Nach Athen, im Kampf um die Grenzen, nach Paris, von unterwegs.

Erste Notizen zum Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland

Vielleicht ist keine meiner politischen Interventionen so breit aufgenommen worden und zugleich so umstritten wie diese hier. Zuerst publiziert im Dezember 2015 auf der Website „kommunisten.de„, setzte mein Text den politischen Begriff des „dissidenten Drittels“ aus – damals noch mit der Option, dass dieses Drittel das Potenzial zur Bildung einer linken gesellschaftlichen Mehrheit in Deutschland haben würde – mit Folgen für die Dynamik der Zeit der Monster in ganz Europa. (Lang)
Im ebenso hitzigen wie kurzen Streit um die Kapitulation Syrizas vor dem Staatsstreich der EU beriefen sich viele auf den „Plan B“, den die griechische Linksregierung hätte ausspielen sollen. Syriza habe sich der Konfrontation viel zu naiv gestellt und sich deshalb nicht auf den unumgänglichen Austritt aus der EU vorbereitet. Übersprungen wurde dabei die gerade im Plebiszit des „OXI“ verdichtete, in sich zweideutige Position der Mehrheit der Syriza-Unterstützer*innen. In der verband sich die entschiedene Zurückweisung des Troika-Memorandums mit dem nicht minder entschiedenen Willen zum Verbleib in der EU: aus Gründen, die zu klären von entscheidender Bedeutung sein wird. Übersprungen wurde dabei natürlich auch die doch erhebliche Anzahl der Griech*innen, die nicht mit „OXI“ gestimmt haben und insofern einen „Grexit“ entschieden abgelehnt hätten – ein Votum, dass Syriza zur Kenntnis nehmen musste. Andere Stimmen hielten dem deshalb entgegen, dass den griechischen Genoss*innen und uns allen stattdessen ein „Plan A“ gefehlt hat, der kein griechischer, sondern ein europäischer Plan hätte sein müssen. Ihm wäre es darum gegangen, sich der Berliner und Brüsseler Machtpolitik nicht bloß in Athen, sondern auch auf deren eigenem Feld entgegen zu stellen: zuerst und vor allem in Deutschland und den anderen Dominanzstaaten der EU.[1] Erst ein relevanter Widerstand im Herzen der Bestie hätte der Idee Syrizas zum Durchbruch verhelfen können, die ökonomisch-politische Krise Griechenlands erst einmal zur Krise der ganzen EU zu machen. Weil es diesen Widerstand, diese praktische Solidarität nur in ersten Ansätzen (etwa dem des Blockupy-Bündnisses) gab, ging der Kampf Syrizas (vorerst) verloren.
Will die Linke diese bittere Einsicht strategisch wenden, muss sie den angesichts der Globalisierung des Kapitals längst fälligen Übergang zu einer transnationalen Politik weiter forcieren. Aus der Vielzahl der dabei anzugehenden Probleme seien zwei gleich an dieser Stelle genannt. Das erste liegt darin, sich strategisch trotz einer sich im Wochen- und Monats-Rhythmus überschlagenden Krisendynamik auf einen mehrjährigen Prozess einlassen zu müssen, um sich wenigstens perspektivisch aus der Defensive zu befreien. Das zweite Problem liegt darin, dass der Übergang zu einer transnationalen Politik zunächst auf nationaler und lokaler Ebene und darum in jeweils unterschiedlicher Weise angegangen werden muss. Deshalb kehren die folgenden Notizen immer wieder auf die deutschen Verhältnisse zurück.

Was nicht war, muss jetzt werden

Der Plan A ist zwischenzeitlich immer dringlicher geworden. Denn schon während des Scheiterns des griechischen Aufbruchs verlagerte sich der Fokus der politischen Auseinandersetzung auf die Erschütterung des EU-Machtgefüges durch die Bewegung der Geflüchteten. Hatten sich von Jahresbeginn 2015 bis zum September immerhin bereits 700.000 Menschen den Zugang nach Europa erstritten, kamen allein in den sechs folgenden Wochen über 400.000 weitere hinzu. Sie hebelten so das Dublin-Regime von unten aus – Tendenz bis heute ungebrochen. Nachdem Bundeskanzlerin Merkel den Geflüchteten (wohl im Vollzug eines politischen Lapsus) wenigstens die deutschen Grenzen öffnete, formierte sich, was seither „Willkommensbewegung“ genannt wird: eine Masseninitiative spontaner Solidarität, die Neuankömmlingen die Gastfreundschaft anbietet, zu der der neoliberal umgerüstete Staat weder willens noch in der Lage ist. Ebenso schnell formierte sich allerdings eine zweite Antwort, zu der sich ein brandschatzender rassistischer Mob mit der Pegida-Bewegung und maßgeblichen Teilen der politischen und medialen Eliten zusammenfand. Mit Unterstützung der Sozialdemokratie und der Zustimmung von Landesregierungen unter grüner Beteiligung wurde das sowieso schon zerschundene Asylrecht weiter ausgehöhlt. Den Gipfel der Infamie wie der unverhohlenen Gewaltbereitschaft markieren die Charaktermasken des Unheils, für die sogar Afghanistan ein „sicheres Herkunftsland“ ist.
In diese Situation intervenierte schließlich ein zum „Islamischen Staat“ (IS) gerechnetes Kommando junger Dschihadist*innen französischer und belgischer Herkunft und ermordete am 13. November in Paris an acht verschiedenen Orten brutal 130 Menschen. Die längst im freien Fall in die Abwahl befindliche Regierung Hollande nutzte das Gemetzel und warf sich nach Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustands zur Kriegsherr*in eines intensivierten „Krieges gegen den Terror“ auf, dessen Preis mit dem Kollateraltod hunderter, wenn nicht tausender Zivilist*innen und einer Eskalation der militärischen Auseinandersetzung bezahlt werden wird. Die damit noch einmal beschleunigte Krisendynamik wird sich weiter überstürzen, wenn es (was eher naheliegend als unwahrscheinlich ist) zu neuen Anschlägen in Europas Metropolen kommt; auch hier gilt es, in einer mehrjährigen Frist zu denken.
Im Übergang zum anti-terroristischen Ausnahmezustand können sich die Führungsstäbe der EU auf klassenübergreifende Zwei-Drittel-Mehrheiten stützen. Das war schon in der Niederzwingung der Syriza-Regierung und bei der Schleifung des Asylrechts der Fall und ist, von links betrachtet, das kardinale Problem. Kardinal (also grundlegend und vor allem: ausschlaggebend) ist dieses Problem, weil es sich gleich drei Faktoren verdankt. Der erste liegt in der systematischen Entpolitisierung nicht nur der europäischen, sondern der Weltverhältnisse nach dem Zusammenbruch sämtlicher Sozialismen des 20. Jahrhunderts. Der zweite liegt im seither ungebrochenen Ausgriff des Kapitals eben nicht mehr nur auf die Arbeit, sondern auf das Ganze des Lebens und der Welt. Verstärkt werden beide Faktoren drittens durch die Rückschläge der düsteren Zukunftsperspektiven dieses Kapitalismus in die Subjektivität der Unterworfenen. In unseren Gesellschaften führt das zu der sich selbst als „realistisch“ verstehenden, wenn auch latent verzweifelten Zustimmung der Meisten zu einem Krisen- und Kriegsregime, dessen letztes Versprechen die Sicherung „unserer“ Grenzen zu den ringsum näher rückenden Zusammenbruchs- und Verwüstungsregionen ist. Die systematische Entpolitisierung durch einen alternativlos gewordenen Kapitalismus und der Überlebensrealismus der Mehrheitsgesellschaft begründen die Metastabilität der neoliberalen Un-Ordnung: den Umstand, dass sie sich nicht trotz, sondern gerade durch ihre zunehmende Instabilität erhält. Sie begründen damit aber auch, worum es im Plan A gehen wird: Er wird der Plan sein, auf den sich zunächst einmal die Minderheiten einigen, die sich dem neoliberalen Konsens verweigern. Das ist nicht viel, aber auch nicht nichts.

