Die Bürgerrechte der Menge

Über einige Konvergenzen der sozialen Kämpfe und der Philosophie

Verfasst für das Projekt „Kritischer Bewegungsdiskurs“ (KBD) und publiziert in einem von Brigitte Oehrlein und Roland Klautke herausgegebenen Sammelband des VSA-Verlags (Hamburg 2008), bildet dieser Text die Schnittstelle zwischen der philosophischen Kommunismus-Debatte und den politischen Debatte um „Empire“ und „Globale Soziale Rechte“.  (Länger)

Die Beziehungen zwischen der Politik und der Philosophie waren nie leicht und schon gar nicht gleichgültig. Im Gegenteil, sie waren und sind äußerst gefährlich, für beide Seiten. So wurde die Philosophie in der revolutionären Welle des Jahres 1848 der Forderung unterstellt, sich endlich in die Politik „aufzuheben“. Umgekehrt hat die Philosophie nicht nur einmal und stets mit fataler Konsequenz versucht, die Politik zu „führen“. Gescheitert sind beide, die Politik wie die Philosophie, immer dann, wenn man ihren als solchen natürlich nicht zu bestreitenden Zusammenhang als „Einheit“ denken und herstellen wollte, von links her in der unmittelbar einleuchtenden, doch nur bedingt richtigen Forderung nach der „Einheit von Theorie und Praxis.“

Philosophie, Politik, Klassenkampf

Einen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnete der Philosoph und Kommunist Louis Althusser. Er verweigerte sich sowohl der Forderung, die Philosophie in der Politik zu „verwirklichen“ wie der umgekehrten Forderung, die Politik der Philosophie zu „unterstellen“. Statt dessen erhob er den Klassenkampf zum beide umfassenden Begriff und bestand darauf, dass dieser sowohl in der Politik wie in der Philosophie zu führen sei, wenn auch je eigensinnig nach den besonderen Bedingungen und Möglichkeiten des jeweiligen Feldes. Natürlich sollte die Trennung zwischen dem Klassenkampf in der Politik und dem in der Philosophie keine vollständige sein. Doch würden Effekte aufeinander – Momente also, traditionell gesprochen, der „Einheit von Theorie und Praxis“ – nie unmittelbar, nie in der Form einer Aufhebung oder Führung zur Geltung kommen, sondern immer nur in aleatorischer, gleichsam unvorbereiteter Weise: als Ereignis, nicht als Verwirklichung.

In der Aufsatzsammlung Lenin und die Philosophie schrieb der Philosoph Althusser dann dem Politiker Lenin die These zu, dass der Klassenkampf in der Philosophie in der Form einer „ständigen Wiederholung des Konflikts zweier Grundrichtungen” geführt werde, des Konflikts zwischen Idealismus und Materialismus. (1) Darin gehe es um die „Umkehrung des fundamentalen Begriffspaares Materie/Geist“, innerhalb dessen dem Begriff des Geistes und damit dem Idealismus historisch bisher stets die Vorherrschaft zukam. (S. 35) Althusser deutet Lenins „Umkehrung” der Hierarchie von Geist und Materie allerdings gerade nicht so, „dass Lenin die Materie an die Stelle der Idee setzt und umgekehrt, denn das würde uns nur eine neue materialistische Metaphysik bescheren.” Sein Einsatz ziele vielmehr auf ein „Herausschälen” des materialistischen Kerns einer idealistischen Philosophie und auf die Verwerfung der Idealismen, die nichts als „Schalen ohne Kern” sind.

Der Materialismus ist dann aber im Unterschied auch zum Selbstverständnis nicht weniger MarxistInnen keine eigenständige, den Idealismus ersetzende „Weltanschauung”, sondern nur eine kritische „Lektüre” des Idealismus (S. 75f.): „keine (neue) Philosophie der Praxis, sondern eine (neue) Praxis der Philosophie.” (S. 44) Die Methode dieser neuen Praxis bestimmt Althusser in dem offenbar lakonischen, untergründig aber hochgradig brisanten Satz Lenins, in dem es kurz und knapp heißt: „Ich eliminiere den lieben Gott, das Absolute, die Idee.” (S. 76) Wer diesem Satz folgt, muss die Philosophie wie die Politik dann aber – auch ich kürze hier ab und muss dafür um Verständnis bitten – als einen „Prozess ohne Subjekt” denken. Dies deshalb, weil das „Subjekt“ die begriffliche und nicht nur begriffliche Figur bezeichnet, in der die Philosophie und die Politik der Moderne einschließlich noch der marxistischen Philosophie und Politik „den lieben Gott, das Absolute, die Idee“ fortgeschrieben und fortgedacht haben: als Figur der Identität und der Identifizierung, als Movens einer in Staat und Partei materialisierten allumfassenden und höchsten Einheit auch und nicht zuletzt von Theorie und Praxis. (S. 62ff., S. 82ff.) Mit der Elimination dieses Subjekts wirft der Materialismus allerdings eine Frage auf, die zuvor so gar nicht gestellt werden konnte: die Frage, ob und wenn ja wie beliebig zusammengewürfelte AkteurInnen vielleicht zu einem neuen und anderen Subjekt werden können, das in sich und auf immer eine differenzielle Vielheit, im Vorgriff gesprochen: eine „Menge“ bliebe. Eine solche Bestimmung von Subjektivität würde sich dann natürlich auf einzelne nicht weniger als auf Gruppen beziehen müssen.

