Die imperialistische Epoche geht zu Ende

Thomas Binger im Gespräch mit Thomas Seibert

Dieses Interview wurde am 4. März 2003 für einen linken Radiosender geführt und erschien dann im Heft 3 der Fantômas. Zu lesen als knappe Einführung in die „Empire“-Debatte, nicht zuletzt im Blick auf die Rolle der Migration. (Kürzer)

Thomas Binger: In ihrem Empire-Buch über die Konturen der neuen Weltordnung vertreten Michael Hardt und Antonio Negri die These das Zeitalter des klassischen Imperialismus sei zu Ende. An die Stelle der alten, an die Souveränität von Nationalstaaten gebundenen Form der Macht, trete das Empire als transnationales Herrschaftsnetzwerk ohne örtliches Machtzentrum. Gilt diese Hypothese auch noch im Angesicht verschärfter imperialistischer Konflikte und einer Epoche neuer Kriege nach den Attentaten vom 11. September?

Thomas Seibert: Ja, sie giltnoch! Allerdings mit zwei Präzisierungen. Es wird in dem Buch nicht von einem zu Ende gegangen sein des Imperialismus und einem schon Dastehen des Empire gesprochen, sondern von Übergängen. Dies drückt sich ja bereits in Kapitelüberschriften wie „Passagen der Souveränität“ oder „Passagen der Produktion“ aus. Unterstellt wird also ein zu Ende gehen der imperialistischen Epoche. Das bestätigt sich für mich auch gegenwärtig in den Ereignissen um den drohenden Irak-Krieg. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch noch gleichzeitig von Phänomenen des Imperialismus gesprochen werden kann. Es liegt Beides vor: wir haben Versuche der Durchsetzung einer neuen Weltordnung und wir haben gleichzeitig klassisch imperialistische Konflikte. Beides durchmischt
sich.

TB: Ist die aktuelle Weltlage nicht viel mehr durch eine Neuaufteilung der globalen Einflußsphären und den damit einhergehenden Eroberungen, Protektoraten und nationalen Konkurrenzen geprägt? Einige linke Analysen sprechen schon von einer Regression hin zum klassischen Imperialismus.

TS: Das halte ich für einen Irrtum und für eine Verkürzung dessen was vorliegt.
Vielleicht lässt sich das an einem alten Begriff ausführen: Im Zusammenhang mit der Imperialismustheorie sprach man ja immer von der sog. innerimperialistischen Konkurrenz, also das verschiedene imperialistische Mächte in Konkurrenz zueinander geraten, in ihrem Versuch sich fremde Territorien und Märkte sowie deren Rohstoffe und Arbeitskräfte anzueignen. Gleichzeitig geht es aber genau in denselben Prozessen um etwas ganz anderes. Es geht darum Weltordnung durchzusetzen und eine weltweite souveräne Macht einzusetzen, die für diese Weltordnung einsteht, die sie garantiert und die sie auch umsetzt.
Konkurrenz gibt es da auf beiden Ebenen: Es gibt die klassische innerimperialistische Konkurrenz. Es gibt aber auch eine Konkurrenz um die Form in der Weltordnung durchgesetzt werden muss. Es geht nicht um die Aneignung des Irak – und es ging auch nicht um die Aneignung Afghanistans oder die Aneignung der ehemaligen jugoslawischen Staaten – durch imperialistische Mächte, die ihn dann als ihre eigene Einflußzone beherrschen wollen, sondern es geht vielmehr um die Durchsetzung einer souveränen Weltordnungsmacht. Dazu müssen Grenzen neu gezogen oder aufgehoben werden. Dazu müssen Rechtsordnungen zerschlagen oder neue Rechtsordnungen etabliert werden. Dies ist für mich das wichtigere Moment.
Der Konflikt zwischen Teilen des herrschenden Blocks der USA und Teilen des
herrschenden Blocks der EU ist nicht einfach nur ein imperialistischer Konflikt
um die Kontrolle der Golfregion, sondern es geht darum, wie in dieser Region
Weltordnung durchgesetzt wird.

TB: Im Empire-Buch formulieren Hardt/Negri wörtlich: „Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines neuen imperialistischen Projekts, und tatsächlich ist dazu heute kein Nationalstaat in der Lage. Der Imperialismus ist vorbei. Keine Nation kann in dem Sinne die Weltführung beanspruchen, wie die modernen europäischen Nationen das taten.“ Angesichts der aktuellen aggressiven Außenpolitik der Bush-Administration spricht neuerdings auch Toni Negri von einem „imperialistischen Backlash“. Wie definierst du die Rolle der einzigen Supermacht USA in der neuen Weltordnung?

