The People of Genova

Plädoyer für eine post-avantgardistische Linke

Dies ist der erste Beitrag, den ich hier unter dem Stichwort „Alterglobalisierung“ dokumentiere: Texte, in denen ich strategisch und/oder programmatisch auf das Potenzial der „globalisierungskritischen“ oder besser der „Alterglobalisierungsbewegungen“ reflektiere. Er erschien zuerst in dem Buch „radikal global“, 2003 herausgegeben von der Bundeskoordination Internationalismus (Buko) im Verlag Assoziation A (Länger)

Der folgende Beitrag geht methodisch von drei Voraussetzungen aus. Erstens weiß auch ich, wie leicht sich lächerlich macht, wer unter den gegebenen Bedingungen strategische Fragen sozialer Bewegung erörtert. Immerhin ist seit dem 11. September 2001 vor dem Hintergrund einer sich rapide verschärfenden Funktionskrise des globalen Kapitalismus ein räumlich und zeitlich unbegrenzter Krieg erklärt, der sich prinzipiell gegen alles richtet, was irgend zum »Sicherheitsrisiko« werden könnte. Damit ist der mehr oder minder plötzliche Übergang in ein Regime nicht ausgeschlossen, unter dem vieles von dem Makulatur werden kann, was gegenwärtig das Möglichkeitsfeld politischen Handelns umgrenzt. Man muss das nicht dramatisieren und sollte trotzdem auf vieles gefasst sein, was noch vor zwei, drei Jahren der Science­fiction zugeschlagen worden wäre. Weil die Theorien des Post­fordismus und des Empire sich ausdrücklich auf solche Umbrüche einstellen, ist ihre Nennung keine gelehrte Anspielung. Mit ihr wird die zweite Voraussetzung aufgerufen: Dass die Räume, in denen soziale Bewegung momentan ihre Möglichkeiten sucht und findet, durch eine Restrukturierung kapitalistischer Herrschaft geschaffen werden, die erstmals im vollen Sinn des Wortes von globalem Ausmaß ist und deshalb strukturell auf »Weltordnung« zielt. Das hat offensichtlich Konsequenzen gerade für soziale Bewegung, nicht zuletzt die, sich auch auf dieser Seite der weltgesellschaftlichen Antagonismen auf Neuerungen einzustellen, die noch vor kurzem für unmöglich gehalten worden wären.

Die dritte Prämisse dieses Textes besteht dann aber darin, trotzdem nicht alles für überholt zu halten, was früher Voraussetzung linker Praxis war. Dazu gehört neben einigem anderen die Differenz zwischen sozialen Bewegungen einerseits und der politischen Linken andererseits. Diese einst banale Unterscheidung haben viele Linke aufgegeben, hier soll sie neu zur Geltung gebracht werden, in analytischer und strategischer Hinsicht. Da andererseits nicht bestritten wird, dass für die Kritik traditioneller Avantgardekonzepte und die grundsätzliche Anerkennung der Autonomie sozialer Bewegung zwingende Gründe vorliegen, ist die hier vertretene Position eine post-avantgardistische.

Das Ende der 90er Jahre

Den gegebenen Stand sozialer Bewegung bestimmen zu wollen, führt noch immer in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Damals bricht nach einer Jahr für Jahr härteren Gangart in der west-östlichen Systemkonkurrenz und einem nach Hunderttausenden zählenden Massenexodus der sowjetisch dominierte Staatenblock in sich zusammen. Binnen kurzem wird klar, dass damit nicht nur der real existierende Sozialismus, sondern die gesamte historische Epoche zum Abschluss gekommen war, die 1917 mit der Oktoberrevolution eröffnet wurde. Nahezu in Monatsfrist sackten politische Formationen, die kapitalistischer Herrschaft wenn nicht antagonistisch so doch begrenzend entgegengetreten waren, wie Kartenhäuser in sich zusammen. Das betraf nicht nur die realen Sozialismen und die zum Teil traditions- und einflussreichen Parteien und Gewerkschaften, die ihnen im Westen verbunden waren, sondern auch die europäische Sozialdemokratie, die aus den antikolonialen Kämpfen hervor­gegangenen Entwicklungsstaaten und die Befreiungsbewegungen, die noch in direkter Konfrontation mit neo-kolonialen Regimen standen. An ihr Ende kommen damals auch die in den 60er und 70er Jahren entstandenen Neuen Sozialen Bewegungen der Metropolen und die ihnen verbundene Neue Linke.