Der im folgenden nachzuzeichnende Zusammenhang zwischen dieser Neubestimmung einer materialistisch um ihr klassisches Subjekt gebrachten Philosophie einerseits und der Politik andererseits besteht dann aber nicht in einer „Lehre“, die diese Philosophie der Politik zu erteilen hätte. Er besteht vielmehr darin, dass es parallel zu dieser Verschiebung (in) der Philosophie eine Verschiebung (in) der Politik gab, die der in der Philosophie in ganz eigensinniger Weise entspricht, ohne dass er wie immer auch aus ihr „abgeleitet“ worden wäre. Tatsächlich führte diese Verschiebung (in) der Politik sogar über das hinaus, was Althusser selbst mit ihr verband. Sie tat das, indem sie noch den Begriff des Klassenkampfs auf eine schiefe Bahn brachte. Nicht, dass der Klassenkampf in der Politik verschwunden wäre, im Gegenteil. Doch erwies sich gerade zu der Zeit, in der Althusser seine Thesen ausarbeitete, dass der Klassenkampf eben nicht der einzige Kampf ist, der in der Politik ausgetragen wird, und dass er unter den verschiedenen Widersprüchen, von denen die Politik voran getrieben wurde, noch nicht einmal als deren „Hauptwiderspruch“ auszutragen ist. Statt dessen lernte die Politik, dass sie der Ort einer Vielzahl von Kämpfen in einer Vielzahl gesellschaftlicher Verhältnisse ist und sein muss. Sie lernte auch, dass diese Kämpfe nicht notwendig in der Form von Widersprüchen aufbrechen. Neben, oder besser gesagt: quer zu den Kämpfen der Klassen traten jetzt die Kämpfe um Markierungen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, des Alters, der Hautfarbe und generell der Norm, der Normalität und der Normalisierung zu Tage, Kämpfe etwa entlang der Differenz von Krankheit bzw. Wahnsinn einerseits und „Gesundheit“ andererseits. Neben, mit und in ihnen gab und gibt es anti- und postkoloniale Kämpfe, Kämpfe gegen und um Ethnisierungen und Rassifizierungen, Kämpfe gegen Produktionsverhältnisse als Kämpfe um Technologien und deren Verhältnis zu dem, was darin als „Natur“ bestimmt wurde. Schließlich und nicht zu vergessen lernte die Politik, dass sie auch von Kämpfen um das Wissen erschüttert wird, um das, was als Wissen gilt, um seine Verteilung, um seinen Gebrauch.

Bewegung der Bewegungen

Mit dieser Verschiebung fehlte den Kämpfen nun aber nicht nur ihre in der Identität des einen revolutionären Subjekts garantierte Einheit, sondern auch der Zusammenhang, den der Begriff des Klassenkampfs ihnen einst (und noch bei Althusser) zugesprochen – man kann auch sagen: auferlegt hatte. Ein Ausdruck, in dem die Politik ihre eigene Vervielfältigung dachte, war und ist der der „Neuen Sozialen Bewegungen.“ Dieser immer nur im Plural sinnvolle Ausdruck versteht sich selbst erst aus seinem problematischen Bezug zu dem der „Alten Sozialen Bewegung“, der seinerseits stets im Singular gebraucht wird. Benennt letzterer in bezeichnender geschlechtlicher Markierung die Arbeiterbewegung, so verbindet die Rede von den Neuen Sozialen Bewegungen die Frauenbewegungen, die Bewegungen der Jugendlichen, antisexistische Bewegungen, die antirassistischen Bewegungen um und gegen Ethnisierung und Rassifizierung, Bewegungen der BäuerInnen wie Bewegungen gegen die ökologischen Zerstörungen und die Bewegungen derer, die nicht mehr in formalisierten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet werden oder derer, die sich gegen ihre Einschließung in Systeme der Zwangsarbeit oder der Bestrafung wehren, Bewegungen der Psychiatrisierten und der „Krüppel“ und schließlich in Ansatz und Form noch einmal eigensinnige Bewegungen wie die der Migration und der vielfältigen kulturellen Differenz, d.h. der alltäglichen Lebensweisen selbst. Da sie sich in ihrem Selbstverständnis sowohl auf die Arbeiterbewegung wie auf die Neuen Sozialen Bewegungen der Metropolen bezogen haben, sind an dieser Stelle natürlich auch die „nationalen Befreiungsbewegungen“ des Südens und ihre „weißen“ Solidaritätsbewegungen zu nennen.

Schon bald nach dem Durchbruch der (in Wahrheit natürlich immer schon, wenn auch ungenannt und insofern ungedacht präsenten) Neuen Sozialen Bewegungen wurde klar, dass sie die Politik in mehrere Krisen stürzten, und nicht nur die Politik überhaupt, sondern in besonderer Weise die Politik der Linken. Tatsächlich unterliefen und überschritten der Feminismus, die Ökologie, der Antirassismus, Antisexismus und die diversen Antinormalismen nicht zuletzt und nicht beiläufig das, was jetzt als „Klassismus“ bezeichnet wurde: als Herrschaft von Klassen über Klassen einerseits und als die Ideologie vom alle anderen Kämpfe bestimmenden Kampf von Klasse gegen Klasse andererseits. Zu dieser Subversion gehörte, dass sie allerdings auch und gerade vom „Klassenfeind“, den Akteuren kapitalistischer Herrschaft, genutzt wurde. Sie taten das, indem sie die „Differenz“ – Leitbegriff der Neuen Sozialen Bewegungen – ausdrücklich auch zu ihrer Sache erhoben: zur Methode der ideologischen Konfusion, zum Markenzeichen allumfassender Selbstverwertung und damit zur selbst wertschöpfenden Produktivkraft. Nicht zuletzt deshalb wurde die Krise der Politik und besonders der linken Politik dann aber auch zur Krise der Neuen Sozialen Bewegungen: zur Krise ihrer Teilsiege als der Weise ihrer Integration in modernisierte Formen klassistischer, patriarchaler, normalisierender, postkolonialer, rassistischer Herrschaft und damit ihrer Einhegung in Partikularismen. Diese Krise kulminierte dann in einer Trennung der Kämpfe voneinander, die sich schließlich gegen jeden einzelnen Kampf richtete. Dies um so nachhaltiger, als sich die Krise der Neuen Sozialen Bewegungen in noch einmal ambivalenter Weise mit der in der Jahreszahl „1989“ verdichteten Krise der Alten Sozialen Bewegung verschränkte, dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und Parteien, dem der Zusammenbruch der westlichen Sozialdemokratien und ihrer Klassenkompromisse und der der postkolonialen Entwicklungsstaaten folgte.