Das andere Drittel

Wo also bleibt das Positive? Von links kann diese Frage nur im Verweis auf das ereignisoffene Potenzial sozialer Kämpfe beantwortet werden, das heute in den vielstimmigen Widerständen gegen kapitalistische Globalisierung liegt. Kann deren erster Zyklus auf die Demonstration von Seattle 1999 datiert werden, beginnt ihr zweiter Zyklus 2010 im Arabischen Frühling und den „occupy“-Bewegungen. Das Potenzial dieses heute noch fortdauernden Zyklus liegt weniger in dem, was er lokal zu erreichen vermochte, im Gegenteil: die meisten dieser Kämpfe gingen verloren, manche – Libyen, Syrien – in wortwörtlich katastrophaler Weise. Bemerkenswert aber bleibt der Umstand, dass die politische Form der mehr oder minder spontanen, massenhaften Platzbesetzung binnen zwei, drei Jahren weltweit aufgegriffen und von ganz unterschiedlichen Subjekten politisiert wurde. Das ist nicht zuletzt deshalb von strategischer Bedeutung, als das neoliberale „Ende der Geschichte“ die Form des massenhaften spontan Aufstands definitiv der abgeschlossenen Vergangenheit zuweisen wollte: ein fundamentaler Irrtum, wie wir heute wissen. Zwar schwächt sich der Zyklus selbst seit 2013 ab, doch hat er noch im Abschwung zu signifikanten Wahlerfolgen neuer oder transformierter linker Parteien in gleich mehreren Ländern auch der EU geführt: Syriza selbst war dafür ja nur das bislang erfolgreichste Beispiel. Ähnliche Entwicklungen bahnen sich in Spanien, Portugal, Irland, Schottland, vielleicht in ganz Großbritannien an.
Für einen Plan A ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass das auch und gerade für die deutschen Verhältnisse gelten könnte, an deren Metastabilität die innere Machtkonstellation der EU hängt. Obwohl an der Zweidrittel-Mehrheit der Großen Koalition kein Weg vorbeiführt, bleibt doch strategisch anzuerkennen, dass sich das dritte Drittel dieser Gesellschaft abseits hält. Dabei beziehe ich mich nur zum Teil auf die drastisch zunehmende Zahl derer, die sich durch Stimmenenthaltung verweigern: Mit ihnen wäre das Lager des Nein zwar noch einmal größer, doch tendieren viele „Politikverdrossene“ eher nach rechts als nach links. Vielmehr meine ich die hochgeschätzt 30%, niedrig geschätzt an die 20% derer, die sich bei verschiedenen Anlässen ausdrücklich links der Zweidrittelgesellschaft positioniert haben und dies auch heute noch tun.
Will man dieses Drittel zunächst einmal in der Zahl plausibel machen, wäre an das Jahr 2010 zu erinnern. Damals lag eine Ablösung der christliberalen durch eine rot-grün-rote Koalition mit einer prognostizierten fifty-fifty-Aufteilung der Wähler*innenstimmen vorübergehend in der Luft. Natürlich heißt das nicht, dass die Hälfte der deutschen Gesellschaft zu einer Linkswende bereit gewesen wäre: erstens wäre eine rot-grün-rote Koalition trotz Beteiligung der LINKEN keine Linksregierung gewesen, und zweitens war der Anteil derer, die ebenso gut für rot-schwarz oder schwarz-grün votiert hätten, schon damals nicht zu unterschätzen. Und dennoch: zieht man letztere großzügig von der Gesamtstimmenzahl der rot-grün-roten Parteien ab, gerät genau das dissidente Drittel in den Blick, von dem im Folgenden die Rede ist. Dieses Milieu, halten wir das als erstes fest, ist deutlich größer als die organisierte oder aktivistische Linke.
Dabei macht sich dieses Drittel nicht nur passiv-elektoral bei Umfragen oder Wahlen bemerkbar, sondern hat sich während der Griechenland-Krise und aktuell in der völlig unerwarteten Willkommensbewegung auch aktiv zu Wort gemeldet. Dazu gehört, dass die oft spontanen Anti-Pegida-Demonstrationen in der Regel deutlich stärker sind als die rechten Zusammenrottungen, denen sie sich in den Weg stellen. Allerdings ist genau an dieser Stelle bereits der wichtigste Vorbehalt zu nennen: es fehlt diesem Drittel offensichtlich eine gemeinsame Stimme, d.h. die politische Artikulation, mit der es zum „Lager“ oder zum „Block“ einer Gegenmacht würde. Anders gesagt: das dissidente Drittel dieser Gesellschaft ist in sich und in seinen Verbindungen zu anderen Milieus diffus, seine Zusammensetzung wechselt je nach Anlass, es verfügt über keine gemeinsamen Orte, keine gemeinsame Agenda, keinen gemeinsamen strategischen Entwurf. Es ist also, auf den Punkt gebracht, weit entfernt davon, ein politisches Subjekt zu sein. Und trotzdem: Nimmt man zur Kenntnis, was die Willkommensbewegung aus dem Stand zu tun in der Lage war und ist, wird ein gesellschaftliches Potenzial sichtbar, das auszuloten bleibt.
Das bestätigt sich in der Zusammensetzung des Milieus, das wenigstens zur Hälfte in den Mittelklassen situiert ist. Von Bedeutung ist das insoweit, als seine Protagonist*innen deshalb gar nicht unmittelbar zur Parteinahme gedrängt werden, sondern eher aus einem moralischen, wenn nicht aus einem explizit politischen Impuls heraus handeln. Im Vorgriff auf mein erst noch einzuführendes Hauptargument gesprochen: Gerade weil sie nicht aus materiellem Eigeninteresse Partei ergreifen, haben sie offensichtlich eine Idee von dem, was sie tun oder tun wollen. Interessanterweise gilt das auch für diejenigen, die aus weniger gut abgesicherten Positionen kommen: in der Willkommensbewegung prominent von Leuten migrantischen Hintergrunds. Es gilt natürlich auch von den Linken, die für die Solidaritätsarbeit an der Seite der Geflüchteten spontan aus ihren Routinen ausgestiegen sind. Strategisch gefasst heißt das nicht weniger, als das wir von (und mit) Leuten sprechen, deren gesellschaftliche Bedeutung auf gar keinen Fall unterschätzt werden darf. Finden sie eine gemeinsame politische Artikulation, dann wird in den herrschenden Verhältnissen absehbar mehr nach links rücken als nur dieses Drittel. Wenn es einen Plan A geben wird, dann hängt er maßgeblich an diesem, seinem subjektiven Faktor.