Dass der Abbruch dergestalt bis auf den Grund ging, resultierte natürlich nicht allein aus dem Ende der Systemkonkurrenz. Umgekehrt war dieses selbst schon eine Folge der tief greifenden Umwälzung des Kapitalismus, die hier mit den Begriffen des Postfordismus und des Empire belegt wird. Zu ihr gehört die mit dem Einsturz des realsozialistischen Blocks in tatsächlich globaler Dimension erreichte De-Regulierung der internationalen Waren-, Kapital-, Arbeits- und Dienstleistungsmärkte, die zum Rahmen eines systematischen Einsatzes der neuen informationstechnologischen Produktivkräfte und der damit einhergehenden Internationalisierung der Arbeitsteilung wurde. Das seiner nationalstaatlichen Beschränkungen weitgehend entledigte Kapital folgte dabei konsequent der gleichermaßen seiner Verwertung wie seiner strukturellen Krise zugrunde liegenden Tendenz, sich im Ausgriff auf den Weltmarkt von der Widerspenstigkeit der Arbeitskraft zu befreien. Unter der schrittweise durchgesetzten Dominanz der auf den Produktions- und Reproduktionsprozess im Ganzen bezogenen »immateriellen« (symbolische, affektive und soziale Dienstleistungen erzeugenden) Arbeit wurde die »materielle« (rohstoffgewinnende und Agrar- oder Industriegüter erzeugende) Arbeit in den Metropolen erheblich reduziert und unter dem Druck der Massenerwerbslosigkeit und durch systematische Verlagerung in die Peripherien massiv entwertet. In der Folge kündigte das Kapital sukzessive die metropolitanen Klassenkompromisse auf und weitete die in den Peripherien flächendeckend durchgesetzte Prekarisierung und Pauperisierung der Arbeitskraft auch auf seine Zentren aus. Dabei gelang es ihm, die in den Revolten gegen koloniale und traditionale Herrschaft, gegen den bürokratischen Staat der realsozialistischen Regime und gegen die fordistische »Industrie- und Konsumgesellschaft« artikulierten sozialen Bedürfnisse für seine Umgestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen produktiv zu machen. Gerade damit aber liefen die Traditions- wie die Neue Linke und die antikolonialen Befreiungsbewegungen strategisch ins Leere und unterlagen so der Gegenoffensive neoliberaler Ideologie, mit der die Umbrüche gerechtfertigt wurden.

Tatsächlich dauerte diese tief greifende Depression nur wenige Jahre. Denn schon Mitte der 90er Jahre kommt es neuerlich zu sozialen Revolten, solchen der ArbeiterInnen­bewegung etwa in Frankreich und Korea, solchen anderer sozialer Bewegungen in Lateinamerika, Indien und anderswo. Wirklich sichtbar wurden diese allerdings erst nach Seattle, d.h. erst nach einem allgemeinen Protest gegen die globale Restrukturierung kapitalistischer Herrschaft, der als solcher auch vorgetragen und wahrgenommen wurde. In Seattle initiierte eine Regenbogenkoalition aus wenigen erklärtermaßen linken oder gar linksradikalen Kernen, Gewerkschaften, NGOs, kirchlichen Gruppen, umwelt-, sozial- und entwicklungspolitischen Verbänden sowie – erstmals seit Jahren wieder! – einer Vielzahl von jungen Menschen, was sich schnell weltweit als »globalisierungs­kritische Bewegung« ausbreitete. Deren Eigenart wurde bald im Begriff der »Bewegung der Bewegungen« (Mezzadra/Raimondi) gefasst und gewann in den »Welt-Sozialforen« von Porto Alegre und den Massendemonstrationen von Prag, Göteborg und schließlich Genua bald eine deutlichere Kontur.

The People of Seattle and Genova

Der spezifische Unterschied der globalisierungs­kritischen zu früheren sozialen Bewegungen liegt vornehmlich in zwei Momenten. Zum einen hat noch keine Bewegung in einem ebenso programmatischen wie organisatorischen Internationalismus bereits ihren Ausgangspunkt gefunden – auch für die ArbeiterInnen­bewegung war die politische Form der Internationale stets ein Ziel, das erst erreicht werden sollte.