Es ist – ich kürze noch einmal ab – diese Konstellation von Krisen, die in den Ereignissen von Seattle und Genua eine neuerliche und hoffentlich produktive Verschiebung erfuhr. Nicht zufällig verdichtet sich diese Verschiebung in einem neuen Bewegungsbegriff: dem Begriff der „Bewegung der Bewegungen“. Deren politischer Einsatz sprach sich zunächst in der Formel „Eine andere Welt ist möglich!“ aus, die im eigenen Gehalt zwar offenkundig vage blieb, sich dafür aber präzise der bis dahin unangefochtenen neoliberalen Herrschaftsformel „There is no alternative!“ entgegensetzte. Sie vermochte so für eine bestimmte Zeit erfolgreich die Lücke zu füllen, die der (endgültige? vorübergehende?) Ausfall der emanzipatorischen Leitbegriffe „Sozialismus“ und/oder „Kommunismus“ hinterlassen hat. Der bloßen Behauptung der Möglichkeit einer anderen Welt (die nach zapatistischer Deutung zur Welt werden soll, in der viele Welten Platz haben) stellten die Bewegungen bald eine nähere Bestimmung an die Seite: die von der anderen Welt als einer Welt Globaler Sozialer Rechte. Solche Rechte sind nun allerdings spätestens seit Inkraftsetzung des die Menschenrechte ausdifferenzierenden Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahr 1966 in der Welt und insofern keine neue und auch keine revolutionäre Sache. Der erste Grund, sich dennoch mit ihnen zu befassen, liegt in dem Umstand, dass sich die Rede von den Globalen Sozialen Rechten seit einiger Zeit praktisch, d.h. politisch immer mehr auflädt und ganz offenbar zu dem Medium wird, in dem eine ganze Reihe zunächst unabhängig voneinander geführter sozialer Kämpfe konvergieren, im Wortsinn also sich einander zuneigen, aufeinander zulaufen. Dabei kommt das ganze „globalisierungskritische“ bzw. „altermondialistische“ Spektrum zusammen: soziale und politische Bewegungen gleichermaßen des Südens wie des Nordens, NGOs, kirchliche Initiativen ebenso wie Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände, schließlich moderate ebenso wie radikale Strömungen der Linken und schließlich Bewegungen, die sich auf spezifische Problematiken aus der Durchsetzungsphase der kapitalistischen Globalisierung beziehen wie zum Beispiel die im ganzen Süden verbreiteten Bewegungen von „Landlosen“ oder die im Süden wie im Norden aktiven Bewegungen zur Verteidigung der Öffentlicher Güter und gegen das globale Schuldenregime. Und das ist ja nun nicht nichts, sondern in linker Praxis geradezu das Alpha und Omega: deutet sich in der Konvergenz der Kämpfe und Bewegungen doch erstmals wieder so etwas wie ein alternatives (welt-)gesellschaftliches Projekt an. Dieses fände in der Bewegung der Bewegungen zwar kein mit sich identisches, doch immerhin ein differenziell konstituiertes Subjekt: eine Konstellation von AkteurInnen, die keinem Singular unterworfen, aber auch nicht in Partikularismen zerstreut wären. Wie entscheidend das Gelingen einer solchen eben auch subjektiven Fuge der Differenzen wäre, lässt sich nicht zuletzt an ihrer mit Abstand problematischsten Artikulation anzeigen: derjenigen, die von den je um eine politische Theologie versammelten „fundamentalistischen“ Bewegungen behauptet wird.

Der zweite und hier leitende Grund zur näheren Betrachtung der Globalen Sozialen Rechte liegt nun aber darin, dass sie auch in der Theorie und dort gerade in der Philosophie an Prominenz gewinnen, der Verschiebung (in) der Politik also wiederum eine Verschiebung (in) der Philosophie folgt. Bezeichnenderweise gilt das in jedem Fall für die Philosophien, die man „postmarxistisch“ nennt. Wenn ich mich in diesem Feld im folgenden auf die Positionen von Antonio Negri und Michael Hardt, Étienne Balibar und Jacques Derrida beschränke, so verdankt sich das einer politischen Wahl, zu deren philosophischer Begründung hier immerhin angeführt sei, dass sie alle, wie man so sagt, Schüler Louis Althussers waren bzw. sind.

Postmarxistisch werden die genannten Philosophien, weil ihnen das Denken von Marx „historisch“ und deshalb gleichgültig geworden wäre, sondern sie dem Denken von Marx auch und gerade nach dem (auch von ihnen eingeräumten) „Ende des Marxismus“ treu geblieben sind. Diese Treue bewährt sich in der Weise, in der sie sich mit ihm auf die schiefe Bahn begeben haben, in die seit längerem schon der Klassenkampf, das Proletariat und die „wirkliche Bewegung“ des Kommunismus geraten sind. (2) Um den von mir unterstellten Zusammenhang der postmarxistischen Philosophien mit den globalisierungskritischen Kämpfen der letzten Jahre in vorläufiger Weise kenntlich zu machen, seien den philosophischen Bestimmungen der Globalen Sozialen Rechte Bestimmungen vorangestellt, die der Selbstverständigung der Bewegungen entnommen sind.

Globale Soziale Rechte

Verfolgt man die Demonstrationen, Manifestationen und auch die Diskurse der Bewegung der Bewegungen – was heute umstandslos per google-Recherche getan werden kann –, lässt sich meine These von der Konvergenz der Bewegung der Bewegungen in der Einforderung Globaler Sozialer Rechte leicht bestätigen. Dies gilt übrigens, auch darüber belehrt google, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. In deutscher Sprache finden sich dabei gleich zwei außerordentlich bündige Bestimmungen, die hier deshalb auch in Gänze zu Wort kommen sollen. Die erste stammt aus der Veranstaltungsankündigung des Berliner Kritischen Bewegungsdiskurses des Jahres 2006 und lautet wie folgt: „Soziale Rechte gelten für alle, unabhängig von Geschlecht, Staatsbürgerschaft und Erwerbstätigkeit (unabhängig heißt hier auch: unabhängig davon, an welchem Ort Menschen leben); sie sind als Bedingungen zu denken, um das eigene Leben würdevoll zu bestehen, und als menschenrechtliche und demokratiepraktische Voraussetzung, an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft umfassend teilzuhaben (d.h. es geht damit auch nicht um eine Stellvertreterpolitik, sondern darum, über Bedingungen einer Politik von unten nachzudenken); sie nehmen Bezug auf Wünsche und Bedürfnisse nach einem befriedigenden Leben, statt lediglich Reproduktion für und in kapitalistischen Verhältnissen zu leisten; sie sind nicht abstrakt und für immer und überall gleichermaßen einzulösen, sondern ihre konkrete Ausgestaltung ist Ergebnis sozialer Kämpfe und politisch-gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Es geht um neue Formen von Vergesellschaftung und nicht einfach um individuelle oder subkulturelle Selbstbestimmungsmomente. Diese können an konkrete soziale Kämpfe anknüpfen, nehmen diese auf, artikulieren sie aber in einem größeren Rahmen.“ (3)