Erste Auslotung eines Versprechens

Sehen wir deshalb genauer hin: Das schon zur Griechenland-Krise vernehmbare und in seinem Verhältnis zur Bewegung der Geflüchteten noch deutlicher hör- und sichtbar gewordene dissidente Drittel ist nicht „links“ im Sinn einer aktiven Zustimmung zu den theoretischen Kategorien, den strategischen Hypothesen und der überlieferten Programmatik der traditionellen Linken, weder der moderaten noch der radikalen. Schärfer noch: Die Organisationen und Diskurse, die Rhetorik und das Auftreten von Linken sind für dieses Drittel kein wirklich attraktiver Bezugspunkt. Dem widerspricht nicht, dass gar nicht so wenige selbst aus dieser Linken stammen und ihr im Wahlverhalten oder sonst wie aus der Ferne verbunden geblieben sind. Kenntlich würde die Distanz, fragte man sie, ob sie der Linken die Fähigkeit zu einer relevanten Veränderung der bestehenden Verhältnisse zutrauen: das tun sie nicht, so wenig übrigens wie die meisten Linken. Damit konkretisiert sich eine nächste Bestimmung der möglichen politischen Artikulation des Drittels: findet die dissidente Minderheit dieser Gesellschaft eine gemeinsame Stimme, dann wird das zwar eine linke Artikulation, aber keine Artikulation (nur) von Linken sein.
Sie wird links sein, weil sie die Griechenland-Krise, die von den Geflüchteten geschaffene Krise und die vom – wie am – islamistischen Terror exekutierte Krise als ebenso viele Krisen des Sozialen und damit „irgendwie“ des Kapitalismus erfährt. Dem entspricht dann, dass sie mögliche Lösungen dieser Krisen in der Lösung sozialer Fragen sucht – man kann an dieser Stelle nicht nur auf die 250.000 Teilnehmer*innen der Berliner Anti-TTIP-Demonstration, sondern auch auf die 3,3 Millionen Unterschriften verweisen, die binnen eines Jahres europaweit gegen das Abkommen gesammelt wurden.
Nur eine Minderheit dieser Minderheit aber würde die Lösung der sozialen Fragen heute noch in der Klassenfrage suchen. Nicht, dass der Klassencharakter der bestehenden Verhältnisse verkannt oder übergangen würde – dass wir in Klassenverhältnissen leben, ist ja mitgemeint, wenn der Grund aller Krisen im Kapitalismus ausgemacht wird. Würde man aber sagen, dass deren Lösung an der Arbeiter*innenklasse hängt, könnte man kaum auf Zustimmung rechnen. Das bestätigte sich, würde man dem die These unterlegen, dass die Arbeiter*innenklasse ein objektives Interesse an der eigenen und darin der Emanzipation aller habe, das sich subjektiv-praktisch in der Macht bewähre, alle Räder zum Stillstand zu bringen: fände man überhaupt Zuhörer*innen, schlüge einem bestenfalls milde Ironie entgegen. Im Vorausblick auf einen Plan A darf dieser „Abschied vom Proletariat“ (Gorz) nicht mehr als Schwäche, sondern muss als erfahrungsgesättigte Stärke gewertet werden. Sie ist das, was das dissidente Drittel nicht wenigen bekennenden Linken voraus hat.
Dazu gehört, dass die sozialen Fragen in einem radikalen, hier noch zu klärenden Sinn als Demokratiefragen, d.h. als politische Fragen im eminenten Sinn des Worts gestellt werden. Dass darin ein kategorial wie im Konkreten entscheidender Fortschritt liegt, wird in den ökologischen Krisen zum Tragen kommen: Sie sind heute einerseits das Ferment aller anderen Krisen, und sind andererseits Krisen, die nur gelöst werden können, wenn ihr universeller, jede und jeden einzelnen von uns betreffender Charakter begriffen wird. Dem Verweis auf die TTIP-Demonstration entspricht hier ein Verweis auf den Leipziger Postwachstumskongress, zu dem im September 2014 3000 Teilnehmer*innen zusammenkamen. Weil die meisten von ihnen heute schon der Einsicht folgen, dass die Ökologie nicht partikular, sondern nur im (politisch erst zu schaffenden) „Gattungsinteresse“ politisiert werden kann, könnte ihnen in einer neuen Linken eine maßgebliche Rolle zukommen.
Mit der Orientierung an der Demokratiefrage steht das dissidente Drittel in der Perspektive der sozialen Kämpfe der letzten drei Jahrzehnte, die sich meist als Demokratiekämpfe, als Kämpfe um „wirkliche“, „echte“ oder „wahre“ Demokratie (democracia real ya!) verstanden haben. Wem das spanisch vorkommt, der trifft ins Schwarze: offen ausgesprochen und massenwirksam zur Losung erhoben wurde dieser Punkt zuletzt in den spanischen Platzbesetzungen und in der anfänglichen Zurückweisung nahezu sämtlicher linker Organisationen durch die Aktivist*innen der M15-Bewegung. Dass die Selbstverortung „jenseits der Rechten und der Linken“ nicht unproblematisch ist, hat sich dann allerdings am Verhältnis zwischen der traditionslinken Izquierda Unida (IU) und der nicht-linken/nicht-rechten Podemos gezeigt: Zum Nachteil beider Seiten wurde dieses Verhältnis erst von der IU, dann von der Podemos-Führung zerrüttet.[2] Dennoch kommt der spanischen Entwicklung vielleicht eine beispielhafte Rolle für mögliche deutsche Entwicklungen zu, besonders dann, wenn man dazu einen Seitenblick auf die jüngsten politischen Wendungen in Portugal wirft.

Wahre Demokratie

Historisch gesehen hat sich der Primat der Demokratiefrage zuerst in den Massenbewegungen manifestiert, die den Zusammenbruch der real existierenden Sozialismen beschleunigt haben. Seither bestimmt er nahezu alle sozialen Kämpfe, vom Aufstand der Zapatist*innen bis zu den globalen Millionenprotesten in der Folge des Arabischen Frühlings. Dabei zielt die Forderung nach „Demokratie jetzt“ weder nur auf eine repräsentative Parteien- und Parlamentsdemokratie noch nur auf eine direkte Plenar- oder Basisdemokratie. Vielmehr ist „wahre Demokratie“ zum universellen Namen zugleich für die Benennung, die Untersuchung, die Anklage, das aktive Aufbrechen und die letztendliche Überwindung aller Herrschafts-, Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnisse geworden. Demokratie soll radikal nicht-exklusiv und nicht-diskriminierend sein und setzt deshalb auf die Zustimmung von potenziell allen und einer jeden. Derart entgrenzt und radikalisiert, lässt die Demokratieforderung niemanden ungeschoren, weil jeder und jede, die einem Demokratisierungsprozess beitritt, schon damit begonnen hat, zu jemand anderem zu werden. Kommt in dieser Bewegung untergründig auch das Erbe des Mai 68 und seiner „Autonomien in erster Person“ zum Tragen, bleibt auch hier festzuhalten, dass Klassenfragen dabei nicht übersprungen werden dürfen, sich aber nur noch als Fragen unter anderen Fragen stellen.
In Deutschland erinnert diese Positionsbestimmung nicht zufällig an die Gründungsphase der Grünen Partei. Auch damals wurde ein Ausbruch aus leerlaufenden linken Routinen gesucht. Auch damals verdichtete sich die in der Sache zweifellos linke Dissidenz abseits traditionslinker Spieleinsätze: im Feminismus, in der Ökologie, in den Widerständen gegen Disziplinarinstitutionen aller Art – von der Familie über die Schulen, Kasernen, Gefängnisse und die Verwahranstalten für abweichende oder randseitige Subjekte bis zur Architektur und zum Städtebau. Auch damals ging es eher um die Reformation von Lebensweisen als um Reform und/oder Revolution im Kampf um Staatsapparate. Begab man sich auf alte Terrains der Linken, ging es dort weniger um Lohnkämpfe und innerbetriebliche Aushandlungen als um Forderungen wie die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, die der Rest-Arbeiter*innenbewegung noch heute suspekt sind. Dem entsprach die Zurücksetzung des Klassenkampfs im eigenen Land unter Berufung auf anti- oder postkoloniale Befreiungskämpfe in Afrika, Asien und Lateinamerika. Deren Prominenz verdankte sich auch dem Umstand, dass sich diese Kämpfe der Zustimmung europäischer Arbeiter*innenklassen nicht sicher sein konnten: ein innerproletarisches Machtverhältnis, das schon Lenin und Luxemburg verzweifeln ließ, zwischenzeitlich aber dramatisch an Aktualität gewonnen hat.
Der Unterschied zwischen den 1980er Jahren und heute besteht allerdings darin, dass die Grüne Partei und die Restposten der Neuen Sozialen Bewegungen längst selbst Teil des Problems geworden und deshalb nur noch bedingt Teil der Lösung sind. Das wiederum zeigt sich auch und nicht zuletzt im Aufstieg der LINKEN, der sich eben nicht nur ehemaligen SED-Mitgliedern oder von der SPD frustrierten Gewerkschaftler*innen verdankt. Allerdings gilt auch von der LINKEN, dass sie nur insoweit Teil der Lösung ist, als sie zugleich Teil des Problems ist. Im dissidenten Drittel spiegelt sich das in einer kuriosen, vielleicht aber produktiv aufzulösenden Konfusion: Nicht wenige seiner Protagonist*innen sind zwar noch immer Wähler*innen der Grünen, gestehen bei genauerer Prüfung aber zu, eigentlich näher bei der LINKEN zu sein, der sie aus eher kulturellen Gründen dennoch nicht beitreten wollen. Die SPD kommt für sie nur noch insoweit in Betracht, als ratlos anerkannt wird, in Bezug auf mögliche Wahlmehrheiten trotz allem ohne sie nicht auszukommen.

