Die Welt verändern, das Leben ändern

Ausgewählte Kurzgeschichten aus der langen Geschichte der Transformation von Lebensweisen

Dies ist einer meiner Lieblingstexte, wer will, kann sich das Video seines ersten öffentlichen Vortrags auf dritten Transformationstagung der Rosa Luxemburg-Stiftung (26.-28. Juni 2016) ansehen. Er ruft die philosophischen, literarischen und künstlerischen Quellen auf, denen ich immer verpflichtet sein werde. Publiziert zuerst in der Zeitschrift LuXemburg und schließlich in dem Sammelband „Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren? Beiträge zu kritischen Transformationsforschung 2“ (VSA-Verlag, Hamburg 2015). Hier wird er durch das Video des Vortrags und durch die dazugehörige Powerpoint ergänzt. (Lang)

 

Die Welt verändern, hat Marx gesagt;
das Leben ändern, hat Rimbaud gesagt:
Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.

André Breton

Wenn wir das richtige Leben im falschen zur Sache von Kämpfen um Lebensweisen machen, dann mag das in der aktuellen Transformationsdebatte neu sein. Die Sache selbst ist alles andere als neu.[1] So kann die letzte große Epoche sozialer Aufstände, die des Mai 1968, als eine Epoche verstanden werden, in der die verschiedenen sozialen Kämpfe erstmals ausdrücklich unter der Führung von Kämpfen um Lebensweisen standen. Anlass genug, ein paar Geschichten aus ihrer Geschichte zu erzählen. Diese Geschichten führen in einem ersten Schritt in die Zeit unmittelbar vor den Mai 68, in einem zweiten zu den kulturrevolutionären Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts und im dritten zurück in die Epoche der Romantik.

Im ersten Schritt geht es um das, was Luc Boltanski und Ève Chiapello die Gabelung der Kapitalismuskritik in eine Sozial- und eine KünstlerInnenkritikgenannt haben (Boltanski/Chiapello 2003). Im zweiten geht es um die Radikalisierung der Kapitalismuskritik zu einer Totalkritik der Wirklichkeit, für die André Breton den Begriff der „Surrealität“ geprägt hat. Im dritten Schritt geht es um das subjektive Moment dieser Kritik. Genauer: Es geht dabei um den seit der Romantik ungeschlichteten Streit, ob wir es bei ihm – wie Hegel und Marx meinten – mit einer aufgespreizten Subjektivität oder – wie Nietzsche und zuletzt Foucault meinten – mit einer Subjektivität der Überschreitung zu tun haben. Wenn sich die zweite Position absichtsvoll unter den Titel einer „Ästhetik der Existenz“ stellt, dann führt die Berufung auf die Kunst in den auf immer wunden Punkt subjektiven Seins: in den Abgrund ihrer Freiheit (Foucault 2007). So kamen schon für den Deutschen Idealismus Ethik und Ästhetik zumindest insoweit überein, als beide zuletzt auf einen Selbstzweck führen. Soll das Kunstwerk als solches wahrgenommen werden, muss die Zuwendung von jedem ferner liegenden Zweck frei sein oder befreit werden. Das ethische Verhältnis zu sich selbst wie zu dem oder den anderen ähnelt dem Verhältnis zum Kunstwerk insoweit, als Kant zufolge ethisch immer auch darauf zu achten ist, „dass der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst existiert, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ (Kant 1980, 78). Im Folgenden werde ich zeigen, dass daraus unter nachidealistischen Bedingungen Schlüsse gezogen wurden, die jedes zweckvermittelte Machtverhältnis, damit aber überhaupt jedes gesellschaftliche Verhältnis in Frage stellen.

In einem vierten Schritt schließe ich diesen Geschichten eine offene Reihe von Fragen an, die sich heutigen Kämpfen um Lebensweisen stellen. Da sich eine dieser Fragen von Anfang an durch alle Geschichten hindurch zieht, stelle ich sie schon jetzt. Es ist dies die Frage, von der jede Suche nach einem richtigen Leben im falschen ihren Ausgang nehmen muss: die Frage nach dem guten Leben. Ich werde sie hier noch nicht beantworten, sondern nur erst die zwei wesentlichen Missverständnisse dieser Frage aus dem Weg räumen. Das erste Missverständnis wurde eben schon gestreift. Es liegt darin, das gute Leben mit einem Leben zu verwechseln, das zuerst und zuletzt dem moralisch Guten unterstellt wäre. Nicht wenige der ExistenzästhetInnen, von denen hier die Rede sein wird, haben das ausdrücklich zurückgewiesen. Unter einem guten Leben haben sie stattdessen ein Leben verstanden, das zumindest immer auch und immer wieder jenseits von Gut und Böse geführt wird. Insofern wird hier von gefährlichen Erfahrungen berichtet, die gut und gründlich zu bedenken sind.

Das zweite Missverständnis liegt dann aber in der Verwechselung des guten Lebens mit einem „dolce vita.“ Nichts gegen ein dolce vita, im Gegenteil: Jeder und jedem ist zu wünschen, dass das Leben süß sei. Fragt man aber nach dem, was man eigens und eigentlich wünscht und will, was man im Grunde seines Herzens begehrt, was man manchmal bis zur Verzweiflung sucht und wofür man eigentlich kämpft, dann geht es, um im Bild zu bleiben, gerade nicht um die Süße, sondern um das Salz des Lebens. Dann ist noch heute einem der ältesten Sätze allen Nachdenkens über ein gutes Leben Recht zu geben, dem Satz des Sokrates, „dass man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muss, sondern das gute Leben“ (Platon 1985, 32). Im Kampf um Lebensweisen kann dieser Satz gar nicht ernst genug genommen werden. Mit ihm ist nicht nur gesagt, dass die Bejahung des guten Lebens eine Verneinung eines Lebens einschließt, das nicht mehr ist als bloßes Überleben. Mit ihm ist auch gesagt, dass ein gutes Leben die Bejahung des Todes einschließt. Das bedeutet allerdings nicht, dass das gute Leben seinen Frieden mit dem Tod schließt. Ich lasse das hier erst einmal so stehen.

Nieder mit dem Summarischen, es lebe das Ephemere!

Der Mai 1968 war ein globaler Transformationsprozess, der sich ab den späten 1950er Jahren abzeichnete und Ende der 1970er abbrach. Die Fokussierung auf den Mai 68 verdankt sich dem Geschehen in Paris bzw. in Frankreich, wo die Protestbewegung der Studierenden einen Generalstreik von 10 Millionen Menschen auslöste. Um dieses „Schaltjahr“ der Revolte herum wurde aber nicht nur in Paris, sondern überall auf der Welt gekämpft. Barrikaden werden damals im Westen wie im Osten Europas gebaut: in Westberlin, Frankfurt, Madrid, Rom, Mailand, Brüssel, Warschau, Prag, Belgrad und in Istanbul. Gekämpft wird aber auch in Vietnam, wo im Januar 1968 die kriegsentscheidende „Tet“-Offensive des Vietcong begann. Seit 1966 wird in der chinesischen Kulturrevolution gekämpft, zur gleich Zeit überall in den USA, aber auch in Japan, auf Sri Lanka und Indien, in Ägypten und Algerien, in Palästina, in Biafra/Nigeria und Südafrika. Gekämpft wird auch in Mexiko, dem Land, an dem in diesem Jahr die Olympischen Spiele stattfinden. Zehn Tage vor ihrer Eröffnung schießen Armee und Polizei eine Demonstration von ArbeiterInnen und Studierenden zusammen, bis zu dreihundert Menschen sterben. Den Ablauf der Spiele und ihre ZuschauerInnen überall auf der Welt stört das nicht wirklich.