Die zweite findet sich auf einer Website des globalisierungskritischen Netzwerks attac und lautet wie folgt: „Wofür stehen Globale Soziale Rechte? Globale Soziale Rechte umfassen zunächst das Recht auf die Sicherung materieller Bedürfnisse, d.h. Zugang zu und Mitbestimmung über Nahrung, Bekleidung, Unterkunft usw. Sie gehen allerdings darüber hinaus. Die Rechte auf eine intakte Umwelt, auf Bildung, auf globale Bewegungsfreiheit und offene Grenzen, auf die Unabhängigkeit vom Zwang zur Lohnarbeit, auf gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und Leben, wozu auch unter anderem das Recht auf die Bestimmung des eigenen Geschlechts gehört, sind ebenso elementare Bestandteile Globaler Sozialer Rechte. Sie stehen für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Sie gelten für alle Menschen überall, unabhängig von Aufenthaltsstatus, Geschlecht, Kaste oder Wohlverhalten. Ein ausreichendes, bedingungsloses Grundeinkommen ist ein zentrales Instrument, um Globale Soziale Rechte einzulösen, weil es Keim für eine andere, freie, auf Selbstverwirklichung aller Menschen abzielende Gesellschaft ist. Bei der schwierigen Durchsetzung Globaler Sozialer Rechte sehen sich die Benachteiligten oft gezwungen, sich über geltende Gesetze hinwegzusetzen, wenn diese der Erfüllung ihrer Rechte im Wege stehen. So mögen Landbesetzungen wie in Brasilien in vielen Fällen illegal sein, legitim sind sie aber dennoch, da sie dabei helfen, das Recht auf Ernährungssouveränität zu verwirklichen. Auch bei Aktionen von attac geht es im Kern um Globale Soziale Rechte.“ (4)

Wer weitersucht, wird noch auf andere Stellen und auf andere AkteurInnen stoßen: NGOs, Gewerkschaften, Netzwerke aller Art, moderat linke Parteien und linksradikale Gruppen. Eine prominente Verdichtung findet sich nicht zufällig im Zusammenhang der Proteste gegen den G8-Gipfel von Heiligendamm 2007 – alles in allem Stoff genug, um nähere Auskunft in der Philosophie zu suchen. Die kann hier natürlich nur kursorisch und in erster Annäherung erteilt werden. Wenn die folgenden Abschnitte dabei durch Buchtitel markiert werden, soll angezeigt werden, dass die offenbaren Mängel der kursorischen Darstellung durch eigenständige Lektüren auszugleichen wären. Wenn ich die Autoren dieser Bücher ebenso ausführlich zu Wort kommen lasse wie die eben angeführten Bewegungsdiskurse, hat das den selben Grund.

Empire

Am Schluss ihres Buchs Empire kommen Antonio Negri und Michael Hardt wieder auf ihr Kernthema zurück, die Umschrift der marxistischen Bestimmung des Klassenkampfs von Bourgeoisie und Proletariat in eine postmarxistische Bestimmung der in sich pluralen und heterogenen Kämpfe der Multitude gegen das ebenfalls aus heterogenen Mächten zusammengesetzte Empire. Sofern die Multitude im Unterschied zum klassisch-marxistisch gedachten Proletariat kein mit sich identisches Subjekt, sondern eine Menge ganz unterschiedlicher AkteurInnen ist, führt der Versuch der Bestimmung ihrer Kämpfe dann aber – ich hatte darauf bereits verwiesen – zu der Frage, „wie die Menge im Kontext des Empire zu einem politischen Subjekt werden kann.“ (5) Diese Frage zu stellen heißt für Hardt/Negri, und damit sind wir schon bei den Globalen Sozialen Rechten, die Frage nach „den Bürgerrechten der Menge“ zu stellen: „Zwischen den kommunistischen Revolutionen von 1917 und 1949, den großen antifaschistischen Kämpfen der 1930er und 1940er Jahre und den zahlreichen Befreiungskämpfen von den 1960er Jahren bis zu denjenigen des Jahres 1989 entstanden die Voraussetzungen für die Bürgerrechte der Menge, verbreiteten sich und konsolidierten sich. Jede der Revolutionen des 20. Jahrhunderts hat, ungeachtet aller Niederlagen, die Verhältnisse im Klassenkonflikt vorwärts getrieben und verändert, indem sie die Bedingungen für eine neue politische Subjektivität schuf, für eine Menge, die sich gegen die imperiale Macht erhob. Der Rhythmus, den die revolutionären Bewegungen vorgegeben haben, ist der pulsierende Beat eines neuen Zeitalters, einer neuen Reife und Metamorphose.“ (ebd.)

Was aber sind die Bürgerrechte, mit denen die Menge zu dem „politischen Subjekt“ werden kann, das sie heute noch nicht ist? Hardt/Negri nennen drei in den aktuellen Kämpfen tatsächlich weithin verbreitete Rechtsansprüche: das primär von den MigrantInnen eingeforderte „Recht auf Weltbürgerschaft“, das primär von den prekarisierten ProletarierInnen eingeforderte „Recht auf einen sozialen Lohn“ und ein „Recht auf Wiederaneignung“, das, wie zu zeigen sein wird, seinem Eigensinn nach nicht eingefordert, sondern nur praktiziert werden kann. Ich gehe der Reihe nach vor.