Strategisch-taktisches Zwischenstück

Für den Plan A heißt das zunächst einmal, dass vom rot-grün-roten Farbenspiel noch nicht abgesehen kann, soll eine linke Wendung der europäische Krise auch und gerade in den deutschen Verhältnissen gesucht werden. Allerdings steht rot-grün-rot dann weniger für eine parteipolitische als für eine gesellschaftliche Konstellation: für die Vierte Kraft, in der sich das dissidente Drittel politisch artikulieren könnte. Nach Lage der Dinge wird es sich dabei um eine Organisation oder eine Organisierung neuen, wenn auch nicht gänzlich neuen Typs handeln: auf Podemos wurde schon verwiesen, inspirierend könnte auch ein (eher auf die Form als auf den Inhalt gerichteter) Rückblick auf attac und die Sozialforen in den frühen 2000er Jahren sein. Nicht zu vernachlässigen ist natürlich das noch lange nicht ausgeschöpfte Potenzial der sozialen Netzwerke wie überhaupt der elektronischen Kommunikation: es reicht, dazu auf die Rolle der Handys in der Bewegung der Geflüchteten zu erinnern.
Auch wenn bei Vierter Kraft eher nicht an eine vierte Partei des rot-grün-roten Spektrums zu denken ist, liegt es nahe, Kapital aus dem Umstand zu schlagen, dass sie de facto in Konkurrenz zur SPD, zu den Grünen und wohl auch zu den LINKEN stünde und deshalb über ein erhebliches Drohpotenzial verfügen könnte. Aus der Gründungsphase der Grünen bleibt zu erinnern, dass die Rechtsform „sonstige politische Vereinigung“ auch Nicht-Parteien die Kandidatur bei Parlamentswahlen erlaubt.
In der Sache aber müsste sich diese Organisation oder Organisierung zumuten, im rot-grün-roten Lager die programmatische und strategische Führung übernehmen zu wollen und es damit überhaupt erst zu einem „Lager“ zu machen. Dabei wäre das Farbenspiel selbst neu zu definieren: das erste Rot bezeichnete dann seine antikapitalistische Tendenz, grün stünde für alle politischen Begehren, die sich historisch dem Mai 68 verdanken, und im zweiten Rot verdichtete sich der pragmatisch unerlässliche Ernst, von links her Einfluss auf die „Mitte der Gesellschaft“ nehmen zu wollen. Strategisch auf den Punkt gebracht, stellte die Vierte Kraft damit noch nicht die Macht-, wohl aber die Frage nach einer Regierung, die einer Veränderung (nicht nur) der deutschen Verhältnisse wenigstens zuarbeiten könnte. Im Rückblick auf den Staatsstreich gegen Syriza lässt sich ahnen, was dabei gewonnen werden könnte.

Die Probe auf den Ernstfall

Zeit für den vielleicht wichtigsten Vorbehalt gegen den Plan A: Markiert er nicht, traditionslinks gesprochen, ein zutiefst kleinbürgerliches politisches Projekt – ein Projekt der Mittelklassen? Entspringt er nicht einer Überhöhung des an sich unstrittigen Faktums, dass die Demokratiekämpfe der letzten Jahrzehnte weltweit von den Mittelklassen dominiert wurden?
Ja und nein. Was empirisch stimmt, geht kategorial am eigentlichen Punkt vorbei. Denn wenn ich von einer Depotenzierung der Klassenfrage gesprochen habe, ging es mir nicht (nur) um eine nüchterne Einschätzung der historischen Arbeiter*innenklasse und die Revision ihrer kategorialen Überhöhung in der marxistischen Theoriebildung. Es ging mir stattdessen um eine Kritik ausnahmslos jedes Versuchs, den subjektiven Faktor gesellschaftlicher Veränderung „objektiv“ in einer besonderen sozialen Gruppe zu identifizieren: die Mittelklassen sind da nicht besser und nicht schlechter als die Arbeiter*innenklasse, und sie werden auch nicht einlösen, was vergeblich von den „kämpfenden Völkern“ des Südens, von den Frauen, den jungen Generationen oder den „Randgruppen“ erhofft wurde. Deshalb ist wenig gewonnen, wenn an die Stelle des proletarischen Klassenkampfs jetzt die „Revolte der Mittelklassen“ (Kagarlitzki) gerückt würde. Vielmehr muss es darum gehen, den subjektiven Faktor gesellschaftlicher Transformation in einer sehr viel abstrakteren und kategorial tiefer gelegten Weise zu bestimmen. Deshalb der voran stehende Abschnitt zur democracia real ya, in dem ich nach dem subjektiven Faktor gesellschaftlicher Veränderung gefragt habe. Die im Folgenden zu vertiefende Antwort suche ich in einer Demokratisierungsgeschichte, die sich als Prozess, Institution wie als gelebter Habitus an ausnahmslos alle und an jede einzelne adressiert und von dieser universellen Adresse seit Jahrhunderten schon von einer Demokratisierung zur nächsten getrieben wird. Das heißt nicht, dass hier von einem anonymen, zuletzt subjektlosen Geschehen die Rede wäre. Im Gegenteil: Die Antwort auf die Frage nach dem subjektiven Faktor kann nur deshalb in einer Repolitisierung dieser Demokratisierungsgeschichte gesucht werden, weil diese Geschichte von konkreten, historisch situierten Subjekten gemacht wurde. Dennoch bleibt hier ein Zirkel zu denken: in genau dem Maß, in dem die wahre Demokratie nur das sein kann, was ihre Subjektivitäten aus ihr machen, finden umgekehrt diese Subjektivitäten ihre eigene Bestimmung erst in dem Augenblick, in dem sie je auf ihre besondere Weise zu Subjekten eines Demokratisierungsprozesses werden. Dies wiederum ist so, weil sie bis dahin primär das sind, was die herrschenden Verhältnisse aus ihnen gemacht haben. Mit den historisch überkommenen Theorien privilegierter „revolutionärer Subjekte“ war zumindest anfangs nichts anderes gemeint: die objektivistische Verdinglichung schlich sich immer erst später ein.
Gerade darum aber findet die politische Artikulation wahrer Demokratie in der Konstellation des Anti-Terror-Kriegs ihre doppelte Bewährungsprobe. Die erste ergibt sich zunächst aus dem Druck der beiden Kriegsparteien, unter dem sie unvermeidlich in eine extreme Schieflage gerät. Denn im Anti-Terror-Krieg droht Demokratie schon deshalb „westlich“ vereinnahmt zu werden, weil dieser Krieg erklärtermaßen in ihrem und im Namen der Menschenrechte und also der „westlichen Werte“ geführt wird. Die Vereinnahmung funktioniert umso besser, weil sie von der fundamentalistischen Gegenseite ausdrücklich bestätigt wird, die ihren Kampf gegen den Westen passenderweise als Kampf gegen Demokratie und Menschenrecht führt. Sie funktioniert aber auch, das ist der schwierigste Punkt, weil der Widerspruch zwischen der real existierenden „westlichen“ und der nur weltweit zu denkenden „wahren“ Demokratie trotz seiner Schärfe ein innerer Widerspruch ist, während der Widerspruch zum Fundamentalismus ein äußerer, gänzlich unvermittelbarer ist: ein Verhältnis, das dem Widerspruch von Demokratie und Faschismus ähnelt. Wer dafür ein handgreifliches Beispiel will, der denke an das kurdische Rojava, dessen Demokratisierungsbewegung im Kampf gegen den IS auf die Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe zurückgreift. Der Kern des Problems liegt darin, dass diese Allianz eben nicht einfach nach der Logik funktioniert, in der der Feind meines Feindes mein Freund ist: so einfach ist das leider nicht.
Die Dringlichkeit einer Befreiung der wahren Demokratie aus dem Zangengriff von Terror und Anti-Terror-Krieg wird noch deutlicher, wenn man die aktuellen Krisenszenarien um ein oder zwei Jahrzehnte in die Zukunft verlängert und sich zugleich Rechenschaft ablegt über die Herkunft dieser Krisen aus Jahrhunderten westlichen Kolonialismus und Imperialismus: Wie werden sich die konkreten Subjekte wahrer Demokratie entscheiden, wenn es weitere, auch heftigere Anschläge gibt und die weltweiten Fluchten infolge verwildernder Gewalt, wachsender Verelendung und ökologischer Verwüstungen weiter ansteigen? Wie wird sich, konkreter gefasst, das dissidente Drittel der deutschen Gesellschaft dann verhalten – wird von ihm überhaupt noch die Rede sein? Wird es sich mit schwarz-roten oder schwarz-grünen „Lösungen“ zufrieden geben, damit wenigstens die Metastabilität der deutschen Verhältnisse erhalten wird: „Ruhe und Ordnung“?