Gekämpft haben ArbeiterInnen und „people of colour“, gekämpft haben Frauen, Schwule und Lesben, gekämpft haben allen voran die jungen Generationen, die Internierten der Heime und der Bildungsanstalten aller Art, auch die Internierten der Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten. An jedem dieser Orte kamen dabei ganz verschiedene Subjekte zusammen, die sich in einem einig waren: alltäglich hier und jetzt anders leben zu wollen, in radikal veränderten Selbst- und Weltverhältnissen, in neuen sozialen Beziehungen und Weisen des Zusammenwohnens, Zusammenarbeitens, Zusammenlebens, in neuen kulturellen Ausdrucksformen, in der Erprobung neuer Sitten und Tugenden. Darum ging es auch und gerade in ungezählten bestreikten oder besetzten Fabriken, darum ging es natürlich in den Kommunen und Wohngemeinschaften, in alternativen Produktionsstätten, in der subkulturellen Besetzung ganzer Stadtteile oder im zehntausendfachen Gang zurück aufs Land. Das Zusammenkommen der Subjekte neuer Lebensweisen schloss neue, aber auch alte Weisen ein, sich zu organisieren: man traf sich auf Versammlungen und Demonstrationen, bildete Banden, gründete Clubs und Komitees, sogar politische Parteien und, nicht zuletzt, bewaffnete Formationen.

Das eigentlich Besondere der Epoche des Mai 68 lässt sich allerdings schwer in Ortsnamen und Zahlen fassen. Ausgesprochen hat es sich nicht zufällig in den Losungen des Pariser Mai – ich zitiere in exemplarischer Auswahl:

 

Die Fantasie an die Macht! Traum ist Wirklichkeit! Nieder mit der Konsumgesellschaft! Gewerkschaften sind Bordelle! Es lebe Heraklit, nieder mit Parmenides! Miss deine angestaute Wut und schäme dich! Arbeitet nie! Kunst existiert nicht, Kunst bist du! Nieder mit der Alten Welt! Unter dem Pflaster liegt der Strand! Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her! Nieder mit dem Summarischen, es lebe das Ephemere! Marxistisch-Pessimistische Jugend (Dzierzgowski o. J.).

Eine neue Reformation

Begrifflich markiert wird die Vervielfältigung und Streuung der sozialen Kämpfe bald durch die Unterscheidung, die seither die ArbeiterInnenbewegung als die Alte Soziale Bewegung von den Neuen Sozialen Bewegungen als den sog. Alternativbewegungen trennt. Michel Foucault hat vorgeschlagen, diese Unterscheidung im Begriff der Reformation zu fassen. Wie im 15. und 16. Jahrhundert sei es auch in den 60er, 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eher um eine Umwälzung der alltäglichen Lebensweisen und ihrer Subjektivierung im je eigenen wie im gemeinsam gelebten Leben als um eine Umwälzung der Staatsapparate gegangen. Den trotzdem, vielleicht sogar gerade deshalb zutiefst politischen Charakter der neuen wie schon der alten Reformation fasst Foucault in seinem von der Staatlichkeit engeren Sinns abgelösten Begriff der Regierung: „Ich glaube, dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden“ (Foucault 2005a, 117; vgl. auch Foucault 2005b: 276).

Luc Boltanski und Eve Chiapello schließen hier mit ihrer Unterscheidung von Sozial- und KünstlerInnenkritik an: die eine ist in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, die andere in der Geschichte der Bohème und der künstlerischen Avantgarden begründet. Geht es in beiden um eine Kritik des Kapitalismus, erfolgt sie in der Sozialkritik primär als Kritik an Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit, in der KünstlerInnenkritik primär als Kritik an Unterdrückung, an der Inauthentizität oder Uneigentlichkeit des Lebens und der „Entzauberung“ der Welt, ihre Verwandlung in eine verdinglichte Warenwelt (Boltanski/Chiapello 2003, 79 ff., 213 ff., 379 ff., 467 ff., 540 ff.). Den bleibenden Unterschied beider Formen der Kritik und damit die Grenze ihrer Vermittlung fassen Boltanski/Chiapello in der Unterscheidung „spezifischer“ und „generischer“ Entfremdungen bzw., ihr entsprechend, „spezifischer“ und „generischer“ Emanzipationen. Um diese Differenz im Beispiel zu erläutern: Um spezifische Entfremdungen und Emanzipation wird in vielen Arbeitskämpfen gestritten, dann jedenfalls, wenn es nicht nur um eine höhere Entlohnung geht. Generische Entfremdung aber wird zum Problem gemacht, wenn der Zwang zur Arbeit selbst in Frage gestellt wird. Der eigentlich prekäre Punkt dabei steht immer dann zur Entscheidung, wenn es um die Unterscheidung des Spezifischen und Generischen selbst geht: nicht selten wird zum unüberwindlichen Gattungszwang erhoben, was doch nur ein überwindliches gesellschaftliches Verhältnis ist. Trotz dieser stets umkämpften politischen Klarstellung bleibt festzuhalten, dass die Unterscheidung spezifischer und generischer Entfremdung gleichwohl nicht gänzlich aufgehoben werden kann. Dem entspricht, dass es mehr als eine Revolte gibt, die durch den Nachweis ihrer Aussichtslosigkeit nicht zu entkräften ist.

Mindestens ebenso wichtig ist für Boltanski/Chiapello aber, dass die im Mai 1968 erreichte Durchmischung und Streuung von Sozial- und KünstlerInnenkritik spätestens in den 1980er Jahren von den herrschenden Verhältnissen absorbiert wurde. Von da an wurden nicht wenige Errungenschaften der Reformation der alltäglichen Lebensweisen in das verkehrt, was wir heute als neoliberale und biopolitische Modernisierung des Kapitalismus bekämpfen. Dem Aufstand der Lebensweisen folgte eine Bewegung, in der die von Marx analysierte reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital zur reellen Subsumtion des Lebens und letztlich der ganzen Welt unter das Kapital entgrenzt wurde: bis in die letzte Minute des Tages und den letzten Winkel der Welt hinein.

Wie in anderen großen historisch Umbrüchen resultiert das Scheitern des Aufbruchs gerade aus seinem Erfolg: aus der Bewegung, in der das rebellische Begehren von Minderheiten von einer großen und deshalb relevanten Zahl von Menschen aufgegriffen wurde. Auf dem Weg seiner gesellschaftlichen Verallgemeinerung notwendig abgeschwächt, wird das Neue zuerst Verhandlungssache eines historischen Kompromisses und zuletzt zum Konsens einer neu justierten Hegemonie. Die aber sichert, wie jede Hegemonie, den Fortbestand des modernisierten Alten. Sie gibt damit allerdings, deshalb ist das Ganze nicht hoffnungslos, den Ausgangspunkt neuer Kämpfe vor. In deren Interesse, im Interesse der jetzt zu beginnenden Kämpfe, aber liegt es, das Unabgegoltene, das Nicht-Eingelöste und deshalb zwischenzeitlich Vergessene zu erinnern. Das führt mich jetzt zur – zumindest selbsternannten – Avantgarde des Mai 1968: der Situationistischen Internationale (S.I.).

Die eigensinnigste Internationale der Geschichte

Die 1957 aus dem Zusammenschluss verschiedener KünstlerInnen- und LiteratInnenzirkel entstandene S.I. gehört zunächst einmal in die Geschichte der Bohème. Deren Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert mit der Akademisierung der kulturellen Produktion. In den KünstlerInnengruppen wie dem 1804 an der Wiener Akademie gegründetem Lukasbund organisierte sich anfangs der Widerstand von Studierenden der Malerei und Bildhauerei gegen die Zurichtung, als die sie ihre Ausbildung in den neuen Kunsthochschulen erfahren. Die S.I. steht allerdings am Ende dieser Geschichte: sie will kein neuer KünstlerInnen- und LiteratInnenzirkel sein, sondern diejenigen sammeln, die mit Kunst und Literatur endgültig Schluss machen wollen. Schluss gemacht werden soll auch mit der Architektur, mit Theater und Film, mit der Philosophie und den Wissenschaften. Schluss gemacht werden soll überhaupt mit der Arbeitsteilung und allen sozialen Trennungen – auch mit der vom gesellschaftlichen Leben getrennten Politik.