Das Recht auf Weltbürgerschaft wird implizit und explizit überall dort eingefordert, wo Leute organisiert die nationalstaatlichen Grenzen überschreiten, um sich in formell illegaler, im eigenen Verständnis aber legitimer, wenn auch nicht notwendig politisch reflektierter Weise neue Orte des Lebens zu erschließen. Diese alltäglich hunderttausendfach vollzogenen Grenzüberschreitungen bestimmen Hardt/Negri philosophisch wie folgt: „Die Konstitution der Menge erscheint zunächst als räumliche Bewegung, welche die Menge an einem grenzenlosen Ort konstituiert. Die Mobilität von Waren (und damit auch dieser besonderen Ware Arbeitskraft) galt seit der Entstehung des Kapitalismus als Grundvoraussetzung für Akkumulation. Die Bewegungen von Individuen, Gruppen und Bevölkerungen, die wir heute im Empire beobachten können, lassen sich den Gesetzen kapitalistischer Akkumulation jedoch nicht vollständig unterwerfen — in jedem Augenblick fluten sie über die Grenzen des Maßes hinweg und lassen diese zertrümmert zurück. Die Bewegungen der Menge eröffnen neue Räume und etablieren neue Aufenthaltsorte. Autonome Bewegung bestimmt den Ort, der der Menge eigen ist. Reisepässe und andere Dokumente werden unsere Bewegungen über Grenzen hinweg immer weniger regulieren können. Die Menge lässt eine neue Geografie entstehen, in der der produktive Strom von Körpern neue Flüsse und Häfen ausbildet. Die Städte dieser Welt werden große Depots kooperierender Menschen und Lokomotiven der Zirkulation sein, temporäre Aufenthaltsorte und Netzwerke zur massenhaften Distribution lebendiger Humanität.“ Von dieser Bewegung ist subjektiv festzuhalten, dass sie „oftmals mit schrecklichem Leid erkauft“, doch immer von der „Sehnsucht nach Befreiung“ getragen wird. (S. 403f.)

Sofern massenhafte Migrationen für die effektiv globalisierte kapitalistische Produktionsweise zur systematischen Voraussetzung geworden sind, bestimmt sich der Kampf der Multitude gegen das Empire als Kampf im und gegen das imperiale Migrationsregime. Aus der darin realisierten „Autonomie der Migration“ ergibt sich deshalb „ein erster Baustein zu einem politischen Programm der globalen Menge, eine erste politische Forderung: Weltbürgerschaft.“ Damit meinen Hardt/Negri zunächst einmal nicht mehr als die politische Forderung, nach der die effektiv globalisierte kapitalistische Produktionsweise und die für sie unabdingbare globale Zerstreuung und zugleich globale Verbindung der Produktivkräfte überhaupt „ihren Niederschlag im Recht findet.“ Dies wiederum soll so geschehen, „dass allen Arbeitern die vollen staatsbürgerlichen Rechte gewährt werden. Denn diese Forderung besteht in der Postmoderne auf dem grundlegenden modernen Verfassungsprinzip, das Recht und Arbeit miteinander verknüpft und damit dem Arbeiter, der Kapital erschafft, die Staatsbürgerschaft zuerkennt.“ (S. 406f.)

Die effektiv globalisierte und zugleich hochtechnologische Produktionsweise des Empire erzeugt aber nicht nur neue Räume, sondern auch eine neue Zeitlichkeit. Diese wird von der Entgrenzung der Arbeit, der Aufhebung des Unterschieds von Arbeit und Nicht-Arbeit und der Verwertung des gesamten gesellschaftlichen Lebensprozesses, aller Lebensverhältnisse und –vollzüge markiert und von Hardt/Negri mit Foucault deshalb als „Bio-Politik“ bezeichnet. Natürlich war die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse immer schon eine solche des gesellschaftlichen Lebens, doch ist sie das heute, so die These, in tendenziell totalisierter und deshalb qualitativ eigensinniger Weise. Dies wiederum liegt daran, dass Kommunikation und Kooperation und damit die im Unterschied zur Produktion von materiellen Gütern „immaterielle“ Produktion von Wissen und Affekten zum primären Sektor aller Produktion geworden sind: „Auf dem Feld biopolitischer Produktion gibt es keine Stechuhren; das Proletariat produziert in seiner Gesamtheit überall den ganzen Tag lang.“ (S. 409) Die tendenzielle Totalisierung biopolitischer Produktion begründet dann aber eine zweite politische Forderung der Menge, die nach einem sozialen Lohn als einem allen BürgerInnen garantierten Einkommen: „Die Forderung nach einem sozialen Lohn erweitert die Forderung, dass jede für die Kapitalproduktion nötige Tätigkeit durch gleiche Kompensation Anerkennung findet, auf die gesamte Bevölkerung, so dass ein sozialer Lohn letztlich ein garantiertes Einkommen darstellt. Und da die staatsbürgerlichen Rechte allen zustehen, können wir dieses garantierte Einkommen als Bürgereinkommen bezeichnen, das jedem als Mitglied der Gesellschaft zusteht.“ (S. 409f.)

Die dritte Forderung der Menge ergibt sich schließlich aus dem Umstand, dass die Entgrenzung der Produktion unausweichlich zur Entgrenzung der sozialen Kämpfe in alle Felder des gesellschaftlichen Lebens führt: „Das Politische, das Gesellschaftliche, das Ökonomische und das Vitale kommen hier zusammen. Sie sind vollständig miteinander verbunden und vollkommen austauschbar“ und beanspruchen derart ein ebenso singuläres wie universelles „Recht auf Wiederaneignung.“ Darunter verstehen Hardt/Negri im klassisch-sozialistischen bzw. –kommunistischen Sinn zunächst einmal ein Recht auf die Wiederaneignung der Produktionsmittel als freien Zugang zu und Kontrolle über die für die Produktion verwendeten Maschinen und Materialien. Dann aber präzisieren sie: „Im Kontext immaterieller und biopolitischer Produktion erscheint diese traditionelle Forderung jedoch in neuer Form. Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben — denn dies sind einige der wichtigsten biopolitischen Produktionsmittel. (…) Das Recht auf Wiederaneignung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion.“ (S. 412f.)

Diese dritte politische Forderung unterscheidet sich nun aber qualitativ von den beiden ersten, da sie eigentlich nicht eingefordert und auch nicht sinnvoll als ein besonderes Recht staatlich kodifiziert, d.h. repräsentiert werden kann. Das Recht auf „Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion“ realisiert sich deshalb auch erst in dem, was Hardt/Negri die „revolutionäre politische Militanz“ der Menge nennen: „Revolutionäre politische Militanz muss heute (…) wiederentdecken, was schon seit jeher die ihr eigene Form war: nicht repräsentative, sondern konstituierende Tätigkeit. Militanz ist heute eine positive, konstruktive und innovative Tätigkeit. In dieser Form erkennen wir und alle, die sich gegen die Herrschaft des Kapitals aufbegehren, als Militante.“ (S. 419)

Zielen die ersten beiden Forderungen zwar nicht nur, doch immer auch auf eine zuletzt staatlich kodifizierte Repräsentation der Menge in Recht und Gesetz, kann die dritte nur in der Kritik aller Repräsentation und damit des Staates selbst ausgeübt werden. Im Doppel von Repräsentation und Konstitution ist dann aber das Problem offengelegt, an dem je auf ihre Weise auch die anderen Philosophen arbeiten, die hier zu Wort kommen. In einer seiner möglichen Artikulationsweisen stellt sich dieses Problem, so viel sei vorab verraten, als das des Verhältnisses wie des Widerspruchs von Reform und Revolution dar.