Wahrheits- und Ideenpolitik I

Natürlich kann die Antwort auf diese Frage nur praktisch gegeben werden. Links aber wird sie nur dann sein, wenn sie im barbarischen Doppel von Anti-Terror-Krieg (westlichem Imperialismus) und fundamentalistischem Terror (religiös, wenn auch nicht nur islamistisch grundiertem Antiimperialismus) eine Dritte Front eröffnet. An dieser Front wird dann allerdings auch ein kategorialer Kampf zu führen sein, den ich im Anschluss an postmarxistische Philosophien als einen „wahrheits-“ oder „ideenpolitischen“ Kampf bezeichne.[3] In ihm wird es um die (leider auch von „links“ betriebene) Reduktion der Demokratie und der Menschenrechte zu vorgeblich bloß „westlichen Werten“ und damit überhaupt um „Werte“ gehen müssen, radikal verstanden also um Ideen und Wahrheiten. Mit dieser Wendung wird deutlich, warum ich eingangs gesagt habe, dass es einen Plan A nur geben wird, wenn wir uns immer auch von der unmittelbaren Aktualität ablösen und uns auf eine mehrjährige Frist des Nachdenkens und Ausprobierens einlassen.
Weil es dabei aber nicht bloß um eine Sache des Kopfes, sondern um den zutiefst materiellen, immer auch handgreiflichen Prozess der (im weitesten Sinn des Wortes zu verstehenden) Bildung von Subjekten geht, komme ich noch einmal auf das Gemetzel im Pariser Bataclan zurück. Man hat dabei recht schnell von einer „Jugendrevolte“ gesprochen, in der Jugend auf Jugend geschossen hat. Man ist damit endlich von der rassistischen Denunziation abgerückt, nach der fundamentalistische Gewalttäter*innen Analphabet*innen aus fernen Ländern seien, die sich und andere in die Luft sprengen, um sich im Paradies mit 72 Jungfrauen vergnügen zu können. Man hat endlich anerkannt, dass der IS wie zuvor schon al-Qaida in steigendem Maß Subjekte anzieht und aktiviert, die inmitten europäischer Demokratien aufgewachsen sind, doch von diesen Demokratien systematisch missachtet werden: Leute, die nur um die Ecke, wenn auch in den Stadtvierteln wohnen, die viele nur vom Vorbeifahren kennen. Man hat diesen Ausschluss mit dem fortdauernden Kolonialismus und Rassismus, damit aber mit dem Kapitalismus und zuletzt mit dessen neoliberaler Radikalisierung in Verbindung gebracht. Man fordert deshalb eine Lösung der sozialen Fragen, die diesem Ausschluss zugrunde liegen. All’ das ist richtig. Trotzdem gilt es gerade hier, einen, den entscheidenden Schritt weiter zu gehen.
Einen ersten Hinweis dazu gibt der amerikanische Autor Peter van Buren, der nach der US-Intervention im Irak sog. „Provincial Reconstruction Teams“ geleitet hat. Van Buren schreibt: „Verstehen wir den Krieg endlich als das, was er ist – als einen Krieg, der gegen Ideen geführt wird, religiöse, anti-westliche, antiimperialistische Ideen. Verstehen wir, dass man Ideen nicht bombardieren kann. Westliche Truppen auf dem Boden des Mittleren Ostens und westliche Flugzeuge im Himmel darüber fachen das Feuer nur an. Vergeltung kann und wird niemals eine Idee auslöschen.“ Ähnlich äußert sich der in Paris lehrende und forschende us-amerikanische Ethnologe Scott Atran in einem äußerst lesenswerten Spiegel-Interview. Ohne zu bestreiten, dass der IS eine bestialisch operierende Organisation ist, heißt es dort in nur scheinbar provokativer Wendung: „Der IS ist eine freudvolle Bewegung. Er setzt unserer Lethargie eine Verheißung entgegen. (…) Wir sollten uns eingestehen, dass unsere Kultur in einer Krise ist. Unsere Vorstellung, dass die Menschen schon gesättigt sind, wenn sie in einer Shoppingmall einkaufen und im Café sitzen können oder eine sichere 40-Stunden-Woche haben, ist zum Irrglauben geworden. (…) Wir befinden uns in einem Krieg der Ideen.“[5]
Vertieft werden beide Positionen schließlich durch eine Studie, die der in London lehrende Politikwissenschaftler Adam Hanieh in dem Onlinemagazin Jacobin veröffentlicht hat. Hanieh zeigt, dass die dschihadistische Gewalt einer radikalen Ethik existenzieller Authentizität und einem utopischen Gesellschaftsentwurf folgt, den der IS in einem realpolitischen Staatsgründungsprojekt tatsächlich umzusetzen versucht. Alle drei Elemente – die Ethik existenzieller Authentizität, die Gesellschaftsutopie und die Staatsgründung – entwickelt Hanieh aus dem Scheitern des Arabischen Frühlings als eines Versuchs der Befreiung aus kolonialer und postkolonialer Unterwerfung; er zeigt damit an, wo und wie nach einer Lösung zu suchen sein wird.[6]
Um zu verstehen, wovon van Buren, Atran und Hanieh sprechen, müssen wir noch einen Schritt zurückgehen. Wir müssen fragen, wie eigentlich ein Ausschluss funktioniert, der dem Widerstand der Ausgeschlossenen scheinbar keine andere Wahl als die einer barbarischen politischen Theologie lässt, die Wahl also eines Angriffs auf das Ganze des Diesseits von der Idee eines religiösen Jenseits her. Wir müssen also fragen, wie eine Gesellschaft, eine Welt verfasst ist, die eine Jugendrevolte zum Rückgriff auf eine religiöse Idee nötigt, die den Revoltierenden selbst vor kurzem noch so fremd war wie denen, die sie im Namen dieser Idee niedermetzeln.
Natürlich hat das mit ihrer materiellen sozialen Situation zu tun, mit dem Vorenthalt oder gar Raub jeden Zugangs zu den materiellen und ideellen Privilegien der weißen „Mitte der Gesellschaft“ – den Zugang zu ihren Shoppingmalls, Cafés und Konzerthallen eingeschlossen. Doch legen dieser Vorenthalt und diese Beraubung bloß für sich genommen den Griff zur roten Fahne näher: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ Warum aber, das ist die entscheidende Frage, machen sich in Paris, Brüssel oder Berlin aufgewachsene Jugendliche und junge Erwachsene stattdessen zu Verdammten des Himmels? Warum gilt das nicht nur für einige wenige „Extremist*innen“, sondern mittlerweile für Zehntausende, d.h. für eine soziale Bewegung? Eine Bewegung, die übrigens unterschätzt würde, reduzierte man sie auf eine Revolte nur der jungen Generationen.