Zum anderen hat noch keine Bewegung so entschieden die eigene heterogene Zusammensetzung bejaht – wenn überhaupt, wurde Pluralität bisher als etwas hingenommen, das auf dem Weg der »Vereinheitlichung« letztendlich überwunden werden sollte. Das Potenzial dieser produktiven Bejahung von Pluralität lässt sich in exemplarischer, aber nicht zu verallgemeinernder Weise in Italien erfahren. Hier reicht die lokal, regional und national über autonome »Soziale Foren« koordinierte Bewegung vom linken Rand des sozialliberalen »Ulivo«-Bündnisses und dem Spektrum der NGOs, umwelt-, sozial- und entwicklungspolitischen sowie kirchlichen Verbänden über die postkommunistische und die autonome Gewerkschaftsbewegung (CGIL bzw. Cobas), die aus der zerfallenen Partito Comunista Italiano (PCI) hervorgegangene Partito Rifondazione Comunista (PRC) bis zum selbst wieder vielfältigen Feld der autonom organisierten Disobbedienti (»Ungehorsamen«). Letztere sind über lokale, zum Teil in alten Fabriken untergebrachte Centri Sociali organisiert, die sozio-kultureller, ökonomischer und politischer Treffpunkt nicht nur der radikalen Linken, sondern auch der Jugendlichen, Erwerbslosen und MigrantInnen sind.

Der diese Strömungen umgreifende Pluralismus erschöpft sich aber gerade nicht in ihrem solidarischen Zusammenhang als solchem. Entscheidend ist vielmehr, dass jede einzelne Strömung für sich mehr oder minder tief greifende Veränderungen durchläuft, für die die Offenheit zu den anderen Strömungen von zentraler Bedeutung ist. So entwickelt sich Rifondazione gegenwärtig von einer Partei leninistischer Herkunft zu einer Partei, für deren Politikverständnis die Anerkennung der Autonomie sozialer Bewegungen grundlegend ist. Die so verstandene »Neugründung« bewährt sich bezeichnenderweise im offenen Austausch maßgeblicher Teile der Partei und vor allem ihrer Jugendorganisation Giovani Comuniste/i mit der autonomen Linken. Wer die Geschichte der italienischen Sozialrevolten der 70er Jahre erinnert, ahnt, was dabei gewonnen werden könnte: War es doch gerade die nach Regierungsbeteiligung strebende PCI, die der brutalen staatlichen Repression gegen die zur Massen­bewegung anwachsende Autonomia offen zuarbeitete und damit unmittelbar für die Eskalation der militanten Auseinandersetzungen 1977/78 verantwortlich war. An deren Ende verloren die gründlich diskreditierte PCI und die militant verhärtete Autonomia ihren bis dahin erheblichen gesellschaftlichen Einfluss und ebneten so der postfordistischen Restrukturierung den Weg.

Im Pluralismus wie im Internationalismus der Bewegung der Bewegungen reflektiert sich dergestalt das relative Scheitern sämtlicher antikapitalistischen Projekte. Weil sich ihre globalisierungskritische Form primär aus einer Niederlage bestimmt, stellen Pluralismus und Internationalismus natürlich auch die wesentlichen Probleme, an deren Bewältigung sich das Schicksal dieser Bewegung entscheiden wird. Werden die sozialen Bewegungen der Metropolen wie der Peripherien ihren spontan hergestellten Zusammenhang erweitern, vertiefen und bewahren und sich dergestalt gerade in ihrer Pluralität radikalisieren können? Wird die zunächst nur anti-neoliberale Globalisierungskritik dabei einen den neuen Bedingungen angemessenen Anti­imperialismus ausbilden? Kann sie aus der Niederlage der ihr vorangegangen sozialen Bewegungen heraus zur weltgesellschaftlichen Gegenmacht werden und dabei der Gefahr entgehen, sich in einen globalisierten »Gesellschaftsvertrag« einbinden zu lassen, der dem heraufziehenden Empire die Legitimität verschafft, die ihm heute fehlt? Kann also die Bewegung der Bewegung aus ihrem pluralistisch-internationalistischen Aufbruch heraus die Scheinalternativen unterlaufen, in denen sich frühere Bewegungen verfangen haben: die von Reform vs. Revolution, Repräsentation vs. Autonomie, Organisation vs. Bewegung, »Massenlinie« vs. Militanz und schließlich zwischen kurz- und langfristiger Orientierung auf beiden Seiten des Entweder-Oder?