Sind wir Bürger Europas?

Étienne Balibar nimmt in diesem Buch in scheinbar sehr viel bescheidenerer und zugleich konkreterer Weise die Frage Hardt/Negris auf, wie die Menge im Empire zum „politischen Subjekt“ werden kann. Bescheidener und zugleich konkreter, mithin realpolitisch fällt dann auch seine Antwort aus, die im Vorgriff wie folgt auf den Punkt gebracht werden kann: Die Menge wird politisches Subjekt, indem sie zur Menge der Bürgerinnen und Bürger einer tendenziell globalen, von uns aus gesehen aber zunächst europäischen Demokratie wird. Um diese Antwort angemessen zu verstehen, gilt es zunächst offen zu legen, was bei ihm alles unter den Begriff der Bürgerschaft fällt. Die erste Bestimmung erschließt sich im Französischen unmittelbarer als im Deutschen und geht auf den Unterschied von bourgeoise und citoyenne zurück: Bürgerin als Angehörige der bürgerlichen Klasse, und Bürgerin im Sinn einer Kämpferin für die Republik und die Gleichheit und Freiheit aller BürgerInnen als solcher. Der Unterschied bleibt allerdings insoweit unscharf, als sich beide Ausdrücke zugleich auf BewohnerInnen der Stadt als der für die Geschichte der Demokratie entscheidenden politischen Einheit beziehen (bourg bzw. cité). Er bleibt aber auch insofern unscharf, als die modernen, in der Französischen Revolution begründeten Republiken in aller Regel nationalstaatliche Republiken sind, die Menge der Bürgerinnen und Bürger insoweit einerseits der demos – das Volk im Unterschied zum Adel, zu König und Kaiser – andererseits die Nation im Unterschied zu anderen, republikanisch oder anders verfassten Nationen ist. BürgerIn des nationalen Staats wiederum ist man entweder nach dem (deutschen) jus sanguinis als eines Bluts- bzw. Abstammungsrechts oder nach dem (französischen) jus soli, dem Recht des Bodens. Trotz dieses nicht unerheblichen Unterschieds wird die Bürgerschaft in beiden Fällen nationalisiert und etatisiert: Man ist Bürgerin dieser, nicht jener Nation, und man ist Bürgerin dieses, nicht jenes Staates.

Im Begriff der Staatsbürgerschaft meldet sich dann aber der die Geschichte der modernen Nationalstaaten durchziehende Unterschied, nach dem man entweder nur TrägerIn der politischen oder auch TrägerIn sozialer Rechte ist, d.h. ob man BürgerIn überhaupt eines nationalen oder BürgerIn des besonderen Staatsgebildes ist, das Balibar den „national-sozialen Staat“ nennt. Darunter er den im Prozess der biopolitischen-imperialen Globalisierung aufgelösten und historisch im Wesentlichen auf den europäischen Raum beschränkten fordistischen Wohlfahrtstaat.

Die Bestimmung der BürgerIn zur StaatsbürgerIn wirft schließlich einen letzten, den für Balibar entscheidenden Unterschied auf: den zwischen der StaatsbürgerIn und der BürgerIn in dem Sinn des Worts, der in den Begriffen „Bürgerinitiative“, „Bürgerbewegung“ oder auch „Bürgerrechtsbewegung“ gemeint ist: die BürgerIn als aktive Trägerin einer Demokratie, die in der verstaatlichten repräsentativen Demokratie nicht aufgeht, sondern sie und den Staat in Frage stellt, herausfordert, überschreitet und wenn nötigt sprengt.

Auch wenn sich Balibar natürlich primär auf die letzte Figur bezieht, die er als „aktive Bürgerschaft“ oder „aktive Bürgerin“ bezeichnet, klammert er die anderen Bedeutungen des Begriffs nicht aus, im Gegenteil. Sich derart auf alle Komponenten des Begriffs zu beziehen, ist dann aber seine Weise, Hardt/Negris Unterschied von Repräsentation und Konstitution und in diesem Unterschied die materialistische Frage nach einem erst zu schaffenden Subjekt der Kämpfe aufzunehmen. Diese Frage stellt er deshalb als Frage nach „dem Verhältnis des Bürgers zum politisch aktiven Kämpfer (gerade weil der oder die politische Aktive die großen modernen Gestalten der Bürgerschaft waren).“ (6) In der Perspektive der politisch aktiven KämpferIn als der aktiven BürgerIn ist der Unterschied von Repräsentation und Konstitution dann aber genau besehen – ich hoffe, das ist jetzt deutlicher geworden als in der ersten Annäherung bei Hardt/Negri – die postmarxistische Modifikation des traditionellen Unterschieds von Reform und Revolution. Entscheidend ist dabei allerdings, dass sich Balibar wie Hardt/Negri bewusst genau in dem Moment auf den Begriff und die Figur der Bürgerschaft und der Bürgerin zurückbeziehen, da der historisch bislang vorherrschende Begriff und die historisch bislang vorherrschende Figur der national-sozialen Staatsbürgerschaft doppelt in Frage gestellt werden: Durch die neoliberale Liquidation des Wohlfahrtsstaats und des national-sozialen Klassenkompromisses, und durch die Herausbildung einer transnationalen Staatlichkeit, die für uns hier zunächst die Staatlichkeit der Europäischen Union sein wird.