Die S.I. geht dieses ungeheure Vorhaben mit der gebotenen Ironie an und imitiert in satirischer Form die Dritte Internationale. Ihre über die Zeit hinweg insgesamt 70 Mitglieder organisieren sich in 9 nationalen Sektionen und einer sog. „Außensektion“, koordinieren sich über „Weltkonferenzen“, über ihren internationalen „Zentralrat“ oder das für Städtebau zuständige „Büro für Unitären Urbanismus“. Die Satire fällt dann allerdings ernster aus als geplant: von den 70 Mitgliedern werden 43 ausgeschlossen, 24 treten aus, die Auflösung 1972 wird dann von den letzten drei Mitgliedern beschlossen. Ganze sieben Mitglieder sind Frauen.

Einfluss gewinnt die SI zunächst doch künstlerisch, publizistisch und theoretisch: durch Bilder und Filme und deren skandalumwitterte Ausstellung bzw. Vorführung, durch Flugblätter und Flugschriften, durch die zwölf Ausgaben ihres luxuriert gestalteten Zentralorgans, durch die kurz vor dem Mai 1968 veröffentlichten Bücher Guy Debords und Raoul Vaneigems: Die Gesellschaft des Spektakels und Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen (Debord 1974; Vaneigem 1977). Einfluss gewinnt sie zuletzt durch ihre Beteiligung an der Besetzung der Sorbonne, während der sie eine eigene Vorfeldorganisation gründete, das „Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzungen“.

Einfluss bis auf den heutigen Tag gewann die S.I. schließlich durch ihren Stil: den Stil einer kompromisslos formulierten und zumindest von einigen auch kompromisslos gelebten Radikalität. Dazu gehört das ebenso vielversprechende wie vage Konzept der „Konstruktion von Situationen“ als der eigentlich „situationistischen Tätigkeit“. Sie soll zugleich individuell und kollektiv praktiziert und dabei zu dem Medium werden, in dem die Kunst, die Literatur, die Philosophie und die Politik „aufgehoben“ werden. Die Neuerfindung des Alltagslebens ist dabei zugleich das nächste und das fernste Ziel.

Zur „Konstruktion von Situationen“ gehört zunächst die aus dem Leben der Bohème gewonnene Taktik des „Umherschweifens“: nicht nur, aber auch wortwörtlich zu verstehen, als oft über Tage und Nächte sich hinziehendes Durchstreifen der Stadt. Dazu gehört zweitens die Taktik der „Entwendung“. Wortwörtlich ist darunter die trickreiche Beschaffung der Ressourcen für ein arbeitsfreies Leben zu verstehen. Erreicht wird dieses Ziel durch Ladendiebstahl und Zechprellerei, aber auch durch die Einwerbung von Fördermitteln durch zahlungskräftige MäzenatInnen. Im übertragenen Sinn aber eröffnet die Entwendung den SituationistInnen einen subversiven Zugriff auf das gesamte Erbe der Kunst, der Literatur, der Philosophie und der revolutionären Politik. Im gelungenen Fall kann eine Entwendung deshalb als Variation auf den Akt der Zerstörung, Überschreitung und Bewahrung verstanden werden, den Hegel eben im Begriff der Aufhebung fasst. Trotz gegenteiliger Selbsteinschätzung finden sich gelungene Entwendungen übrigens nicht nur bei Debord.

Umherschweifen und Entwendung dienten der S.I. dazu, die Hauptlinien aller Kritik ineinander zu verweben: die auf Marx zurückgehende Kritik der politischen Ökonomie, die in Nietzsche gipfelnde Kritik der Religion und der Moral und die in Dada und Surrealismus gipfelnde Selbstkritik der Kunst, der Literatur und – des Lebens der Bohème. Der Ernst dieses Spiels lag zum einen in der konsequenten Unterscheidung von Freund und Feind. Zu ihren eigentlichen Gegnern erhoben die SituationistInnen die Massenmedien der Information, der Bildung und der Freizeit: von den Schulen und Universitäten über Reklame, Zeitungen, Radio und Fernsehen bis zum Sport, zur Freizeitindustrie und zum Städtebau der 1960er Jahre. Erklärter Hauptgegner war deshalb der Club Méditterranée, ein heute weltweit über achtzig „Urlaubsparadiese“ betreibendes Touristikunternehmen. Rigoros ernst gemeint war zum anderen das Spiel, das die SituationistInnen in der Stadt und mit der Stadt spielen wollten. Indem sie den ganzen urbanen Raum und eben nicht mehr nur die Fabrik zum Ort eines kulturrevolutionär entgrenzten Klassenkampfs erheben, haben sie den wichtigsten Schritt der sozialen Kämpfe unserer Zeit vorweggenommen. Gelernt haben sie das nicht nur von ihren surrealistischen VorläuferInnen, sondern auch in den Universitätsseminaren des Philosophen Henri Lefebvres, in den 1960ern Treffpunkt vieler junger Radikaler. Lefebvres Begriffe des Städtischen und der städtischen Revolution lassen damals schon den Unterschied von Stadt und Land hinter sich, der mit den Megacities unserer Zeit endgültig hinfällig geworden ist (Lefebvre 2014).[2]

Vielleicht lässt sich der Einsatz der S.I. am deutlichsten an Vorhaben verstehen, die sie nicht umzusetzen vermochte. So diskutierte ihre Londoner Weltkonferenz 1960 zwei Projekte, für die von einem reichen italienischen Sympathisanten zureichende finanzielle Mittel schon zugesagt waren. Das erste war eine militante Aktion: die im Guerilla-Stil geplante Besetzung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) mit Sitz in Paris. Das zweite war die auf einer Mittelmeerinsel geplante Anlage einer situationistischen Experimentalstadt als einer real existierenden befreiten Zone (Ohrt/Erlhoff 1990, 222 ff.). Beide Projekte wurden wie die ganze künstlerische, literarische und filmische Produktion einem immer kompromissloseren, dafür aber immer abstrakteren Radikalismus geopfert, der letztlich auf die Enthaltung von jeder Aktivität zielte: weil jedes konkrete Vorhaben, so der Verdacht, Teil der nur in einer „totalen Revolution“ (Vaneigem) oder eben gar nicht umzustürzenden „Gesellschaft des Spektakels“ geworden wäre.

Das Zeitalter der Avantgarden

Es ist Zeit für den nächsten Schritt zurück, hin zu den kulturrevolutionären Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von denen die S.I. ein später Abkömmling war. Die Rede ist von KünstlerInnen-, LiteratInnen- und AktivistInnen-Gruppen mit weltweit mehreren hundert MitstreiterInnen. In der Vielzahl der Bünde und Zirkel lassen sich grob vier bzw. fünf Hauptströmungen ausmachen: der Expressionismus, der in seinen italienischen und sowjetischen Flügel gespaltene Futurismus, der Dadaismus und der Surrealismus. Die nur relative Trennschärfe dieser Unterscheidungen zeigt sich darin, dass viele der ihnen zuzurechnenden KünstlerInnen, LiteratInnen und AktivistInnen von der einen zur anderen Strömung wechselten, etliche andere sich nie fest banden oder ganz für sich allein blieben. Erklärterweise aber teilten sich alle Strömungen dieselbe, in der Barbarei des Ersten Weltkriegs geborene Epoche. Sie verstanden sich subjektiv als vorderste Frontlinie einer in der Industrie, den Wissenschaften, der Großstadt, den proletarischen Massen und in der eigenen Vereinzelung gipfelnden Totalkrise. Sie nahmen ausdrücklich und oft enthusiastisch Bezug auf die Oktoberrevolution und sie scheiterten ausnahmslos am Faschismus und in der Hölle des Zweiten Weltkriegs.