Dafür spricht, dass die Bewegung ihre Dynamik von Seattle bis zum globalen Antikriegstag am 15. Februar 2003 steigern konnte, obwohl sie in Genua einer brutalen Repression ausgesetzt wurde, die gezielt ihren Pluralismus treffen sollte. Dafür spricht weiter, dass sich die Bewegungen auch unter den Bedingungen des nach dem 11. September massiv verschärften globalen Polizeikriegs nicht haben spalten lassen. Dessen Ziel liegt erklärtermaßen darin, jeden Widerstand gegen die imperial(istisch)e Herrschaft wenn nicht zu unterbinden so doch in der Defensive zu halten. In der aber verharren die Bewegungen mindestens so lange, wie nicht der Übergang zur Infragestellung nicht bloß der krisenhaften oder katastrophischen »Auswüchse«, sondern der Voraussetzungen und Grundlagen der gegenwärtigen Weltordnung gelungen ist. Denn während das Mobilisierungspotenzial – wie am 15. Februar von über zehn Millionen DemonstrantInnen in über 600 Städten bzw. über 50 Ländern eindrucksvoll unter Beweis gestellt – sprunghaft steigt, zeigen sich vor Ort Anzeichen einer bürokratischen Stagnation im Organisierungsprozess. Davon sind auch die Sozialforen betroffen, in denen die Bewegungen erste Räume des offenen Austauschs und der produktiven Koordination ihrer Differenzen gefunden haben. Insofern hängen die Vertiefung und Verstetigung der Widerstände gerade vom Erfindungsreichtum und Gebrauchswert dieses Prozesses ab: Er ist das Medium, in dem sich alle Strömungen der Bewegung so weit verändern können, dass sie den Scheinalternativen entkommen, deren entgegengesetzte Optionen je für sich stets in Sackgassen führen.

Deutsche Zustände

Zur Pluralität der Bewegung der Bewegungen gehört, dass ihre Dynamik regional starke Unterschiede aufweist. Das gilt im globalen Vergleich, wo die lateinamerikanischen Prozesse sicherlich die höchste Intensität erreicht haben, es gilt aber auch innerhalb der Metropolen und Peripherien. In der Europäischen Union haben die Bewegungen ihren schwächsten Stand zweifelsohne in Deutschland. Historisch resultiert dieser Rückstand noch immer aus der »volks­gemeinschaftlichen« Ausrichtung der repressiven wie der ideologischen deutschen Staatsapparate, d.h. aus der nahezu vollständigen Zerschlagung der ArbeiterInnen­bewegung, ihrer politischen Linken und der intellektuellen und subkulturellen Dissidenz durch den Nationalsozialismus.

Deren wesentlicher Ertrag war die bis heute fortwirkende autoritäre Homogenisierung der deutschen Gesellschaft auf der Grundlage eines mit Gewalt, materiellen Zugeständnissen und ideologischer Einbindung hergestellten Klassenkompromisses. Von der historischen Kontinuität einer spezifisch volksgemeinschaftlichen Vergesell­schaftung ist dabei insofern zu sprechen, als die nationalistisch grundierte Loyalität von rund zwei Dritteln der deutschen Gesellschaft und die auf sie gestützte Niederhaltung der sozialen Widerstände die nie nachhaltig erschütterte Geschäftsgrundlage auch der beiden Nachfolgestaaten des Dritten Reiches war. Natürlich haben die postnazistischen Staatsapparate den ideologischen und institutionellen Zuschnitt der volks­gemeinschaftlichen Vergesellschaftungs­prozeduren unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz und im Versuch ihrer »Vergangenheits­bewältigung« mehrfach modifizieren müssen. Ihr Erfolg erklärt sich darüber hinaus aus der steten Erhöhung der materiellen und symbolischen Zugeständnisse an die subalternen Sektoren ihrer Gesellschaften.

Nachdem der deutsche Konsens in den 60er und 70er Jahren trotzdem zunehmend unter Druck geriet, festigte sich die Massenloyalität seit den 80er Jahren durch die sukzessive Einbindung von Teilen der Neuen Sozialen Bewegungen in seine postfordistische Modernisierung und dann noch einmal mit dem nationalen Back-lash der Wiedervereinigung zur erneut stabilen Zwei-Drittel-Mehrheit. Der einigende Vektor des wiederhergestellten volks­gemeinschaftlichen Zusammenhalts verschob sich dabei von allerdings stetig mitlaufenden völkischen Motiven auf die wohlfahrts­chauvinistische Hegemonie einer als Modernisierungs­elite ausgezeichneten »Mitte«. Deren Bindungskraft erklärt sich nur scheinbar paradox aus ihrem Zusammenhang mit der Rücknahme des Klassen­kompromisses und der Auflösung fordistischer Sozialmilieus im Individualisierungs­schub der postfordistischen Produktionsweise: Die »Mitte« sammelt die Gewinner der forcierten Überlebens­konkurrenz, und zu denen wollen gerade die gehören, denen fortlaufend etwas genommen wird.