In beiden Prozessen kommt den Nicht-BürgerInnen – den Fremden, AusländerInnen, den MigrantInnen, den sans papiers, den Papier- und Bürgerschaftslosen – eine zentrale Rolle zu. Tatsächlich sind sie immer auch die, über deren Ausgrenzung und Ausschluss sich die in ihrem Status wie ihrer Existenz bedrohten national-sozialen StaatsbürgerInnen wieder ihrer Zugehörigkeit zur exklusiven Gemeinschaft der republikanischen Nation sicher werden wollen – in Nationalismus, Rassismus und demnächst in Euro-Nationalismus und Euro-Rassismus. Sie sind aber auch die, die in der Autonomie der Migration und in der Einforderung ihres Rechts auf Rechte die Avantgarde einer erneuerten Bürgerschaft, eines neuen demos, sogar, wie Balibar gut leninistisch schreibt, eines „Volks neuen Typs“ bilden: „Der Begriff der ‚Grenze’ ist äußerst vieldeutig. Eine meiner Hypothesen ist, dass er seine Bedeutung grundlegend verändert. Die Grenzen jener neuen politisch-ökonomischen Einheiten, in denen man die Funktion staatlicher Souveränität aufrechtzuerhalten sucht, liegen gar nicht mehr am Rand der Staatsgebiete. Sie befinden sich mehr oder weniger verstreut überall da, wo die Informationen, Personen und Gegenstände zirkulieren und kontrolliert werden, beispielsweise in den globalen Städten. Es ist aber auch eine meiner Thesen, dass die sogenannten Peripherien, in denen die weltlichen und religiösen Kulturen aufeinanderstoßen und in denen das wirtschaftliche Wohlstandsgefälle sich ausbreitet und aufklafft, den Schmelztiegel für die Herstellung jenes Volkes (demos) bilden, ohne welches wir keine Bürgerschaft (politeia) in dem Sinn hätten, den dieser Begriff seit der Antike in der demokratischen Tradition angenommen hat. (…) Er bezeichnet die Orte, an denen sich durch die Bildung staatsbürgerlichen Bewusstseins und durch die kollektive Lösung seiner inneren Widersprüche das Volk konstituiert. Gibt es ein ‚europäisches Volk’, und sei es im Zustand des Werdens? Das ist alles andere als sicher. Und ohne ein europäisches Volk, ohne ein Volk neuen Typs, das noch seiner Definition harrt, gäbe es keine europäische Öffentlichkeit; es gäbe keinen europäischen Staat, der über die technokratische Fassade hinausgeht.“ (S. 18f.)

Von dort her entwirft Balibar ein „Projekt aktiver europäischer Bürgerschaft (…), das ohne jede Identitätsmystik, ohne jede Illusion über den notwendigen Geschichtsverlauf und erst recht ohne jeden Glauben an die Unfehlbarkeit der Regierenden auskommt, ein Projekt, auf das ich mich berufe und zu dem ich beitragen möchte. Wir müssen die Fragen des europäischen Volkes und des Staats in Europa in Bezug auf das besondere Problem der Grenze diskutieren, weil sich darin jene politisch-ökonomischen und symbolischen Fragen verdichten, die im kollektiven Imaginären auftreten: die Kräfteverhältnisse und materiellen Interessen einerseits und Identitätskonstruktionen andererseits.“ (S. 21)

Ihre Probe fände eine solche aktive europäische Bürgerschaft dann aber im Kampf um eine Staatsbürgerschaft, die dem nicht-identischen und nicht-exklusiven Charakter eines solchen demos die angemessene rechtliche Form verleihen könnte – als „Erfindung einer Bürgerschaft, mit der es möglich wird, die Grenzen Europas zu demokratisieren.“ (S. 30)

 

Gesetzeskraft

Was Hardt/Negri und Balibar im Blick auf die Subjektwerdung der auf immer nicht-identischen Menge der BürgerInnen denken, umkreist Jacques Derrida von dem her, was eine solche Subjektivität ethisch, politisch und philosophisch konstituiert: die Treue zur und der Glaube an die Gerechtigkeit für jedeN, gefasst als Bedingungen der Möglichkeit eines im ethischen, politischen und philosophischen Sinn qualifizierten Verhältnisses zu sich, zu den anderen und zur Welt. Dabei reformuliert er den Unterschied wie den Zusammenhang von Repräsentation und Konstitution bzw. von Reform und Revolution als Unterschied und Zusammenhang jedes besonderen Rechts und Gesetzes von und mit der diese Recht und Gesetze jedenfalls ihrem Anspruch nach begründenden Gerechtigkeit. Derrida nähert sich beiden in der Perspektive der Dekonstruktion, d.h. in diesem Fall von der ethisch-politisch-philosophischen „Aufgabe“ her, „die Geschichte, den Ursprung, den Sinn, will sagen die Grenzen der Begriffe der Gerechtigkeit, des Gesetzes, des Rechts, und die Grenzen der Werte, der Normen, der Vorschriften ins Gedächtnis zurückzurufen“ und derart ihre unbefragte Bindungskraft und Geltung aufzulösen und in Frage zu stellen. Im Kontext emanzipatorischer Politik entspringt die Dekonstruktion der Gerechtigkeit, des Gesetzes und des Rechts deshalb aber nicht einer „nihilistischen Abdankung“, sondern ist gerade umgekehrt Ausdruck und Folge einer „Forderung nach unendlicher Gerechtigkeit“ und einer „unendlichen Forderung nach Gerechtigkeit“: „Man muss der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein. (…) Wir müssen dabei wissen, dass sich diese Gerechtigkeit immer an das vielfältig Besondere, an die Besonderheit des anderen richtet, unbeschadet oder gerade aufgrund ihres Anspruchs auf Universalität.“ (7)

Entscheidend für Derridas Begriff der Gerechtigkeit ist dabei, dass sie gerade wegen ihres Übermaßes – noch einmal: sich unbeschadet und gerade aufgrund des Anspruchs auf Universalität immer an das vielfältig Besondere, an die Besonderheit des anderen zu richten, richten zu müssen – jedes konkrete Recht und Gesetz übersteigt: „Dass die Dekonstruktion an dieser Stelle nicht nachgibt, dass sie stets die Befragung des Ursprungs, der Grundlagen und der Grenzen unseres begrifflichen, theoretischen, normativen Apparates, der um die Gerechtigkeit kreist, in Atem hält, bedeutet (…), dass die Forderung nach Gerechtigkeit von einer hyperbolischen Überbietung ergriffen wird, es bedeutet, dass man empfindlich ist für eine Disproportion, die dieser Forderung das Unmäßige und das Unangemessene einzeichnet und die dazu drängt, dass man nicht allein die theoretischen Grenzen anzeigt, sondern auch konkrete Ungerechtigkeiten denunziert.“ (ebd.) Konsequenterweise wendet sich Derrida gerade an dieser Stelle von der Philosophie auf die Politik: „Diese Gerechtigkeit, die kein Recht ist, ist die Bewegung der Dekonstruktion: sie ist im Recht und in der Geschichte des Rechts am Werk, in der politischen Geschichte und in der Geschichte überhaupt, bevor sie sich als jener Diskurs präsentiert, den man in der Akademie, in der modernen Kultur als ‚Dekonstruktivismus’ betitelt.“ (S. 51f.)

