängt an seinem bestimmten Entwurf, und ihm gilt mein zweiter Einwand. Zu Recht weist Bifo der klösterlichen Absonderung die Aufgabe zu, unter der erstickenden Hegemonie des Doppels von Liberalismus und Fundamentalismus das Erbe eines jahrhundertealten Befreiungswissens zu retten. Auch hier ist der Bezug auf die christliche Sezession treffend: Es waren die mittelalterlichen Klöster, in denen dies schon einmal gelang, nach dem Zusammenbruch des Römischen Imperiums. Doch zentriert Bifo das klösterliche Überlieferungswerk um die Idee des „guten Lebens“ (wellbeing). Das aber ist ganz falsch. Nicht, weil ein gutes Leben falsch wäre, sondern weil es sich dabei um eine konkrete inhaltliche Bestimmung unserer Möglichkeiten handelt, noch dazu um eine häufig aus Positionen des Verzichts entworfene. Natürlich gehören solche Bestimmungen zu dem, was in klösterlicher Absonderung und attentistischer Bereitschaft zu bewahren bliebe. Doch wäre vor ihnen erst deren erste Bedingung selbst zu retten. Diese ist aber keine inhaltlich-konkrete (z.B. „solidarity, frugality and laziness“), sondern eine formal-abstrakte: das Faktum, dass wir Wesen sind, die ihr Sein in Möglichkeiten und folglich in der freien Bindung an solche Möglichkeiten haben. So führt der zweite Einwand auf den ersten zurück: Bifos Szenario und die ihm entlehnte „Doppelstrategie“ sind zu konkret und in ihrer Konkretion zwar nicht in jeder Hinsicht, doch im Ansatz falsch. Wenn sie trotzdem bedenkenswert sind, dann weil sie eine Abstraktionsleistung provozieren. Denn wenn die klösterliche Abscheidung, die Aktualisierung historischen Befreiungswissens und die damit erreichte Öffnung zum Ereignis nach Lage der Dinge zwar keine zwingenden, aber auch keine abwegigen Möglichkeiten sind, dann weil sie wörtlich genommen nur spezifische Variationen einer Wahl sind, die Militante immer schon zu treffen haben. Diese Wahl gilt einem nicht-wörtlichen Verständnis sowohl der Abscheidung wie des Sichbereithaltens, das Bifos Szenario eingeschrieben ist und ganz zweifellos auch heute, gerade heute an der Zeit ist. Wer sie für sich getroffen hat, wird bei der Lektüre seines düsteren Textes befreit auflachen und dem Autor danken, quod erat demonstrandum.