Verstärkt wurde dieser Prozess nach dem Wahlsieg der rotgrünen Koalition 1998. Damals fiel die politische Führung des gesamtdeutschen Wettbewerbsstaats einem Personal zu, das biographisch für sich in Anspruch nimmt, in der Modernisierung kapitalistischer Vergesellschaftung die Revolten der 60er Jahre zu vollenden und deshalb auch zum imperialen Mandat legitimiert zu sein. Die zum Teil perfide legitimierten »Wenden« der rotgrünen Modernisierungselite führten nach dem bereits Anfang der 90er Jahre erfolgten Zusammenbruch der radikalen Minderheitsströmung der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen zur Demoralisierung ihrer staatsreformistischen Mehrheitsströmung. Von keiner relevanten Opposition angefochten setzt die »Berliner Republik« seither die von der christdemokratischen Rechten eingeleitete Umkehr der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus im erneut mit Waffengewalt artikulierten Anspruch politischer Dominanz nach außen fort und kündigt im Innern noch die letzten Reste des fordistischen Klassenkompromisses. Stabilisiert sich die nach den rotgrünen Wahlniederlagen der jüngsten Zeit eingeleitete Bildung einer den christdemokratisch-liberalen Rechtsblock einschließenden informellen All-Parteien-Koalition, wird sich der metaphorische Überschuss in der Rede von der sich durchhaltenden Volksgemeinschaft weiter reduzieren – solange jedenfalls, wie der gegenwärtige Bewegungsaufbruch die »Zitadellenkultur« (O. K. Werckmeister) des deutschen Konsenses nicht zu schleifen vermag.

Während die italienische Bewegungsdynamik im Austausch zwischen sich rapide radikalisierenden Gewerkschaften, der Rifondazione und der bis in die »gemäßigten« Sektoren ausstrahlenden disobbidienza sociale bestimmt wird, bildet in Deutschland das (in Italien bezeichnenderweise nahezu irrelevante) Attac-Netzwerk noch immer den Fokus globalisierungs­kritischer Bewegung. Nachdem die auf wenige institutionalisierte Kerne zusammengeschrumpfte Friedensbewegung am 15. Februar in Berlin über eine halbe Million und an anderen Städten mehrere zehntausend DemonstrantInnen mobilisieren konnte, erweitert deren Potenzial den bisher von Attac umgrenzten Horizont möglichen sozialen Widerstands. Soll dieser nach Jahren des Rücklaufs erstmals wieder antagonistische Qualitäten entwickeln, müssen allerdings die spezifischen Schwächen der historischen Friedensbewegung bald überwunden werden: ihre primäre Orientierung an der Mehrheitsgesellschaft und ihre gerade im Konflikt zwischen der Schröder- und der Bush-Regierung sichtbare relative Funktionalität für den deutschen Imperialismus. Beides artikuliert sich in Teilen der Bewegung als strukturelle deutschnationale und antiamerikanische Versuchung. Eine Desorganisation der tendenziell totalitären Einheit der deutschen »Mitte« ist aber nur in einer Verbindung von Anti-Kriegs- und sozialer Opposition zu erreichen, mit der ein Widerstand gegen den globalen Polizeikrieg zum Widerstand auch gegen die »alteuropäische« Variante imperialer Weltordnungspolitik und darüber hinaus gegen die gesamte postfordistisch restrukturierte Arbeitsteilung werden könnte. In der spontanen Vernetzung zwischen der Friedens- und der globalisierungs­kritischen Bewegung ist eine solche Verbindung als Möglichkeit angelegt – als Möglichkeit, nicht mehr und nicht weniger. An diesem Punkt kommt alles auf eine im genauen Sinn des Wortes linke Intervention in der Bewegungs­dynamik an. Diese hätte die Radikalisierungs­potenziale aller Strömungen der Bewegung freizusetzen und gegen die von innen wie von außen ansetzenden Versuche ihrer Brechung zu kehren. Doch leider spiegelt sich bis jetzt jedenfalls die Schwäche der Bewegung in der Schwäche ihrer politischen Linken.

Die Linke? Welche Linke?