Legt man Max Webers an der historischen Reformation gewonnene Unterscheidung der „religiösen VirtuosInnen“ von den „religiösen Laien“ auch an die Avantgarden an, dann wird sichtbar, dass sie die VirtuosInnen einer Bewegung waren, die Zehntausende, wenn nicht über hunderttausend Laien bewegte (Weber 1988, 260ff). So sind die Avantgarden zumindest in weiter Hinsicht sowohl in den Kontext der eher bürgerlichen „Lebensreform“ als auch in den Kontext der „anderen ArbeiterInnenbewegung“ an den Rändern der sozialdemokratischen oder kommunistischen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen zu stellen (zur Lebensreform vgl. Foitzik Kirchgraber 2003; zur „anderen“ ArbeiterInnenbewegung vgl. Roth 1976).

Der Expressionismus formiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Begriff war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Umlauf. Die Kunst, das Denken, das Leben und so auch die Politik werden als „Expression“, als Ausdruck einer Subjektivität verstanden, der es im Letzten nur noch um ihren eigenen Ausdruck geht: eine Weise, sich als Selbstzweck zu behaupten. Allerdings will diese Subjektivität im Ausdruck des modernen Lebens immer auch aus ihm „aussteigen“: zurück aufs Land, zurück ins Mittelalter, hinaus in exotische Fernen oder – wie der Maler Max Beckmann – in die Einsamkeit einer inmitten des Irrwitzes des Krieges wie der Großstadt heroisch vereinzelten Existenz (vgl. Vietta/Kemper 1997; Beckmann 1983; Beckmann 1984). Einige ExpressionistInnen versuchten allerdings auch den Ausstieg nach vorne hin, in die soziale Revolution. Zu ihnen gehörte der Dichter Johannes R. Becher, der sich 1930 im Rundfunk mit Benn einen legendär gewordenen Streit lieferte. Benn vermerkt dazu brieflich an die Mit-Expressionistin Thea Sternheim: „Wollen wir von dem Radioabend bitte nicht weiter sprechen. Verfehlte Sache, blamable Situation“ (Benn/Becher 2010, Benn/Sternheim 2006: 59).

Jeden Ausstieg zurück untersagt sich der Futurismus, der so heißt, weil er sich entschlossen mit der technisch-industriellen Umwälzung aller Dinge und Verhältnisse – und mit der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft – verbündet. Er tut dies allerdings in radikal gegensätzlicher Weise: die FuturistInnen der jungen Sowjetunion an der Seite der Bolschewiki, die italienischen FuturistInnen an der Seite Mussolinis. Die Mehrzahl der sowjetischen FuturistInnen endet im Gulag, die italienischen verschwinden spätestens mit dem Sturz der faschistischen Diktatur 1943. Zu erwähnen bleibt in jedem Fall der große Einfluss, den der Futurist Sergej Tretjakov gleichermaßen auf Bertolt Brecht und Walter Benjamin hatte. (Vgl. Bortlik/Mittelstädt/Schulenburg 1985; Majakowski 1973; Tretjakov 1972).

Die Bewegung Dada verzichtet auf solche Parteinahmen. Der Dadaist Richard Huelsenbeck schreibt: „Wir hatten alle keinen Sinn für den Mut, der dazu gehört, sich für die Idee einer Nation totschießen zu lassen, die im besten Fall eine Interessengemeinschaft von Fellhändlern und Lederschiebern, im schlechtesten eine kulturelle Vereinigung von Psychopathen ist.“ Beteiligen sich die DadaistInnen – was die meisten tun – an der Revolutionierung nicht nur der Kunst, sondern auch der Politik, dann nur als Kraft der Negation: „Das Wort ‚Verbesserung’“, so noch einmal Huelsenbeck, „ist dem Dadaisten in jeder Form unverständlich“ (Huelsenbeck 1978, 11 bzw. 40).

Dada-anti-Dada

Der Surrealismus geht aus der Dada-Bewegung hervor und versucht, deren reine Negativität dialektisch aufzuheben: „Dada-anti-Dada“ ist eine der ersten surrealistischen Losungen. Er wird deshalb zur reichsten aller Avantgarde-Strömungen: „Hier wurde“, schreibt Walter Benjamin, „der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, indem ein Kreis von engverbundenen Menschen ‚Dichterisches Leben’ bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb“ (Benjamin 1988, 201; siehe die Schrift im Zusammenhang 200-215).

Der erste Grund dafür liegt darin, dass es den SurrealistInnen nicht nur um eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung geht. Sie wollen mehr, wollen eine Kritik der ganzen christlich-abendländischen Zivilisation und ihrer Rationalität und damit eine Kritik des Ganzen der Wirklichkeit überhaupt. Ihr setzen sie die Überschreitung der Wirklichkeit selbst, eben die „Sur-Realität“ entgegen. Im 1924 veröffentlichten Ersten Manifest des Surrealismus schreibt sein „Anti-Vater“ André Breton: „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen“ (Breton 1977, 21; den Ausdruck „Anti-Vater“ verwendete Sarane Alexandriane, vgl. sein Vorwort zu Breton 2008, 7).

Der Weg dazu ist die jeden Tag aufs Neue praktizierte Subversion der Grenzen von Wachen und Träumen, von Ernst und Spiel, von Vernunft und Unvernunft in einer permanenten Offenheit für den „hazard objectif“, den „objektiven Zufall“ des Wunders, des Ereignisses und der Gnade. Das Malen von Bildern und das Schreiben von Gedichten sollen deshalb weder Kunst noch Literatur sein: Ihre Aufgabe liegt im Protokoll der gelebten Erfahrung, die ihnen vorausging. Deren Raum aber ist – auch und gerade hier gehen die SurrealistInnen ihren situationistischen ErbInnen voraus – die Stadt, konkret natürlich: Paris. Louis Aragon schafft dem Planeten des real existierenden Surrealismus in Der Pariser Bauer ein Denkmal, das eben nicht „ästhetisch genossen“ werden darf. Stattdessen ist es als Erfahrungsprotokoll einer existenziellen Anstrengung zu dechiffrieren, die sich im Umherschweifen durch die Straßen von Paris jedem Zweck verweigert. Sie tut das, um sich so dem Wunder zu öffnen, das – vielleicht! – an der nächsten Ecke wartet (Aragon 1996). Das mit Hilfe der Psychoanalyse benannte Ziel der existenziellen Poesie besteht in der – so Breton – „Aufhebung des Ich im Es“, deren privilegierter Ort die Liebe sein soll: die „amour fou“, die verrückte, leidenschaftliche Liebe (Breton 2008, 33; vgl. außerdem Breton 1970).

Erreicht haben die SurrealistInnen dieses Ziel nur bedingt, und das gilt gleichermaßen von der Kunst, vom Alltag, von der Liebe und der Politik. Das lag nicht nur, doch auch daran, dass die Pariser Groupe Surréaliste (und nicht nur die von Paris) männlich dominiert war und blieb. Sichtbar wird dies in einer prominenten politisch-ästhetischen Intervention, die zugleich eine Intervention ins Geschlechterverhältnis war und dies auch dokumentiert. Sie findet sich in der ersten Ausgabe der Zeitschrift La Révolution Surréaliste. Das Hochglanzmagazin präsentiert eine Collage, mit der sich die Gruppe politisch an die Seite der Anarchistin Germaine Berton stellt, die gerade einen Führer der faschistischen Action Francaise erschossen hatte. Die radikale Intervention belegt zugleich unübersehbar das Problem des Surrealismus. Um das Bild der Anarchistin finden sich die Passphotos der Mitglieder der Groupe Surréaliste: ausschließlich Männer. Beschriftet ist die Collage mit einem Vers des Dichters Charles Baudelaire (1827-1867): „Und so ist es die Frau, die in unseren Träumen den stärksten Schatten und das stärkste Licht wirft“ (Baudelaire 1990a, 230). Ohne jede Herablassung bleibt da nur zu sagen: wohl wahr!