Wahrheits- und Ideenpolitik II

Eine Antwort findet sich im ideen- oder wahrheitspolitischen Kern des Neoliberalismus. Entgegen einer verbreiteten Annahme liegt er weder in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Doktrin noch in seinem wettbewerbsindividualistischen Freiheitsversprechen. Der Kern des Neoliberalismus liegt vielmehr in einer umfassenden, selbst wieder kategorialen Deutung unserer Gegenwart, mithin unserer Welt. Dieser Weltdeutung zufolge ist die westliche kapitalistische Demokratie im Ende des letzten Jahrhunderts zur alternativlosen und derart einzig möglichen Weltordnung geworden. Weil das so ist, hat heute nur noch das „Wert“ und kann deshalb auch nur noch das gewählt werden kann, was in den Grenzen dieser Demokratie Wert hat und zur Wahl steht. Ideen, das liegt auf der Hand, gehören dazu nicht, und genau das macht Ideen für diejenigen attraktiv, die selbst auch nicht dazugehören. Der Angriff auf das Bataclan war insofern nicht nur ein Angriff auf das säkulare Vergnügen im Diesseits dieser Welt, er galt nicht einfach nur einer Vergnügungsstätte. Er war ein Angriff auf eine Gesellschaft, die ihren Vergnügungen auch deshalb so viel Raum lässt, weil sie kategorisch ausschließt, jemals zu einer ganz anderen Gesellschaft werden zu können. Dies aber gelingt ihr, indem sie ein solches Anderswerden zu einer „bloßen“ Idee und obendrein zu einer historisch überwundenen Idee erklärt.
Anders gesagt: Die Anschläge von Paris waren ein Angriff auf eine Gesellschaft, deren ganz und gar undialektischer Materialismus in der kategorischen Verleugnung von Ideen besteht – abgesehen natürlich von der Schwundstufe der „westlichen Werte“. Deren Angelpunkt wird nicht zufällig immer wieder in Beschwörungen einer allumfassenden „Toleranz“ ausgemacht, deren existenzielle Bedeutung Atran zu Recht in den Begriff wie in die subjektive Befindlichkeit der „Lethargie“ übersetzt. Näher an der Theologie formuliert: Die seit langem entschlossenste Jugend-, Kultur- und Sozialrevolte hat einer Welt den Heiligen Krieg erklärt, die ihr Diesseits und dessen Vergnügungen zu einem Diesseits erklärt hat, das kein Jenseits, also keine Idee und deshalb auch kein Anderswerden mehr kennt.
Der wahrheits- und ideenpolitische, der kategoriale Punkt, um den es hier geht, liegt dann aber weder in einer Anerkennung fundamentalistischer politischer Theologie noch in der Zustimmung zur lethargischen säkularen Ideenlosigkeit.[7] Er zielt stattdessen auch hier auf die Eröffnung einer Dritten Front. Sie bildet sich überall dort, wo der neoliberale Imperativ „Es gibt keine Alternative – Lebe ohne Idee!“ ebenso zurückgewiesen wird wie die politisch-theologische Idee eines absoluten Herrn und seines apokalyptischen Gesetzes.
An dieser Stelle bin ich allerdings zu einer Präzision meines Begriffs einer Ideen- oder Wahrheitspolitik und eines kategorialen Kampfes genötigt. Denn die Eröffnung einer Dritten Front jenseits der neoliberalen Ideenlosigkeit und der reaktionären Idee des absoluten Herrn kann ja nicht darin liegen, sich einfach eine eigene, irgendwie „passendere“ Idee zurechtzumachen. Vielmehr kann, etwas weniger martialisch, eine solche Dritte Option nur einer Dialektik der beiden Extreme entspringen. Diese Dialektik hätte einerseits darzulegen, dass die neoliberale Ideenlosigkeit selbst einer Idee entspringt, einer Idee allerdings, die im Neoliberalismus korrumpiert, weil zum Machwerk der Herrschaftssicherung herabgesunken ist. Sie hätte andererseits verständlich zu machen, dass der Fundamentalismus des absoluten Herrn genau besehen gar keine Idee, sondern nur das Trugbild einer Idee ist. Damit wären zwei erste und wesentliche Bestimmungen des Begriffs der Idee gewonnen: eine Idee ist etwas, das einerseits zum Machwerk herabsinken und andererseits durch ein Trugbild verstellt werden kann. Im Machwerk verkommt die Idee gleichsam in ihrem eigenen Namen: im Fall des Neoliberalismus also gerade unter Berufung auf die Idee der Freiheit als der Leitidee jeder Demokratie. Im Trugbild wird die Idee wortwörtlich fetischisiert, d.h. auf einen Fetisch (lat. facticius, nachgemacht, künstlich) übertragen. Der islamistische Fundamentalismus bedient sich dazu des Rufs des Propheten an jeden und jede seiner Gläubigen, ein reines und also heiliges Leben zu führen, ein Leben jenseits der Sünde (im christlichen Fundamentalismus geht es entsprechend um den Ruf des Christus, im buddhistischen um den Ruf des Buddha). Dabei wird dem Ruf eine gleichsam magische Macht zur Verwandlung zugleich des Subjekts wie der Welt verliehen – eine Macht, die sich im Enthusiasmus des vom Ruf angesprochenen Gläubigen beweist. Es ist dieses Moment, das Atran wiederum zu Recht als das „freudvolle“ Moment auch und gerade des IS bezeichnet.
Das neoliberale Machwerk und das fundamentalistische Trugbild funktionieren also beide auf eine perfide Weise. Der Neoliberalismus bedient sich der Idee der Freiheit, von der niemand von uns absehen will, weil sie zu der Idee geworden ist, an der alle anderen Ideen – auch die der Gleichheit und der Brüderlichkeit – ihren Grund und ihr Ziel haben. Der Fundamentalismus bedient sich des Umstands, dass sich eine Idee (immer auch) im Enthusiasmus beweist, d.h. in der Stimmung freudiger Erregung und leidenschaftlichen Ernstes, der die Bereitschaft zum entschlossenen Handeln entspringt. Wie von der Freiheit möchte auch vom Enthusiasmus kaum jemand absehen.