Dass radikale Linke mit personalisierenden moralischen Protesten gegen den Krieg und der fiskalischen Bändigung des Kapitals mittels Tobinsteuer und Schließung von Steueroasen nicht zufrieden zu stellen sind, versteht sich von selbst. Insofern werden die gängigen linken Distanzierungsformeln von der »verkürzten Kapitalismus­kritik«, dem »etatis­tischen Politik­verständnis« und der um jeden Preis auf Breite zielenden Bündnispolitik der Friedensbewegung wie des Attac-Netzes grundsätzlich zu Recht vorgetragen. Nicht abwegig zugleich die Skepsis, es bei Attac nur mit einer massenmedial inszenierten Einhegung der sozialen Bewegung zu tun zu haben, die zu repräsentieren das Netzwerk sich anmaßt. Dies um so mehr, als Attac wie die Friedensbewegung maßgeblich von Aktivis­tInnen getragen werden, die sich von ihrer früheren oder noch fortgesetzten Mitgliedschaft in SPD, Bündnis 90/Die Grünen oder DKP eine gefestigte staats­reformistische Ideologie bewahrt haben. Verstärkt wird der Wunsch nach Distanzierung auch von den in Linksruck und ähnlichen Gruppen organisierten Verfallsformen eines trotzkistischen Entrismus, der die Radikalisierungs­potenziale der Bewegung für seine stockautoritäre Sektiererei nutzen will. Noch einmal vertieft wird das linke Unbehagen an der Globalisierungskritik angesichts der in den Bewegungen wirkenden reaktionären Ressentiments, die immer wieder nationalistisch, rassistisch oder antisemitisch artikuliert werden. Alle linken Vorbehalte kommen schließlich in einer Reserve gegenüber der wichtigsten Aktionsform der Bewegungen zusammen, der in Planung und Durchführung unvermeidlich autoritären Massenmobilisierung von Event zu Event.

Allerdings versieht sich auch die in ihrer Distanzierung verharrende und mehr noch eine sich in ihrer Distanz einrichtende linke Kritik am Radikalisierungs­potenzial der Bewegungen. In ihrer Fixierung auf die staats­reformistischen Forderungen der Organisation bzw. vieler ihrer Aktivis­tInnen verkennen diese Linken, dass der emanzipatorische Gehalt einer sozialen Bewegung zunächst nicht in den subjektiven Äußerungen und Einstellungen ihrer Teilnehmer, sondern in der objektiven Dynamik ihres Aufbruchs und deren Wirkung auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse liegt. Ähnlichen Fehleinschätzungen waren früher bereits die Neuen Sozialen Bewegungen und die ArbeiterInnen­bewegung ausgesetzt: Auch hier verkannte eine bestimmte Form ultralinker Kritik die Dynamik der Bewegungen, weil es deren Aktivis­tInnen »nur« um materielle, juridische oder symbolische Verbesserungen ihrer sozialen Position ging.

Gegen einen auch damals schon auf »kritische Kritik« bornierten Pseudo­radikalismus führten Karl Marx und Friedrich Engels ihre strategische Grundeinsicht ins Feld, nach der es sich in der Einschätzung der ArbeiterInnen­bewegung zunächst gar nicht darum handelt, »was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt«. Dessen »geschichtliche Aktion« resultiere gerade nicht aus dem Bewusstsein der einzelnen Proletarier, sondern sei in der antagonistischen gesellschaftlichen »Lebenssituation« des gesamten Proletariats »unwiderruflich vorgezeichnet« (Marx-Engels Werke, Bd. 2, S. 38). Weil sie andererseits wussten, dass diese »Lebenssituation« zunächst nur über ideologische Einstellungen erschlossen wird, die von der nationalstaatlichen Verfassung bürgerlicher Gesellschaft vorgegeben werden, setzten Marx und Engels der tendenziell elitären Praxisferne der »kritischen Kritik« die avantgardistische Rolle einer in der Bewegung intervenierenden politischen Linken entgegen. Im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) umrissen sie diese Rolle wie folgt: »Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus« (Marx-Engels Werke, Bd. 4, S. 475).

Der Rekonstruktion einer so verstandenen politischen Linken im Kontext der globalisierungs­kritischen Bewegungen steht allerdings zunächst einmal die katastrophale Geschichte der historischen Avantgarden entgegen, in der die »führende Rolle« kommunistischer Partei- und Staatsapparate zur Legitimation noch des furchtbarsten Terrors herhalten musste. Aufzuarbeiten und anzuerkennen bleibt darüber hinaus der historische Bruch zwischen der »alten« ArbeiterInnen­bewegung und den Neuen Sozialen Bewegungen, in dem Feminismus, subkulturelle Dissidenz und ökologische Kritik offen legten, dass und wie die ArbeiterInnen­bewegung und ihre politische Linke spezifische Formen patriarchaler und technologischer Herrschaft nicht nur ausgeblendet hatten, sondern selbst an ihnen partizipierten.