La Révolution surréaliste

Das Scheitern der SurrealistInnen in der Politik ist allerdings nicht einfach ihr eigenes Scheitern: Es hängt am Scheitern der Oktoberrevolution, am Scheitern der sozialdemokratischen und kommunistischen ArbeiterInnenbewegung und an der Quittierung dieses Scheiterns durch die faschistischen Verwüstung der Welt. Die SurrealistInnen legen darin ein noch heute beeindruckendes Zeugnis aufrechten Gangs und freien Denkens ab: anders als viele andere KünstlerInnen und Intellektuelle der Linken dieser Zeit. Mitte der 1920er Jahre machen sie Ernst mit der Politik. Prominente SurrealistInnen, darunter Breton, treten der kommunistischen Partei bei, der Titel ihrer Zeitung wird von La Révolution Surréaliste in Le Surrálisme au Service de la Révolution geändert: Der Surrealismus im Dienst der Revolution.

Zehn Jahre später, mitten im antifaschistischen Widerstand, bereiten die SurrealistInnen diesem Spuk ein Ende und brechen mit der Sowjetunion und der stalinisierten KP. Vollzogen wird der Bruch in außerordentlich dramatischer Weise auf dem Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, der im Sommer 1936 in Paris stattfindet. Breton soll dort prominent das Wort ergreifen und verfasst dazu einen Text, in dem er das surrealistische Verständnis revolutionärer Politik im Bezug einerseits auf Karl Marx und andererseits auf den Dichter Jean-Arthur Rimbaud (1854-1891) erläutert. Der Text endet mit der später berühmt gewordenen, hier gleich zu Beginn zitierten Losung: „Die Welt verändern, hat Marx gesagt; das Leben ändern, hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige“ (Breton 1998: 96). Einer der Organisatoren des Kongresses, der damals eng mit dem Stalin-Regime und der PCF verbundene russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, polemisiert im Vorfeld heftig gegen die SurrealistInnen. Als Breton ihn dafür öffentlich ohrfeigt, wird er auf Betreiben Ehrenburgs vom Kongress ausgeschlossen. Daraufhin versucht der schwer erkrankte Surrealist René Crevel zu vermitteln – und begeht nach dem Scheitern seiner Bemühungen Selbstmord. Um den jetzt unausweichlichen Skandal einzuhegen, erlaubt die Kongressorganisation dem Surrealisten Paul Éluard, Bretons Rede in dessen Abwesenheit auf dem Kongress zu verlesen: deutlicher konnte das Ende der mesalliance von PCF und Groupe Surréaliste kaum bezeugt werden!

Im Bruch mit der KP sind die SurrealistInnen allerdings nicht allein. Schon vor ihnen hat Boris Souvarine, einer der Gründer der PCF und Präsidiumsmitglied der Kommunistischen Internationale, eine neue Organisation gegründet, den Cercle communiste démocratique (CCD), der bald zur ersten Sammlung der linken Opposition wird. Souvarine ist es auch, der die SurrealistInnen mit Leo Trotzki in Kontakt bringt und seine Zeitung La Critique sociale für sie öffnet. Bretons innersurrealistischer Widerspieler Georges Bataille, Grenzgänger zwischen dem Surrealismus und der gerade entstehenden Existenzphilosophie, publiziert dort Texte, in denen er nicht nur Marx und Rimbaud, sondern beide mit Nietzsche zusammenbringt.

Der gemeinsame Widerstand gegen den Faschismus, den Stalinismus und die bürgerliche Dritte Republik Frankreichs lässt die internen Streitereien für einen Augenblick in den Hintergrund treten. Gemeinsam gründen Souvarine, Breton und Bataille die noch einmal breiter angelegte Allianz Contre-Attaque („Gegenangriff“). Zu ihren bald 70 Mitgliedern gehört auch ein besonders radikaler SurrealistInnenzirkel aus der Provinz, die Gruppe Le Grand Jeu (Das Große Spiel) aus Reims (vgl. Gilbert-Lecomte u.a. 1980). Eine wichtige Rolle fällt dabei der Dichterin und kommunistischen Aktivistin Colette Peignot zu. Sie schreibt unter dem Pseudonym Laure, hat Berlin, Moskau und Leningrad besucht und lebt zu dieser Zeit mit Bataille zusammen. Als Contre-Attaque nach nur einem Jahr scheitert, gründet Laure gemeinsam mit Pierre Klossowski, Roger Caillois und ihrem Gefährten Bataille die nach einem surrealistischen Kunstmythos benannte Geheimgesellschaft Acéphale.

Der Mythos kreist um einen kopflosen, also des Sitzes der zweckrational entstellten Vernunft ledigen Gott und schließt darin an Nietzsches Versuch einer dichterischen Aktualisierung des antiken Dionysos-Mythos an. Als zugleich antifaschistischer, antistalinistischer und antibürgerlicher Gegen-Mythos soll der Kult des enthaupteten Gottes die autoritären Massenideologien auf dem Feld der Affekte schlagen, die der rationalen politischen Entscheidung voraus liegen. Mit seiner Ausbreitung, so die Spekulation des Acèphale-Kreises, soll die Surrealität, das zweckfreie Spiel des Denkens, Träumens und Begehrens in praktizierter Poesie, nicht mehr nur die Sache radikaler Intellektueller und KünstlerInnen sein, sondern einer Massenbewegung werden.

Natürlich wollen Bataille, Laure und ihre MitstreiterInnen keine Religion gründen. Der Kult des Acéphale soll die kollektive Feier eines abwesenden Gottes und damit der Abwesenheit Gottes überhaupt werden: „Die Nacht ist auch eine Sonne, und die Abwesenheit des Mythos ist noch ein Mythos, der kälteste, reinste, der einzig wahre“, wird Bataille im Rückblick notieren (zitiert nach Bischof 2010, 259). Indem der Atheismus seine eigene Liturgie schafft, werde er nicht nur die alten kirchlichen und die de facto-Liturgien der stalinistischen und faschistischen Massenparteien übertrumpfen, sondern mit ihnen auch das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) bürgerlich-säkularer Zweckrationalität sprengen.

Breton kritisiert die Überlegungen der Acéphale-Loge scharf und wirft ihr vor, den Surrealismus in einen „Surfaschismus“ zu verwandeln.[3] Dabei wurde der Ausdruck nicht von Breton, sondern einem Gefährten Batailles, dem Historiker Jean Dautry, ins Spiel gebracht. Bataille wiederum nimmt Bretons Kritik auf und nutzt sie zu einem vertieften Verständnis der Vorsilbe „Sur-“ bzw. „Über-“ im Begriff der Sur-Realität bzw. Über-Wirklichkeit wie im Begriff des „Übermenschen“ bzw. „Surhomme.“ In beiden Fällen werde mit der Vorsilbe „Sur-“ bzw. „Über-“ keine hierarchische Wertung vorgenommen, keine „höhere“ Wirklichkeit und kein „höherer“ Menschentyp gesetzt. Stattdessen gehe es im „Sur-“ bzw. „Über-“ allein um die Bewegung der Überschreitung, d.h. um die Bewegung des Sichbefreiens von dieser Wirklichkeit und von diesem Menschen. Zu beiden, zur bisherigen Wirklichkeit und zum bisherigen Menschen, gehören Faschismus, Stalinismus und bürgerlicher Liberalismus: alle drei Ideologien, alle drei Lebensweisen müssen überschritten werden. Diese Überschreitung werde eben nicht, dies sei die Vernunft im Acéphale-Kult, von einer neuen Elite, sondern vom „verworfenen Rest“ sowohl der bestehenden Wirklichkeit wie des bisherigen Menschen getragen: politisch also von der verworfenen Masse der ProletarierInnen. Das Proletariat, vom Bürgertum ausgebeutet und von Stalinismus und Faschismus in die Irre geführt, soll im Kult des Acéphale sich selbst als die Macht der Überschreitung erkennen. Allerdings: Bretons Kritik wird auch insoweit Rechnung getragen, als die Geheimgesellschaft Acéphale und die Idee einer Gegen-Liturgie aufgegeben wird. An ihre Stelle tritt 1937 das Collège de Sociologie, in dem die Problematik theoretisch weiterverfolgt und erste Ansätze einer „Säkularsoziologie“ ausgearbeitet werden. Zu den Gästen des Collège gehört unter vielen anderen Walter Benjamin, der zwischenzeitlich in Paris Asyl gefunden hatte. Zwei Jahre später löst sich allerdings auch diese Formation des Surrealismus auf.