TS: Hardt und Negri sagen in ihrem Buch, die USA ist von Anfang an ein anderer Staat als die europäischen Nationalstaaten, die alle historisch imperialistische Staaten wurden. Sie haben jeweils für sich und in Konkurrenz zu anderen Mächten versucht Einflußzonen aufzubauen, sich Territorien, Rohstoffe und Märkte anzueignen. Während die USA zwar auch davon gezeichnet war, aber gleichzeitig immer auch ein ganz anderes Projekt vertreten hat: nämlich einen großen Raum zu schaffen, in dem eine ganz andere Form von Souveränität ausgeübt wird. In dem der USA zwar eine ganz wesentliche Rolle zukommt, aber in dem die USA nicht die imperialistische Macht ist, die sich das alles aneignet. Die USA ist vielmehr in einem solch großen integrierten Raum die Macht, die die Verwertungsbedingungen
von Kapitalismus sichert und durchsetzt.
Hardt/Negri haben sehr genau beschrieben, wie die Frage ‚Betreibt man
imperialistische Politik oder betreibt man imperiale Politik?‘, in den USA
stetig umkämpft war. Es gab eine ständige Versuchung, auf eine im klassisch
europäischen Sinne imperialistische Position zurückzufallen. Ich würde nicht
soweit gehen von einem „imperialist backlash“ zu sprechen. Es gibt aber
gegenwärtig Teile des herrschenden Blocks in den USA, die so etwas wollen. Es gibt auch die offenbare Verbundenheit der Bush-Administration zum Öl-Kapital. Gleichzeitig gibt es aber grundsätzliche Veränderungen, z.B. den Umstand, dass die Öl-Industrie nicht die dominierende Kraft innerhalb des transnationalen Kapitals und noch nicht einmal innerhalb des amerikanischen Kapitals ist. Von daher kann also nicht einfach auf das Handeln der amerikanischen Regierung geschlossen werden. Im übrigen geht es auch nicht darum imperialistische Einflußgebiete zu schaffen, sondern es geht um eine Neuordnung des gesamten arabischen Raums und um die Durchsetzung einer souveränen Macht, die dort Weltordnung garantieren soll.
Außerdem geht es um eine imperiale Neuordnung des pazifischen Raums. Das ist für mich der Hintergrund des Konflikts mit Nordkorea, in dem es nicht nur um Nordkorea geht, sondern in dem es auch um Japan und um China geht. Im Netz der imperialen Souveränität steht die Klärung der Machtverhältnisse zwischen dem amerikanischen Pol und dem europäischen Pol an. Ganz offensichtlich versuchen die USA momentan auf den europäischen Pol Einfluß zu nehmen und dort zu spalten.
In den Fragen die grundsätzlich zur Verhandlung stehen, gibt es allerdings
keinen Konflikt zwischen der USA und dem alten Europa. Das die sog.
internationale Staatengemeinschaft – und das ist bisher das Phantomsubjekt der imperialen Souveränität – das Recht hat, in einem bestimmten Gebiet, in dem etwas geschieht, was nicht genehm ist, als quasi weltpolizeiliche Macht
einzugreifen, ist unstrittig. Dieser weltpolizeiliche Ordnungszugriff ist doch
das, was im Irak, in Afghanistan und im ehemaligen Jugoslawien Sache ist.
Lediglich wie der erfolgt und wer dabei die treibende Kraft ist, ist das, was
tatsächlich umstritten ist.

TB: Auch  die neokonservativen politischen und strategischen Eliten in den USA diskutieren seit dem 11. September offen über die imperiale Mission der
Vereinigten Staaten. Washington wird dabei schon als das „neue Rom“ imaginiert. Mutiert das transnationale Empire nicht doch zu einem US-dominierten Imperium?