 

Grüne, Autonome, Antideutsche

Die Rekonstruktion einer politischen Linken muss allerdings umgekehrt auch den spezifischen Antikommunismus der letzten zehn Jahre überwinden, der nicht mehr die Dämonisierung der kommunistischen Alternative betrieb, sondern bereits deren historische Möglichkeit verleugnete. Diese Verschiebung im Antikommunismus führt bis in die Geschichte der Neuen Linken zurück, die in der Folge des Rücklaufs sozialer Bewegung seit den 70er Jahren nicht zu einer adäquaten Kritik der eigenen Irrtümer kam. Damals schlug sich das Scheitern avantgardistischer Politikvorstellungen, die aus der Geschichte abstrakt auf die eigene Praxis übertragen wurden, in einer ebenso abstrakten Verwerfung auch jeder kritisch an die historische Erfahrung anschließenden Praxis nieder. Von ihr aus bestimmte sich in den 80er Jahren die politische Entwicklung der Grünen wie der Autonomen. Im Wunsch nach einem Neuanfang nur aus eigener Erfahrung ersetzten die beiden Erben der Neuen Linken die theoretische Praxis durch eine Empirie der Realpolitik einerseits und eine Empirie der reinen Gesinnung andererseits. Konsequenterweise ebneten sie dabei den Unterschied zwischen sozialen Bewegungen und ihrer politischen Linken so weit ein, dass sie sich letzten Endes selbst mit »der« Bewegung identifizierten: die einen, um sie parlamentarisch zu vertreten, die anderen, indem sie sich nur noch auf sich selbst bezogen, weil sie außerhalb der eigenen »Szene« gar keine Bewegung mehr wahrnahmen. Obwohl sich Grüne und Autonome rasant auseinander entwickelten, überdrehten sie je auf ihre Weise die antiautoritäre Konzeption einer »Politik in erster Person« in einen Subjektivismus, der sich bald auf das ihm realpolitisch oder subkulturell Mögliche reduzierte und sich so im Bestehenden einrichtete.

Die Integration der Grünen und das Verschwinden der Autonomen führten dann zwar zu einer Rückwendung zur theoretischen Praxis bei der in Opposition zur deutschen Wiedervereinigung entstandenen »antinationalen« Linken der 90er Jahre. In ihrer strukturellen Marginalisierung hatten die Antinationalen aber kaum die Chance, sich das schon den Autonomen und Grünen verloren gegangene Spezifikum linker Theorie wieder anzueignen: den Vorgriff auf die nie gegebene, sondern immer erst herzustellende und deshalb stets prekäre Einheit von theoretischer und organisierender Praxis. Die nahezu ausschließlich publizistische Tätigkeit der Antinationalen beschränkte sich deshalb auf die oft polemisch zugespitzte Kommentierung sozialer Bewegung, deren AktivistInnen und Aktionen sie im Stil der »kritischen Kritik« von außen, der Tendenz nach aber eben von oben bewertete. Was bei der antinationalen Strömung noch eine verständliche Reaktion auf das Scheitern der Neuen Linken und das imperial(istisch)e Coming-out der Berliner Republik war, steigerte der »antideutsche« Subjektivismus schließlich zur elitären Selbstüberhöhung. Konsequenterweise schlug sich die Antideutschtümelei spätestens nach dem 11. September offen auf die Seite imperial(istisch)er Herrschaft und vollzog damit in paradoxer Wende den Weg der rotgrünen Modernisierungselite nach. Tatsächlich ist die von den Antideutschen auf die Spitze getriebene elitäre Distanzierung von der Bewegung nur das Gegenstück zur distanzlosen Identifikation der Autonomen mit der Bewegung: Beide Positionen enden in reiner Selbstbezüglichkeit und erweisen sich darin als zwei Seiten desselben ultralinken Fehlers.

 

Avantgardismus ohne Avantgarde

Unter diesen Umständen kann die Freisetzung der Radikalisierungs­potenziale globalisierungs­kritischer Bewegung nur gelingen, wenn sie sich selbst die Linke schafft, die diese Möglichkeit zu ihrer eigenen macht. Dazu gehört vor allem eine Neubestimmung des notwendigen Zusammenhangs wie des nicht einfach zu überspringenden Unterschieds von sozialer Bewegung und politischer Linken und zugleich die realistische Einschätzung ihrer Bedeutung. Denn obwohl sich das emanzipatorische Potenzial einer sozialen Bewegung letztlich nur mit der Ausbildung ihrer Linken entfaltet, hängen an ihr weder der Aufbruch noch der jederzeit mögliche Niedergang der Bewegung. Umgekehrt aber entscheidet sich das historische Schicksal einer Linken stets am Schicksal der Bewegung, deren »praktisch entschiedenster, immer weitertreibender Teil« sie Marx und Engels zufolge sein muss.