Andere entsetzliche ArbeiterInnen

Laure stirbt 1938 im Alter von nur 35 Jahren an der Tuberkulose. Bataille redigiert und publiziert ihre Schriften posthum. Sie verbreiten sich erst in den 1960er Jahren und beeinflussen so, ein objektiver Zufall, die im Mai 68 erstarkende Frauenbewegung (vgl. Laure [bürgerl. Collette Peignot] 1980). Mich führen Laure und die Geschichte des Acéphale zum dritten Schritt zurück: zum Schritt in die Romantik, das heißt in die Zeit zwischen der Französischen Revolution 1789, der Revolution von 1848 und der Pariser Commune von 1871.

Noch in einem späten Text hat Breton den Surrealismus in die Tradition einer weit verstandenen Romantik gestellt. Dabei hat er den romantischen Schriftsteller und Philosophen Novalis (1772-1801) zum Dritten im Bund der Dichter-Halbgötter Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud erhoben, in denen die SurrealistInnen ihre Propheten sahen (Breton 2008, 73 ff.). Stammt von Novalis der Satz „Die Welt muss romantisiert werden“ und von Rimbaud der Satz „Man muss unbedingt modern sein“, kommen beide Sätze trotz des Unterschieds im Akzent im Entwurf eines „dichterischen Lebens“ zusammen. In ihm soll die Überschreitung und Verausgabung des eigenen Lebens der Preis für die Schöpfung nicht nur einer neuen Sprache, sondern einer neuen Welt sein.

Im berühmten „Seher-Brief“ an seinen Freund Paul Demeny schreibt der erst siebzehnjährige Rimbaud: „Ich ist ein Anderer. […] Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, immense und überlegte Ent-Regelung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahns; er forscht selbst, er schöpft in sich alle Gifte aus, um nur die Quintessenzen zu bewahren. (…) Er gelangt zum Unbekannten, und wenn, ganz baff, er dann die Einsicht in seine Visionen verliert – er hat sie gesehen. Mag er bei seinem Springen durch die unerhörten und unbenennbaren Dinge krepieren: Es kommen andere entsetzliche Arbeiter, sie fangen bei den Horizonten an, wo der andere niedergesunken ist. […] Der Dichter ist also wirklich der Dieb des Feuers. Er ist für die Menschheit, ja selbst für die Tiere zuständig; er wird seine Erfindungen spürbar, greifbar, hörbar machen müssen. Wenn das, was er von dort mitbringt, Form hat, gibt er Form: Ist es ungeformt, gibt er Ungeformtes“ (Rimbaud 2010, 25–30).

Wie einige andere DichterInnen fallen Novalis, Baudelaire und Rimbaud der Verausgabung ihrer Subjektivität zum Opfer: Novalis stirbt mit 29 an der Tuberkulose, Baudelaire mit 46 Jahren verarmt und ausgezehrt von Alkohol- und Drogenkonsum. Rimbaud schreibt seine Gedichte und Prosa zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr, bricht sein Schreiben und sein exzessives Künstlerleben dann zugunsten anderer Exzesse ab: nimmt an der Pariser Kommune teil, reist jahrelang kreuz und quer durch das kolonialisierte Afrika, wird Händler, wird wohlhabend, wird krank, kehrt nach Europa zurück und stirbt mit 37 Jahren qualvoll in Marseille, nach der Amputation seines rechten Beines.

Der Geschichte Novalis’, Baudelaires und Rimbauds ist die Geschichte der Karoline von Günderode hinzuzufügen. 1780 geboren, wird sie Schülerin eines Darmstädter Damenstifts, studiert dort Philosophie, Geschichte, Literatur und begeistert sich für die Französische Revolution. Sie liest Schelling, Fichte, Schlegel und Novalis, beginnt zu schreiben und unter dem männlichen Pseudonym Tian zu veröffentlichen: Gedichte über Freiheit und Gefangenschaft, über Liebe und Tod. Trotz prominenter Anerkennung bleibt ihr nur der mehrfach wiederholte Versuch, der bürgerlichen Frauenrolle durch Liebesverhältnisse zu entkommen. „Sie hat das Unglück“, schreibt Christa Wolf, „leidenschaftlich und stolz zu sein, also verkannt zu werden. So hält sie sich zurück, an Zügeln, die ins Fleisch schneiden. Das geht ja, man lebt. Gefährlich wird es, wenn sie sich hinreißen ließe, die Zügel zu lockern, loszugehen, und wenn sie dann, in heftigstem Lauf, gegen jenen Widerstand stieße, den die anderen Wirklichkeit nennen und von dem sie sich, man wird es ihr vorwerfen, nicht den rechten Begriff macht“ (Wolf 2007, 13). Nach dem Scheitern eines letzten Ausbruchsversuchs erdolcht sie sich im Alter von 26 Jahren.

Die Verwirklichung der Philosophie

Spannt man die Epoche der Romantik frei bis auf die Zeit Rimbauds aus, der 1874 zu schreiben aufhört, dann fällt die junghegelianische Bewegung in ihre Mitte. Die Junghegelianer sind keine KünstlerInnen, sondern PhilosophInnen, fallen aber ebenso aus den von ihrer Bildungsgeschichte vorgesehenen bürgerlichen Karrieren heraus. Sie schließen sich der Bohème an, verkehrten in deren Kreisen und Kneipen. Auch die Junghegelianer waren meistens Männer – aber eben nicht nur. Zu ihnen gehört Marie Dähnhardt, die Zigarren raucht und in Männerkleidern in der Berliner Hippelschen Weinstube verkehrt. Dort lässt sie sich 1843 von einem unter Vorwänden herbeigelockten, angesichts der betrunkenen Gesellschaft höchst verwirrten Priesters mit Max Stirner verheiraten. Der sich mit prekären Beschäftigungen durchschlagende Philosoph stellt seinem philosophischen Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum deshalb die für Bücher dieser Art ungewöhnliche Widmung „Meinem Liebchen Marie Dähnhardt“ voran (vgl. Stirner 1986).

Stirner ist heute primär durch die maßlos ungerechte, selbstdestruktive Polemik bekannt, mit der Karl Marx und Friedrich Engels ihn in der Kritik der Deutschen Ideologie überziehen, in der er als „Sankt Max“ firmiert. Das zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlichte Buch markiert den entscheidenden Bruch im Junghegelianismus. Dieser Bruch ist heute, anders als Marx und Engels damals glaubten, weniger als Bruch zwischen Materialismus und Idealismus denn als Bruch zwischen Sozial- und KünstlerInnenkritik zu lesen.

Nicht zufällig kann das im Blick auf den Unterschied verdeutlicht werden, in dem Boltanski/Chiapello die Grenze der Vermittlung beider Formen der Kritik ausgemacht haben: dem Unterschied von spezifischer und generischer Entfremdung und damit von spezifischer und generischer Emanzipation. Ich habe schon gesagt, dass der Unterschied selbst auf unabsehbare Zeit problematisch bleiben wird, dass er ethisch, politisch und ästhetisch immer neu zur Disposition gestellt werden muss. Ginge man die hier versammelten Geschichten auf dieses Problem hin noch einmal durch, ließe sich zeigen, dass der Tod und das Verhältnis zum Tod vielleicht sein dichtester, auch sein wundester Punkt sind: Verhältnis zur generischen Entfremdung par excellence, Einforderung der generischen Emanzipation par excellence. Auch deshalb grundieren beide, Tod und Todesverhältnis, viele Gedichte, Dramen, Romane, Bilder und Aktionen. Sie bilden zugleich den Fluchtpunkt entscheidender theoretischer Anstrengungen – und theoretischer Verfehlungen. Als wichtigster Protagonist der Sozialkritik hat sich Marx zum Tod nur sehr lapidar geäußert, in einer geradezu erschütternd unreflektierten Entscheidung für das überindividuelle Gattungsleben: „Der Tod scheint als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimmtes Gattungswesen, als solches sterblich“ (Marx 1974, 539). Stirner, in dieser Hinsicht klarer Protagonist der KünstlerInnenkritik, hat sich gerade diesen Trost versagt und dabei in aller Schärfe das Leben exponiert, für das der Tod äußerster Gattungszwang bleibt: „Allein, die Gattung ist nichts, und wenn der Einzelne sich über die Schranken seiner Individualität erhebt, so ist dies vielmehr gerade Er selbst als Einzelner, er ist nur, indem er sich erhebt, indem er nicht bleibt, was er ist; sonst wäre er fertig, tot. Der Mensch ist nur ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes. Ein Mensch sein, heißt nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern sich, den Einzelnen, darstellen. Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie Ich Mir genüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster …“ (Stirner 1986, 200).