TS: Hier zeigt wiederum der Umstand, dass diese Prozesse auch in sich umkämpft sind. Natürlich gibt es eine imperialistische Strategie und eine imperialistische Politikvorstellung, die dort in Anschlag gebracht wird. Aber gleichzeitig ist das ‚american empire‘ nicht einfach ein Nationalstaat, der in Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten sich seine Einflußgebiete sichern will. Der Anspruch ist sehr viel weiter gespannt. Worum geht es denn in den Gesellschaften, die jetzt bekriegt werden? Es geht darum, wie dort Souveränitätsmächte eingesetzt werden, wie man die Bevölkerung in Kontrollregimes einbindet, wie man die Migration kontrollieren kann usw. Beispielsweise wird das geltende Recht der Genfer
Flüchtlingskonvention außer Kraft gesetzt, wonach Flüchtlinge in
Kriegshandlungen jederzeit das Recht haben das Kriegsgebiet zu verlassen. Nach geltendem Recht müsste also eigentlich die Türkei ihre Grenzen öffnen, genauso wie Österreich oder wie Pakistan seine Grenzen hätte öffnen müssen. Es geht um die Möglichkeit einen Zugriff auf solche Migrationsbewegungen zu haben, damit man sie zwingen kann, im Kriegsgebiet selbst zu verbleiben. Dafür muss man Institutionen und Lager schaffen. Die ganze Schutzzone im Nordirak ist ein Gebiet, dass wesentlich dazu dient Fluchtbewegungen zu verhindern.
Das ist doch alles andere als ein klassisch imperialistisches Projekt. Und das
treibt sehr wohl auch die neokonservativen Ideologen des ‚american empire‘ um. Da geht es nicht einfach um die Aneignung von Arbeitskraft und Rohstoffen, sondern da geht es um Ordnung schaffen. Es gibt da keinen Masterplan, sondern die verschiedensten Kräfte und Akteure liegen in internen Auseinandersetzungen, wie genau das zu erfolgen hat. Das wird gegenwärtig auch im Streit um das ‚american empire‘ ausgetragen. Auch entgegenlaufende Bestrebungen – beispielsweise der Europäischen Union – widersprechen dem nicht.
Die EU bleibt allerdings im Empire-Buch unterbelichtet. Hardt/Negri
konzentrieren sich zu sehr auf den Unterschied zwischen dem amerikanischen Staat und dem klassischen europäischen Nationalstaat, der ihnen als Folie zur
Begründung der imperialen Souveräntiät dient. Dabei übersehen sie, dass sich die Europäische Union, als transnationale politische Figur, dieser einfachen
Gegenüberstellung entzieht, weil sie selber ein im engeren Sinne imperiales
Projekt ist. Insofern stellt die Auseinandersetzung zwischen der USA und der EU eher eine innerimperiale als eine innerimperialistische Konkurrenz dar.

TB: Seit dem Ende der alten Kalte-Kriegs-Weltordnung ist Krieg wieder zu einem weithin akzeptierten Mittel der Politik geworden. Worin besteht die neue Rolle und der neue Charakter des Krieges im Empire?

TS: Ein Krieg, wie man ihn klassisch kennt, wird erklärt und irgendwann wieder
beendet. Das haben wir heute nicht mehr. Wir haben den langanhaltenden Krieg gegen den Terrorismus, der einen Krieg darstellt, der weder regional begrenzt noch zeitlich befristet ist. Dieser Krieg wird prinzipiell im globalen Maßstab geführt. Es ist definitiv ein Krieg, der kein Aneignungskrieg ist. Da wird keine Kolonie geschaffen oder ein Land dauerhaft erobert und angeeignet. Dieser Krieg wird nicht mehr zwischen Staaten geführt, sondern er wird auf allen Ebenen von Koalitionen und z.T. von nicht-staatlichen Akteuren geführt. Es gibt keine Differenz mehr zwischen einer Polizeiaktion und einer militärischen Aktion. Die meisten aktuellen Konflikte stellen einen Übergang dar, zwischen einer ‚low intensity‘ militärischen Aktion und einer ‚high intensity‘ Polizeioperation. Insofern gibt es sogar einen qualitativen Übergang zwischen den Einsätzen in Jugoslawien, der Aktion gegen Afghanistan, den seit Jahren laufenden Eingriffen in verschiedene Konflikte in Lateinamerika und Genua. Dort liegt ein Kontinuum vor. Dies ist alles in eine Operation eingebettet, die dazu dient, globale Ordnung zu schaffen.
Auch auf der legitimatorischen Ebene haben wir es mit einer entscheidenen
Veränderung zu tun. Einerseits gibt es eine Banalisierung des Krieges, der nicht mehr erklärt wird, der nicht mehr zwischen zwei Staaten geführt wird, sondern der eher einer polizeilichen Razzia in einem Slumgebiet einer amerikanischen Großstadt ähnelt. Man geht irgendwo hin, wo eine Gang ist, die unter Kontrolle gebracht werden muss. Gleichzeitig gibt eine fürchterliche Überhöhung des Krieges, weil es so etwas wie einen absoluten Feind gibt. Das ist der Unterschied zwischen dem Terrorismus, der im Moment in unterschiedlicher Form als der absolute Gegner, als das absout Böse ausgemacht wird, und der Art und Weise wie früher die Sowjetunion als Gegner konstruiert wurde. Die Sowjetunion war zu keinem Zeitpunkt das absolut Böse. Sie war die konkurrierende Macht. Sie vertrat eine totalitäre Ordnung. Man musste gegen die Sowjetunion die Freiheit verteidigen usw. Aber Niemand hat der Sowjetunion unterstellt, dass sie Anthrax und Pockenviren streuen würde, dass sie das Wasser vergiften würde usw. Das
unterstellt man aber dem sog. Terrorismus, der insofern das absolut Böse
darstellt. Dieser Krieg ist in jedem Fall ein ‚gerechter Krieg‘ und er wird
gegen den absoluten Feind geführt.