Klar ist zugleich, dass die Rekonstruktion einer politischen Linken nach dem Scheitern aller historischen Avantgarde­organisationen von dem Satz des Manifests ausgehen muss, demzufolge die Linke gegenüber ihrer Bewegung gerade »keine besondere Partei« bildet. Weil der »entschiedenste« Teil der Neuen Linken diese Kritik gegenüber der Sozialdemokratie, dem Parteikommunismus und dem antikolonialen Befreiungsnationalismus im Prinzip bereits geleistet hat, kann an diese Erfahrung angeknüpft werden. So hat die antiautoritäre und undogmatische Strömung der Neuen Linken zwar die Notwendigkeit eines organisierten Avantgardismus anerkannt, in Abwendung vom Leninismus aber darauf bestanden, dass der nicht von außen an die Bewegung herantreten darf, sondern sich aus ihr entwickeln, folglich von Beginn an mit ihr verbunden sein muss. Sie hat zugleich nach Wegen gesucht, einer bürokratischen Erstarrung des Organisierungsprozesses auszuweichen. Deshalb hat sie den »demokratischen Zentralismus« ebenso abgelehnt wie die überkommene Trennung von Partei-, Gewerkschafts- und sozio-kultureller Organisation. Sie hat schließlich in einer zu den Spaltungslinien von Herrschaft, Ausbeutung und Subjektivierung quer liegenden Verschränkung der politischen Aktion mit dem eigenen Alltagsleben ihren historisch neuen Ansatzpunkt gesucht.

Die Suche wurde abgebrochen, weil die postfordistische Umwälzung kapitalistischer Vergesellschaftung die Neuen Sozialen Bewegungen und ihre Linke überholte und damit der Initiative beraubte. Wie lässt sich diese Initiative im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung wieder finden, der zugleich der Kontext eines imperial verfassten Kapitalismus ist? Wie und woraufhin muss der globalisierungs­kritische Internationalismus und Pluralismus radikalisiert werden, um die post­fordistische Auflösung formierter sozialer Milieus emanzipatorisch zu wenden, auch und gerade die Auflösung der traditionellen ArbeiterInnen­klasse? Wie können die Bewegungen die rassistischen und sexistischen Spaltungen unterlaufen, die gleichzeitig immer neue soziale Milieus voneinander abgrenzen und gegeneinander setzen? Wie kann ihnen das gelingen, wenn der imperiale Polizeikrieg Disziplin und Kontrolle in jeden Bereich dieses Alltags einschreibt und den sozialen Widerstand dabei von seinen Möglichkeiten zu trennen versucht? Wie können die Bewegungen also gerade ein zugleich globalisiertes und radikal vereinzeltes Alltagsleben zum Möglichkeitsspielraum ihrer Autonomie machen, ein Alltagsleben, dass nicht nur in seiner Arbeits-, sondern auch in seiner »Freizeit« dem Kapitalkommando unterworfen ist? Wie kann dabei das von den ideologischen Staatsapparaten gezielt abgedrängte historische Wissen der vergangenen sozialen Bewegungen und vergangener politischer Linken erinnert, verbreitet und produktiv gemacht werden?

Wie können sich folglich, alle diese Fragen zusammenführend, transnationale Massenmobilisierungen so mit einer autonomen lokalen Organisierung verschränken, dass sie von jedem Ort dieser Welt aus vom symbolischen zum materiellen Angriff auf die herrschende Weltordnung übergehen? Nur die Bewegungen selbst können diese Fragen beantworten. Unabhängig vom Selbstverständnis vieler AktivistInnen haben sie in den Sozialforen auch die Räume geöffnet, in denen verschiedene Antworten auf diese Fragen gefunden, erprobt und ausgetauscht werden können, nicht für eine immer nur imaginäre »Vereinheitlichung«, sondern für die radikalisierende Selbstveränderung aller Teile der Bewegung. Ihre politische Linke ist gefordert, diese Räume nach Maßgabe ihrer theoretischen Phantasie und ihres organisatorischen Geschicks auszuweiten und offen zu halten.