Wiederum nicht zufällig markiert der Acéphale-Mythos hier eine mittlere Position, indem er ausgerechnet Stirners todesbewusste Gattungsverweigerung zum Ausgangspunkt einer postreligiösen Kommunion machen will. In einem Brief an einen Gefährten der Acéphale-Zeit schreibt Bataille 1939: „In ihren Ursprüngen ist die Freude vor dem Tod die Formel einer mystischen Meditation. Es handelt sich um eine Freude angesichts der Gewissheit des Todes und um das Fundament einer religiösen Existenz, die sich vom Christentum trennt. Der Mensch kann statt der Repräsentation Gottes die Vorstellung seines eigenen Todes zum Gegenstand der Meditation und der Ekstase machen. Das erwartete Ergebnis kann nur der freudig als Vollendung des Lebens hingenommene Tod sein, nicht aber die Suche nach dem Tod, die die Verdammung des Lebens bedeutete. Der Tod hat nichts von einem souveränen Gut. Was geliebt werden kann, ist das Leben, aber das Leben ist das, was sich im Tod verliert, und diese Möglichkeit, sich zu verlieren, kann bis zur Ekstase geliebt werden“ (zitiert nach Bischof 2010, 188 f.).

 Die im Junghegelianismus philosophisch markierte Spaltung von Sozialkritik und KünstlerInnenkritik hat – nach dem Vorlauf nicht nur, doch vor allem des Surrealismus – erst der Mai 1968 wieder überbrücken wollen. Von dort sind die heutigen, in verschiedener Weise „postmarxistischen“ Formen der Kritik zu verstehen, in denen Marx und Stirner, Marx und Rimbaud, Marx und Nietzsche mehr oder minder zwanglos aufeinander bezogen werden. Noch heute geschieht das getreu der Einsicht nicht nur Bretons, nach der die kollektive Veränderung der Welt von der Veränderung eines einzelnen Lebens nicht getrennt werden darf. Mit meinen Geschichten aus der Geschichte der Kämpfe um Lebensweisen bin ich jetzt an ein vorläufig Ende gelangt. Vorläufig, weil ich jetzt eine offene Reihe von Fragen aufwerfen will, Fragen, die sich den Kämpfen stellen, in denen heute und auch übermorgen noch um andere Lebensweisen gekämpft wird.

Noch einmal: Die Einzigen und die Menge

Wenn neuere Vermittlungen von Sozial- und KünstlerInnenkritik den Begriff der Klasse in den der Multituden aufheben, soll im Begriff markiert werden, dass Kämpfe um Produktionsweisen von Kämpfen um Lebensweisen nicht getrennt werden können. Sie werden deshalb aber, das ist der zweite und entscheidende Zug, immer nur im nie abzuzählenden Plural ausgetragen. Es gibt Multituden, also „Mengen“, immer nur als Mengen aktiv sich verbindender und aktiv sich vereinzelnder Subjektivitäten, als Multituden von Singularitäten.

Darin wiederholt sich das Kernproblem der Romantik und später der Avantgarden. Für Hegel und Marx war die Romantik Ausdruck einer aufgespreizten, sich in sich einhausenden Subjektivität. Baudelaire, Rimbaud, Nietzsche, Laure und zuletzt Foucault aber ging es um eine Subjektivität, die sich in ihrer Vereinzelung hin auf ein Gemeinsames überschreitet. Baudelaire sagt ausdrücklich, dass der Künstler ein „Mann der Menge“ ist (Baudelaire 1990b, 293). Rimbaud hat die in der Vereinzelung zu unternehmende Schaffung eines Gemeinsamen sogar, ich habe das oben zitiert, als die eigenste Aufgabe der DichterIn bezeichnet. Sie sei deshalb, so heißt es ausdrücklich, „für die Menschheit, ja selbst für die Tiere zuständig“ und müsse ihre einsamen Erfindungen gerade darum „spürbar, greifbar, hörbar machen“.

Die schlichte Lebenserfahrung lehrt uns, dass beide Recht haben: es gibt in sich eingehauste Subjektivitäten – der Neoliberalismus zehrt von ihnen und produziert sie in Serie. Und: es gibt die sich vereinzelnde Subjektivität, die für sich, für uns alle und sogar für die Tiere und die GöttInnen das Feuer zu stehlen versucht. Wie also scheiden wir die jeweils einzigen existenziellen oder surrealen Revolten vom „Ich, Ich, Ich“ des neoliberalen Realismus? „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!“, notiert Nietzsche in tiefstem Einklang mit Baudelaire: „Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten. (…) Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen. Wer nicht glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewusstsein“ (Nietzsche 1980, 503).[4]

Noch mal: Das gute Leben

Das führt vielleicht nicht direkt, jedoch früher oder später hin zur aktuellen Begeisterung für die Spiritualität indigenen „buen vivirs“ und seiner „Pachamama“, seiner „Mutter Erde.“ Auch und gerade hier waren uns die Avantgarden voraus, beginnend in den 1880er Jahren mit der Übersiedlung des Paul Gauguin nach Polynesien. Seinen Reisen folgten ungezählte andere Reise vieler anderer KünstlerInnen, bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein.

Für Breton, Bataille und schließlich Antonin Artaud war die Auseinandersetzung mit der indigenen, mit der vor- und außerchristlichen, vor- und außereuropäischen, aber auch mit der christlich-mystischen Spiritualität ein Schwerpunkt ihrer künstlerischen, theoretischen und politischen Arbeit. Sie haben dabei schnell verstanden und in aller Deutlichkeit gesagt, dass weder mit der exotistischen Kitsch-und Schundformel vom „Einklang mit der Natur“ noch mit einem wie auch immer zu erneuernden „Einklang mit Gott“ die Fragen zu lösen sind, die der „Tod Gottes“ uns stellt. Artaud hat seine Recherche du temps perdu mit dem Leben bezahlt, Bataille seinen Gegen-Mythos aufgegeben, an seiner „inneren Erfahrung“ und dem Versuch ihrer Mitteilung aber festgehalten (vgl. Bataille 1999).

Dennoch: „Pachamama“, das lässt sich hier lernen, stellt nicht einfach nur den Kapitalismus, sondern die ganze christlich-abendländische Zivilisation in Frage. Und: Sie stellt eben deshalb auch, wie aktuell in Ecuador zu sehen, den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Frage. Geht es dabei um ökonomisches Wachstum und antiökonomistische Wachstumskritik, geht es zugleich immer auch um Religion und Religionskritik und folglich, beides zusammennehmend, um Technik-Kritik. Was hat uns das inmitten einer Welt zu sagen, die in zwanzig, dreißig Jahren an vielen Orten unbewohnbar sein wird wie der Mond? Und: Was hat uns das in einer Welt zu sagen, in der Liberalismus und Fundamentalismus die beiden Fronten eines immer ungeheuerlicheren Krieges bilden? Wie also finden wir jenseits dieser Fronten eine Dritte Option? Jenseits einer mehr und mehr verödenden Säkularität, deren Wahrheit die Aufzehrung der Welt in ihrer technischen Reproduktion und warenförmigen Konsumtion ist? Jenseits zugleich einer postkolonial irre gewordene Religiosität, die sich im Selbstmordattentat vollstreckt? Was wäre beiden gegenüber ein „buen vivir“, ein gutes Leben?