TB: Sind die diplomatischen Konflikte und Zerwürfnisse bei der Vorbereitung des aktuellen Irak-Krieges nicht ein wichtiger Hinweis auf deutliche Risse im
imperialen Konsens? Kann eine neue transnationale Form der Souveränität allein als Diktat des Stärkeren funktionieren oder ist eine hegemoniale Politik im Weltmaßstab auf Mechanismen und Formen der Konsensbildung angewiesen? Und sind nicht gerade diese Mechanismen momentan außer Kraft gesetzt, wenn man sich die Konflikte in der NATO oder im UN-Sicherheitsrat anschaut?

TS: Außer Kraft gesetzt sind sie nicht. Im Moment geht es um die Machtbefugnisse der verschiedenen Stellen im imperialen Zusammenhang. Wo müssen Entscheidungen ausgehandelt werden? Wo muss eine Abstimmung erfolgen? Es ist ja noch nicht einmal ausgemacht, ob die Amerikaner es tatsächlich schaffen sich gegen all das, was die Europäer jetzt dagegen gesetzt haben, tatsächlich durchzusetzen. Wenn sie es schaffen, dann nur unter enormen politischen Verlusten. In der imperialen Konkurrenz verlieren die USA letztendlich, wenn sie sich über alles hinwegsetzen. Sie schaffen starre Fronten und festen Widerstand. Das schwächt ihre Fähigkeit Gleichgewichte auszuhandeln.
Im übrigen gibt es tatsächlich so etwas wie einen strukturellen Zwang, unter den Bedingungen eines völlig globalisierten Kapitalismus, globale Ordnung zu
schaffen und dafür auch ein globales Gewaltmonopol zu haben. Dieser globale
Kapitalismus schafft an seinen Peripherien barbarische Verhältnisse. Verhältnisse von verwilderter Gewalt, die unter Kontrolle gebracht werden
müssen. So wie man die Verhältnisse in Afghanistan und in Bosnien unter
Kontrolle bringen musste. Das kann nur als ein kollektives Projekt funktionieren. Als ein Projekt, das ausgehandelt werden muss.

TB: Formiert sich mit der Achse Berlin, Paris und Moskau ein ernstzunehmender Gegenpol zu einer amerikanisch dominierten Weltordnung? Agieren diese Staaten mit ihrer Betonung einer multilateralen Abstimmung der Kriegspolitik und einer überzeugenderen völkerrechtlichen Legitimation des Krieges nicht eher auf der Höhe des Empires als die USA? Michael Hardt spricht ja schon davon, dass die US-Eliten mit ihrem Rückfall in eine klassisch imperialistische Politik, nicht dazu in der Lage seien in ihrem eigenen Interesse zu handeln.

TS: Beides würde ich bejahen. Im Moment entspricht die Politik der EU tatsächlich eher den Notwendigenkeiten eines Empires, als es die Politik der USA tut. Die augenblickliche Politik der USA, die ihre imperiale Position schwächt, auch wenn ihre imperialistische Position gestärkt werden sollte, läuft mittel- und langfristig auch den Interessen der US-Eliten entgegen. Denn deren Interesse besteht darin eine imperiale Souveränität durchzusetzen, d.h. eine Macht zu etablieren, die dazu in der Lage ist, weltweit ordnend einzugreifen. Diesem Projekt handeln bestimmte Teile der US-Eliten augenblicklich zuwider. Deswegen hat die EU sehr viel mehr begriffen, was momentan notwendig ist. Was im übrigen nicht heißen soll, dass nicht auch bei EU-Mächten konkrete imperialistische Ziele mitschwingen.
Es gilt weiterhin, dass wir uns in einem Übergang befinden. Und diesen Übergang würde ich noch nicht einmal so denken, dass er defintiv ein Übergang wäre von der Strecke A zur Strecke B, sondern es könnte durchaus sein, dass man es immer mit beiden Phänomenen zu tun hat. Die Theorie des Empire behauptet schließlich nicht, dass der Nationalstaat verschwindet und ausgelöscht wird, sondern das der Nationalstaat den Notwendigkeiten des Empires untergeordnet wird. Diese Unterordnung geschieht eben nicht ein für alle Mal.