Ideen- und Wahrheitspolitik III

Was aber ist dann die Idee selbst – die Idee, die weder Machwerk noch Trugbild wäre? Hier kehrt der Zirkel wieder, in dem ich die universelle Idee einer wahren Demokratie mit historisch lokalisierten Subjekten und ihren jeweiligen Demokratisierungsbewegungen verbunden habe – und andersherum. Denn wenn eine Idee sich dadurch von einer Ideologie (Machwerk oder Trugbild) oder, deutlicher noch, von einer bloßen Meinung unterscheidet, dass sie eine universelle, d.h. jederzeit und überall gültige Wahrheit artikuliert, dann kann sie zumindest heute nicht mehr in einem jenseitigen „Ideenhimmel“ gesucht werden. Genauso wenig darf sie als Äußerung eines den konkreten Subjekten jenseitigen „Weltgeistes“ verstanden werden. Vielmehr kann von einer solchen Idee nur gesprochen werden, sofern sie von konkreten Subjekten erschaffen wurde und von ihnen immer neu bezeugt wird. Darin liegt: der historische Ort einer Idee ist die Subjektivität, die sie in ihrem alltäglichen Leben, Sprechen und Arbeiten wie in ihren Abenteuern und Kämpfen ebenso bezeugt wie in den Institutionen, die diesen Kämpfen entspringen. Zugleich aber gilt – das eben ist der Zirkel – dass die Macht einer Idee darin liegt, die Subjektivitäten allererst hervorzubringen, die für sie Zeugnis ablegen werden. Dies geschieht, indem eine Idee uns den Möglichkeitshorizont aufspannt, in dem wir von bloßen Privatpersonen zu politischen Subjekten im leidenschaftlichen Sinn des Wortes werden können.
In der Politik gibt es eigentlich nur eine solche Idee: die universelle Wahrheit des Politischen selbst, die von der Französischen Revolution in der seither unvergesslichen Losung Liberté, Égalité, Fraternité artikuliert wurde. Sie war und ist allerdings, daran hängt im Folgenden alles, kein „westlicher Wert.“ Prominent belegen lässt sich das im Verweis auf das zweite Jahr der Französischen Revolution, in dem die aufständischen schwarzen Sklav*innen Haitis die Losung des republikanischen Frankreich gegen das republikanische Frankreich kehrten und damit zur Losung der anti- und postkolonialen Demokratisierungsbewegungen erhoben. Ein historisch sehr viel weiter zurückliegendes, doch gleichermaßen prominentes Beispiel verdanken wir dem Spartakusaufstand, in dem die Römische Republik von einer aus Subjekten der ganzen Welt gebildeten Multitude an die damals schon zum Machwerk korrumpierte Idee des Politischen erinnert wurde. Alles andere als ein „westlicher Wert“ war die Idee der Demokratie schließlich – um ein Beispiel aus jüngster Zeit zu wählen – auf dem Tahrirplatz in Kairo. Dort hat die aufständische Menge im Ruf nach dem „Sturz des Regimes“ für sich und für uns alle die universelle Wahrheit des Politischen erneuert, die in den realen Demokratie zum Machwerk herabgesunken ist. Dass die Idee der Demokratie schon auf dem Tahrir in der Gefahr stand, vom Trugbild einer Gemeinschaft der Gläubigen verstellt zu werden, belegt, dass die Grenzen und Übergänge zwischen Idee und Ideologie selbst dann immer neu ausgekämpft werden müssen, wenn die im Kampf bezeugte Wahrheit als solche universell, d.h. jederzeit und überall gültig ist.
Hier liegt auch der Grund, warum ich das spanische democracia real ya in die seltsam zeitverlorene, in gutem Sinn unzeitgemäße und – nicht zuletzt! – bereits von Marx verwendete Wendung einer „wahren“ Demokratie übersetzt habe: einer Demokratie, die die real existierende Demokratie an ihrer eigenen Idee misst und ihr im Namen dieser Idee den Prozess macht.[8] Die Differenz von Realität und Idee ist also, wiederholen wir das, keine Sache bloß des Kopfes, sondern entspringt dem materiellen Prozess oder, genauer noch, dem materiellen Ereignis der (weitesten Sinn des Wortes verstandenen) Bildung eines politischen Subjekts. In diesem Ereignis trennt eine „wirkliche Bewegung“ (Marx) der Demokratisierung im Diesseits der einen Welt zwei Welten voneinander: die ab jetzt vergehende und die ab jetzt heraufziehende, anderswerdende Welt.
Politisch unumgänglich ist diese „idealistische“ Wende insofern, weil unsere Annahme, dass die Lösung der wortwörtlich brennenden Fragen unserer Epoche in ihren sozialen Fragen liegen wird, erst in ihrem Licht verständlich wird. Um noch einmal auf Scott Atran zurückzukommen: „Wenn Menschen sich heiligen Grundsätzen unterworfen haben, lassen sie sich selten mit ökonomischen Angeboten herauskaufen.“ Wollen wir die Macht des fundamentalistischen Trugbilds dennoch durch eine Politik brechen, die ausnahmslos allen und einer jeden das Recht auf freien und gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheit und allgemeiner Wohlfahrt und, ebenso unverzichtbar, das Recht auf Freizügigkeit und gesicherte Ankunft am frei gewählten Ort des eigenen Lebens garantiert, dann liegt es an uns, klarzustellen, dass es dabei nicht (bloß) um ein „ökonomisches Angebot“ geht. Vielmehr muss intellektuell wie sinnlich deutlich werden, dass es dabei um die Freiheit zur aktiven Teilhabe an der Idee der Demokratie handelt. Sie heißt eben deshalb „Idee“, weil sie in der praktischen Garantie der sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rechte die Möglichkeit birgt, individuell wie kollektiv zum lebendigen Subjekt einer Wahrheit zu werden. Dabei lehrt uns die demokratische Idee der Gleichheit aller um willen der Freiheit ausnahmslos einer jeden, dass diese Rechte erst dann wirklich garantiert sein werden, wenn zuletzt auch der „Anspruch“ auf eine „soziale und internationale Ordnung“ garantiert ist, in der sie „voll verwirklicht werden können.“[9]
Dass diese Lehre nicht nur über das Trugbild des Dschihad, sondern auch über die zum Machwerk herabgesunkenen Realdemokratien des globalen Kapitalismus hinausführt, harrt allerdings der Bestätigung ‚in actu’, d.h. in Ausübung der Tat. Mehr als eine „bloße“ Idee ist sie folglich erst dann, wenn sie ihren Ort nicht nur im Zeugnis ihrer Subjekte, sondern auch in den Institutionen einer tatsächlich demokratischen Gesellschaft hat. Genauer: wenn die Idee der Demokratie ihren Ort in den Kämpfen um das findet, was aus diesen Institutionen werden kann. Wird ein solcher Kampf gewonnen, schenkt die Idee der Demokratie ihren Subjekten die Erfahrung, das „leben“ und „für eine Idee leben“ ein und dasselbe sind: Freude, Abenteuer, Glück und Enthusiasmus des Ereignisses. Solche Erfahrungen haben sich in den letzten Monaten, vergessen wir das nicht, ungezählte Male machen lassen: auf den Plätzen Athens in der Feier des „OXI“, und heute überall dort, wo dem Grenzübertritt einer Geflüchteten unentgeltlich der Willkommensgruß dargeboten wird. Weitergetragen von Begegnung zu Begegnung und derart zur sozialen Bewegung politisiert, übersetzt dieser Gruß das alte, zu alt gewordene Losungswort der Brüderlichkeit in das bedingungslos garantierte Recht auf Gastfreundschaft. Wo die Willkommensbewegung die Demokratie von ihrer national(staatlich)en Begrenzung auf den Verbund der „Einheimischen“ befreit und sich eigens den Fremden und Anderen öffnet, realisiert sie das dynamische Moment einer Ideen- und Wahrheitspolitik: sich immer neu der Erprobung auszusetzen und dabei auf sich selbst den ersten Stein zu werfen, d.h. sich selbst, wo nötig, zu revidieren. Die Idee der Demokratie bewährt sich darin als eine zugleich individuelle und kollektive Lebens-Form im radikalen Sinn des Wortes: als ein nicht nur ideen-, sondern zugleich „biopolitisches“ Wie des hier und jetzt Leben- und Anderswerdenkönnens, und nicht als ein Was, das über unseren Leben, über unseren Köpfen und Körpern schweben würde.[10] Mit dieser Wendung habe ich die dritte und entscheidende Bestimmung der Idee der Demokratie benannt, die Bestimmung, mit der sie sich von jedem Machwerk und von jedem Trugbild trennt und ihren eigenen, stets prekären Unterschied als einen Unterschied ums Ganze setzt.