Noch eine generische Entfremdung?

Das „buen vivir“ führt zu feministischen Fragen. Zurecht besteht der Feminismus auf einer radikalen Veränderung der Arbeitsteilung, in der die vier Formen der Arbeit – die unumgängliche Erwerbsarbeit, die Arbeit an sich selbst und den Anderen, die politische Arbeit und die zweckfreie Arbeit an den eigenen Möglichkeiten – in ein freies Verhältnis gebracht werden (Haug 2009). Zu Recht nimmt diese Frage in den Transformations-Debatten eine prominente Position ein. Muss nun aber, wer die vier Formen der Arbeit in ein freies Verhältnis setzen will, sie damit zugleich „in eins“ setzen? Ist es nicht vielmehr so, dass die zweckfreie und deshalb antiökonomische Arbeit an den eigenen Möglichkeiten den drei anderen auf immer widerspricht und widersprechen wird? Folgt nicht jedes fixe Verhältnis der vier Formen der Arbeit letzten Endes nur der Spießerlosung „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“, oder, in feinerer Formulierung, der bildungsbürgerlichen Anrufung von Muße und Musen?

Geht der Zweifel am „Vier-in-eins“ nicht über das Geschlechterverhältnis hinaus auf jedes mögliche gesellschaftliche Verhältnis? Und umgekehrt, auf intimere Verhältnisse bezogen: Bleibt nicht jedem „in eins“ voraus erst einmal die berühmt-berüchtigte Formulierung des Psychoanalytikers Jacques Lacan zu bedenken, nach der es „keine geschlechtliche Beziehung“ gibt? Hat er nicht Recht mit den Einwänden, die ihn nötigten, diese Formulierung immer wieder zu wiederholen: dass es keine wie auch immer „natürliche“, deshalb aber eben auch keine „richtige“ soziale Beziehung geben kann, dass es keine reziproken, zumindest aber keine symmetrischen Beziehungen geben kann, dass Beziehungen deshalb nie harmonisch sein werden, dass es in Beziehungen zumeist um mehr und um weniger als um Personen geht, die für sich und füreinander „eins“ wären?[5] Sind das generische oder spezifische Entfremdungen? Welche Rolle spielt hier oder was wäre von hier aus eine amour fou, eine leidenschaftliche und verrückte Liebe? Gibt es so etwas heute überhaupt noch? Müsste es das nicht geben? Wäre eine verrückte und leidenschaftliche Liebe das Andere zum Singles-Sex oder ist sie das, was da gesucht wird? Realisiert der Singles-Sex nicht auf seine Weise, dass es keine geschlechtliche Beziehung gibt?

Realität, Surrealität und Agonie des Realen

Bleiben wir bei der Arbeitsteilung. Verdichtete sich das Problem der technischen Reproduktion von Leben und Welt schon für die SituationistInnen in den Technologien der Massenkommunikation, hat sich dieses Problem heute radikal verschärft. Was den SituationistInnen die Freizeitindustrie und der Städtebau war, sind uns die sozialen Netzwerke, die wir bald implantiert mit uns tragen werden. Sie sind, das wissen wir, nur die benutzerfreundliche Oberfläche des „general intellect“, der heute nicht nur die Kommunikation, sondern überhaupt jede Produktion und Reproduktion sozialer Beziehungen und alles sozialen Reichtums trägt und durchwebt, alle unsere Lebensweisen. Erinnern wir dessen berühmte Formulierung bei Marx.

„Die Natur baut“, so sagt Marx in den Grundrissen, „ keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses“ (Marx 1983, 602). Wie aber, so ist doch zu fragen, scheiden wir in der Welt des general intellect Realität und Irrealität? Wie scheiden wir in dieser Welt und ihren Kämpfen um Lebensweisen Realität und Surrealität? Sind wir nicht längst dem ausgeliefert, was der Soziologe Jean Baudrillard, dem die SituationistInnen die Aufnahme in die Internationale verwehrten, die „Agonie des Realen“ jenseits von Realität und Surrealität genannt hat: eine Welt von Zeichen, die nur noch auf Zeichen verweisen? Hatte er nicht Recht, als er eine Kommunikationsguerilla, die diesen Namen verdiente, auf die Todesbejahung Batailles verwies, die ja selbst „nur“ eine späte Wiederholung der Todesbejahung des Sokrates ist: „dass man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muss, sondern das gut leben“? (vgl. Baudrillard 2009). Und: Wie verhält sich unser in die sozialen Netzwerke des general intellect überführtes Verhältnis zur Welt, zu uns selbst und zueinander zur Revolution des Städtischen – zu dem gerade eben erst absolvierten Jahrtausendsprung, seit dem erstmals in der Menschheitsgeschichte überhaupt mehr Menschen in den Städten als auf dem Land leben? Für Henri Lefebvre, in dessen Seminaren Debord und Baudrillard aufeinander trafen, war la révolution urbaine eine Revolution eben nicht der Städte, sondern des Städtischen, das mit dem Unterschied von Stadt und Land auch den des Globalen und des Lokalen hinter sich gelassen hatte? Wie verhält sich die globale Verstädterung zur globalen Vernetzung, beide auch als alltägliche Lebensweisen einer jeden verstanden?

Ein, zwei, viele Cercle Communiste Democratique

Die Klärung all’ dieser Fragen verlangt eine ganz eigene „organische Intelligenz“. Das Zeitalter der Avantgarden ist vorbei, der Mai 68 bald 50 Jahre her. Seither wissen wir oder sollten wir wissen, dass das Private politisch und das Politische immer auch eine Sache der ersten Person ist. Die aber ist zugleich mehr und weniger als eine erste Person. Hier öffnet sich der Abgrund der Freiheit, hier ruft die Freiheit nach ihren VirtuosInnen. Wie aber wird man VirtuosIn der Freiheit? Wie gestalten wir, besser: wie gestaltet sich das Verhältnis von VirtuosInnen und Laien ihrer Transformation? Und, wichtiger und problematischer noch, wie gestaltet sich das Verhältnis der zur Surrealität offen stehenden Einzelnen und Gruppen zum unerbittlichen Realismus der großen Mehrheit? „Es wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen“, schrieb Breton im ersten surrealistischen Manifest, „an denen teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt“ (Breton 1977, 21). Wenn man solche Versammlungen und Bewegungen nicht auf die Plätze bringt, wie man in irgendeiner Gasse einen Streit vom Zaun bricht, dann liegt das daran, dass sie sich in jedem einzelnen Fall auch einem hazard objectif, einem objektiven Zufall verdanken. Wie also bereiten wir ihren Aufbruch vor, wie bereiten wir uns auf ihren Aufbruch vor? Sozial- und KünstlerInnenkritik kamen immer schon darin überein, in diesen letzten Fragen immer auch Organisationsfragen zu sehen.

 

Literatur

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[1]               Der folgende Text ist eine erweiterte Fassung der Luxemburg Lecture, die ich am 27. 06. 2014 zum Auftakt der III. Transformationstagung des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung gehalten habe.

[2]              Die Doppelung des deutschen und des französischen Titels weist auf den Dimensionssprung von der Stadt ins Städtische hin. Vgl. dazu das Vorwort Klaus Ronnebergers (ebd.: III).

[3] Der Sammelband Es brennt! Pamphlete der Surrealisten dokumentiert vier programmatische Erklärungen von Contre-Attaque und die Austrittserklärung Bretons und seiner GefährtInnen, vgl. Becker 1998, 118-135.

[4]              Gleichsinnige Überlegungen Baudelaires finden sich in seinem berühmten Essay Der Maler des modernen Lebens, Baudelaire 1990b.

[5]              Eine bündige Zusammenstellung dieser mehrfach wiederholten und abgewandelten Formulierung und ihrer Begründungen gibt Evans (2002, 122 f.).