Die Rede von der außerphilosophischen „Bewegung der Dekonstruktion“ ist natürlich, und dieser Punkt kann gar nicht hoch genug bewertet und tief genug bedacht werden, ein Echo der Marx-Engels’schen Rede vom Kommunismus als der „wirklichen Bewegung, welchen den jetzigen Zustand aufhebt.“ (vgl. Fußnote 2) In Derridas postmarxistischer Fassung wird diese Bewegung zur zugleich ethischen, politischen und philosophischen Dekonstruktion der jeweils jetzt geltenden Rechtsordnung im Namen der Gerechtigkeit, d.h., mit Hardt/Negri gesprochen, zur außerstaatlich oder jedenfalls staatsfernen Konstitution von Gerechtigkeit gegen und in ihrer staatlichen Repräsentation im jeweils besonderen Recht und Gesetz. Dabei gilt allerdings, und das ist der zugleich politische und philosophische Witz der Dekonstruktion und zugleich ihre Neubestimmung des Unterschieds von Reform und Revolution: „Alles wäre viel einfacher, wenn der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Recht ein wahrer Unterschied wäre, ein Gegensatz, dessen Wirken sich logisch regeln und beherrschen ließe. Das Recht enthält aber den Anspruch einer Ausübung, die im Namen der Gerechtigkeit geschieht; die Gerechtigkeit wiederum erfordert, dass sie in einem Recht sich einrichtet, das ‚enforced’ werden muss.“ (S. 46) Folglich gilt: „Das Übermäßige der Gerechtigkeit, durch das sie sich nicht im Recht und in der Berechnung erschöpft, das Übermäßige des Undarstellbaren, durch das es über das Bestimmbare hinausschießt, dürfen nicht als Alibi dienen, um sich (…) von den juridisch-politischen Kämpfen fernzuhalten. (…) Die jeder Berechnung, jedem Kalkül gänzlich fremde Gerechtigkeit befiehlt also die Berechnung und das Kalkül. Dieses Berechnen muss sich so eng wie möglich an jenes halten, was man mit der Gerechtigkeit in Verbindung bringt: das Recht, die juridische Sphäre.“ Derrida schließt: „Dieses ‚Müssen’ gehört eigentlich weder zur Gerechtigkeit noch zum Recht. Dem einen wie dem anderen Raum gehört es nur in dem Maße an, in dem es die Grenzen des betreffenden Raums zum anderen hin öffnet. Die Politisierung etwa ist ein endloser Prozess, sie kann und darf aber niemals zu einem Abschluss kommen, eine totale Politisierung sein. Damit dies nicht wie eine Binsenweisheit oder etwas Triviales klingt, gilt es, folgende Konsequenz zu erkennen: Jedes Vorstoßen der Politisierung zwingt uns dazu, die Grundlagen des Rechts, die aus einer erfolgten Berechnung und Abgrenzung resultieren, erneut in Erwägung zu ziehen und folglich neu zu deuten. So hat es sich z.B. bei der Erklärung der Menschenrechte zugetragen, bei der Abschaffung der Sklaverei, im Zuge all jener Befreiungskämpfe, die statt haben und weiterhin statt haben werden, überall in der Welt, im Namen der Frauen und der Männer. Nichts scheint mir weniger veraltet zu sein als das klassische emanzipatorische Ideal.“ (S. 57f.) Das Sich-gegenseitig-aufeinander-Öffnen, die immer prekäre Konvergenz von Gerechtigkeit und Recht ereignet sich dann aber nicht in der „schlechten Unendlichkeit“ bloß gradueller Annäherung, sondern immer nur und überall dort, wo jetzt das Recht erkämpft wird, das über die bisherige Rechtsordnung hinausführt. Mit Hardt/Negri geht es dabei um das WeltbürgerInnenrecht, den sozialen Lohn und die Wiederaneignung der Mittel und Fertigkeiten der Produktion. In der Perspektive Balibars schreiben sich die um diese Rechte geführten Kämpfe in den Prozess der Selbstkonstitution einer aktiven BürgerInnenschaft ein und schließen sich von uns aus gesehen zu einem in und um Europa geführten Kampf zusammen. Doch auch und gerade als um Europa geführter zielt dieser Kampf auf Globale Soziale Rechte und wird als solcher zugleich in der Philosophie und in der Politik geführt, wenn auch je nach eigenem Maß, Unmaß und Übermaß und zugleich so, dass diese Rechte immer allen und besonders dem jeweils Anderen zustehen.

(1) Louis Althusser, Lenin und die Philosophie, Reinbek 1974, S. 33.

(2) Wenigstens in Form einer Fußnote sei angemerkt, dass die genannten Bewegungsbegriffe (Alte Soziale Bewegung, Neue Soziale Bewegungen, Bewegung der Bewegungen) stets in ihrem Bezug auf den von Marx und Engels geprägten Begriff der „wirklichen Bewegung“ des Kommunismus gedacht werden müssen, den sie wie folgt bestimmen: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ MEW 3, S. 35f.

(3) Corinna Genschel, www.bewegungsdiskurs.de/html/programm_2006

(4) attac AG Globale Soziale Rechte, www.attac.de/heiligendamm07/pages/alternativen/globale-soziale-rechte; lesenswert auch www.medico-international.de/aktiv/netzwerk

(5) Antonio Negri, Michael Hardt, Empire, Frankfurt/M 2002, S. 401. Vgl. dies., Multitude, Frankfurt/M 2004

(6) Étienne Balibar, Sind wir Bürger Europas?, Hamburg 2003, S. 285. Vgl. ders., Der Schauplatz des Anderen, Hamburg, 2006.

(7) Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität’, Frankfurt 1991; Vgl. ders., Marx’ Gespenster, Frankfurt 1995 und, zu Europa, Das andere Kap, Frankfurt 1992.