Vorläufiger Schluss

Kann das dissidente Drittel der deutschen wie überhaupt der europäischen Gesellschaften zum artikulierten Drittel der Idee der Demokratie werden? Wird es sich zu einem solchen „Idealismus“ bereitfinden und ihn seiner materialistischen Dialektik zuführen? Wird dieses Drittel und mit ihm die Idee der Demokratie damit „mehrheitsfähig“ werden? Ich weiß es nicht, niemand kann das heute wissen. Doch kommen diese Fragen nicht zufällig in der Frage nach einem linken Populismus zusammen, in der nach dem Übergang von einer Minderheits- auf eine Mehrheitsposition gefragt wird. Genauer: In der nach den Subjektivitäten gefragt wird, die diesen Übergang bewerkstelligen könnten. Im Rückverweis dieser Frage diesmal nicht auf die Gründungs-, sondern auf die Krisengeschichte der Grünen meldet sich der Un-Begriff der „Realpolitik“ zu Wort, der wiederum nicht zufällig auch viele strategische Debatten der LINKEN leitet. Realpolitik heißt, auf das zu schielen, was „populär“ und deshalb mehrheitsfähig zu sein scheint: im Blick auf Wähler*innenstimmen und im Blick auf Regierungskoalitionen.
Grüne Realpolitik hat ihre Demokratiefragen deshalb auf das zusammengestrichen, was in den real existierenden Mittelklassen als konsensfähig galt: Kapitalismuskritik fiel da recht bald durchs Raster. Realpolitiken der LINKEN erliegen immer wieder der Versuchung, ihre sozialen Fragen in einer Sprache vorzutragen, die weniger den Konsens als das Ressentiment der Unterklassen artikuliert: Befreiung aber wird stets Befreiung vom Ressentiment sein müssen.
Beide Realpolitiken sind zutiefst ideenlos und befördern damit den Realismus der Meisten, die ihr Kreuz lieber bei Merkel und Gabriel machen, nicht aus Begeisterung, sondern weil sie ihnen zutrauen, unter den Bedingungen der Krise das real Mögliche zu sichern.
Ein Populismus der Idee läge demgegenüber in dem Versuch, das an unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten von ganz verschiedenen Subjekten artikulierte Begehren nach wahrer Demokratie zur Mehrheitsfrage zu machen und sich dazu zunächst einmal auf das dissidente Drittel (nicht nur) der deutschen Gesellschaft einzulassen. Nicht nur der deutschen schon deshalb, weil ein so verstandener Plan A nur ein transnationaler Plan sein kann – auch und gerade dann, wenn er seine realpolitische Bewährungsprobe in der Transformation deutscher Europapolitik finden wird. Soll mit ihr der EU eine politische Krise aufgezwungen werden, geht es dabei nicht mehr nur um die griechische Krise, sondern zugleich um das europäische Grenzregime und den globalen Anti-Terror-Krieg.
Die ideenpolitische Grundierung eines solchen Projekts eröffnet uns die Möglichkeit, uns gleich auf doppelte Weise vom Druck der Macht und der Gewalt zu distanzieren und damit aus der Defensive zu kommen. Indem sie zwischen Machwerk, Trugbild und Wahrheit ihren Unterschied ums Ganze setzt, öffnet sie uns den Möglichkeitshorizont, den eine Wahrheit denen aufspannt, die bereit sind, für sie einzustehen. Und: Indem sie uns auf die lange Frist eines ideenpolitischen Kampfes verweist, befreit sie uns von der Politik der Angst, auf die beide Kriegsparteien mit der strategisch gewollten Eskalation des Geschehens setzen. Mit ihrem ersten Zug, dem Aufspannen eines Horizonts der Wahrheit, führt uns die Ideenpolitik auf die Lehre zurück, die eine Linke des 21. von der Linken der 19. und 20. Jahrhunderts zu lernen hat. Diese Lehre liegt in dem Wagnis, mit dem sich die „alte“ Linke zu ihrer Zeit enthusiastisch auf ein „Gespenst“ eingelassen hat, von dem sie annahm, das es in Europa umgehe. Von einem Gespenst weiß google zu sagen, dass es ein spukendes Wesen in Menschengestalt sei, das uns zu bewegen vermag, obwohl es nicht wirklich existiert. Die Idee der Demokratie heißt so, weil von ihr aktuell auch nicht mehr zu sagen ist.

Thomas Seibert ist Philosoph, Aktivist der Interventionistischen Linken und einer der Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne.

Fußnoten:

[1] Leo Mayer, Für einen Plan A, http://kommunisten.blogsport.de/2015/08/11/fuer-einen-plan-a-fuer-einen-plan-a-kommentar-von-leo-mayer-marxistische-linke/

[2] Raul Zelik, Problematischer Populismus, http://neues-deutschland.de/artikel/992821.problematischer-populismus.html

[3] Systematische Zugänge zu einer linken „Ideen-“, „Wahrheits-“ oder „Metapolitik“ finden sich in radikaler Form bei Alain Badiou, Über Metapolitik, Zürich/Berlin 2003 und in moderater Form bei Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015. Vgl. auch Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Frankfurt 1995, und Thomas Seibert, Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009

[4] Peter van Buren, Paris: You don’t want to read this, http://www.commondreams.org/views/2015/11/15/paris-you-dont-want-read?utm_campaign=shareaholic&utm_medium=facebook&utm_source=socialnetwork. Meine Übersetzung.

[5] Der IS ist für viele schlicht ein Abenteuer. Interview mit Scott Atran, http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-der-is-ist-fuer-viele-schlicht-ein-abenteuer-a-1065754.html

[6] Adam Hanieh, A Brief History of ISIS, https://www.jacobinmag.com/2015/12/isis-syria-iraq-war-al-qaeda-arab-spring/

[7] Gelegenheit, daran zu erinnern, dass es auch andere politische Theologien gibt. Vgl. dazu die Beiträge des katholischen Theologen Boris Gunjevi? in dem gemeinsam mit Slavoj Žižek verfassten Buch God in Pain. Inversionen der Apokalypse, Hamburg 2015

[8] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: Marx-Engels-Werke Bd. 1: 232. Vgl. dazu auch die Marx- und Demokratie-Deutung bei Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellistische Moment, Berlin 2012.

[9] Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Documents/UDHR_Translations/ger.pdf

[10] Neben dem der „Ideen-“ bzw. „Wahrheitspolitik“ ist der Begriff der „Biopolitik“ ein Kernbegriff postmarxistischer politischer Philosophie. Zuerst von Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari verwendet, leitet er heute vor allem das Denken Toni Negris und Michael Hardts. Das Spannungsverhältnis von Ideen- und Biopolitik loten Hardt/Negri in ihrem jüngsten gemeinsamen Text aus: Demokratie! Wofür wir kämpfen, Frankfurt/New York 2013, vgl. besonders S. 45f.