Hundert Jahre Einsamkeit

Linke und soziale Bewegung in der ”Berliner Republik”

Dieser Text erschien als Kollektivtext der Redaktion „Fantômas“ (2002-2008, 13 Ausgaben), an der mitzuwirken ich das Glück hatte. Er analysiert die Aufbruchskonstellation der Alterglobalisierungslinken in Deutschland und erschien 2002 erst im Heft 22 der italienischen Zeitschrift DeriveApprodi, dann in der Nummer 466 der Monatszeitung analyse und kritik. (Länger)

Für die neoliberalen Ideologen markierte der Zusammenbruch des sowjetisch kontrollierten ”Lagers” das ”Ende der Geschichte” im globalen Triumph der westlichen Demokratie und der Freiheit des Welthandels. In atemberaubender Geschwindigkeit zersetzten sich sämtliche politischen Formationen, die das Prozessieren des Kapitals begrenzen oder brechen wollten. Dies gilt nicht allein für die realen Sozialismen, sondern auch für die Parteien und Gewerkschaften der europäischen Sozialdemokratie, für die Neuen Sozialen Bewegungen und die ihnen verbundene Neue Linke und für die aus den antikolonialen Kämpfen hervorgegangenen Befreiungsbewegungen und Entwicklungsstaaten des Südens. Mit Anbruch der neunziger Jahre stehen sie alle vor der Wahl, sich der neoliberalen Transformation des kapitalistischen Weltsystems anzuschließen oder bis zur vollständigen politischen Bedeutungslosigkeit marginalisiert zu werden. Dass dabei auch Machtapparate beseitigt wurden, die jahrzehntelang soziale Revolten rekuperiert oder kanalisiert haben, ging im Lärm eines ”antimarxistischen Konzerts” (Derrida) unter, das die Wahrnehmung der ”Restlinken” ähnlich paralysierte wie das weiße Rauschen eines leerlaufenden TV den trunkenen Schläfer im Fernsehsessel. Weil die besondere deutsche Variante dieses Prozesses sich stärker als anderswo noch vom Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und der letztlich bis zum Ende der achtziger Jahre dauernden ”Nachkriegsepoche” her bestimmt, sei der Analyse der gegenwärtigen Konstellation von sozialer Bewegung und politischer Linken in Deutschland eine Vergegenwärtigung der Nachkriegsgeschichte vorausgesetzt. Daran anschließend werden der in Deutschland wesentlich im attac-Netzwerk organisierte Aufbruch der “globalisierungskritischen” Bewegung und die kurze Geschichte der ”antinationalen” bzw. ”antideutschen” Strömung der Linken nachgezeichnet. Mit dieser Auswahl soll die Konstellation von sozialer Bewegung und politischer Linken nicht auf attac bzw. die Antinationalen reduziert werden. Beide stehen hier vielmehr symptomatisch als Verdichtungen der Potenziale wie der Grenzen, die erst von anderen Bewegungsformen und von einer anderen Linken entwickelt bzw. überwunden werden können. Insofern bilden attac wie die Antinationalen lediglich die Hohlform der Bewegung und der Linken, auf deren hoffentlich nicht allzu fernes Hervortreten wir setzen.

Postfaschismus und Antikommunismus vor…

Die nationalsozialistische Diktatur, der Krieg und der Holocaust schlossen die auch physische Vernichtung großer Teile der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer sozialdemokratischen und kommunistischen Linken ein. Ermöglicht wurde dies vor allem durch die bis weit in die proletarischen Milieus hinein reichende ”volksgemeinschaftliche” Formierung der deutschen Gesellschaft. Im Begriff der ”Volksgemeinschaft” fassten die Nazis ihr Projekt einer ”Überwindung” der sozialen Widersprüche im einerseits auf die ”nationale Arbeit”, andererseits auf die ”Ausmerzung der Volksschädlinge” gegründeten Staat der ”Totalen Mobilmachung”. Die volksgemeinschaftliche Formierung der Gesellschaft überdauerte die militärische Niederlage und die mittlerweile abgeschlossene Epoche deutscher Zweistaatlichkeit. Konstitutives Element ihrer im Kern ungebrochenen Hegemonie sind ein rassistisch und antisemitisch grundierter, in sich allerdings mehrfach differenzierter Antikommunismus. Während in Italien und Frankreich KommunistInnen wenigstens als TeilnehmerInnen am antifaschistischen Widerstand breite Anerkennung fanden, waren EmigrantInnen und erst recht WiderstandskämpferInnen für die meisten Deutschen noch auf Jahrzehnte ”Volks-” und ”Vaterlandsverräter”.

Dass dies von links nicht aufgebrochen werden konnte, hing wesentlich an der auch für die Reorganisation der Linken bestimmenden Zweistaatlichkeit Nachkriegsdeutschlands. Dabei wurden die beiden Nachfolgestaaten des ”Dritten Reiches”, BRD und DDR,[1] zu Frontstaaten der globalen Systemkonkurrenz. Mit westalliierter Hilfe kam es in der BRD zu einer Restauration bürgerlicher Herrschaft, in der der volksgemeinschaftliche Konsens zur gesellschaftlichen Basis des kapitalistischen ”Wirtschaftswunders” wurde. Dieses wiederum wäre ohne die aktive Mitwirkung der Gewerkschaften nicht möglich gewesen, die sich dadurch einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausformung des westdeutschen Sozialstaats und die industriellen ”Mitbestimmungs”-Organe sichern konnten.[2] Politisch legitimiert wurde dieser Klassenkompromiss durch die extrem antikommunistische Ausrichtung der westdeutschen Sozialdemokratie.[3] Die verdankte sich dem Umstand, dass der Stalinismus ”auf deutschem Boden” nicht nur konkurrierende Partei, sondern konkurrierender Staatsapparat geworden war. Hier liegt ein weiterer signifikanter Unterschied zur Entwicklung in Italien oder Frankreich vor, in der der Parteikommunismus aus der Position einer von der Regierungsmacht getrennten Opposition agierte.

Auch wenn die Verhältnisse in der DDR im Westen nur durch den Filter des Kalten Krieges wahrzunehmen waren, war es der ohnehin schwachen linken Opposition in- und außerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften verständlicherweise nicht möglich, sich positiv auf diesen Staat und die ihm verbundene westdeutsche Kommunistische Partei zu beziehen. Mit dem Verbot der KPD[4] im Jahr 1956 wurde die absolute Marginalisierung des Parteikommunismus, mit ihm aber auch jeder anderen radikalen Linken in der BRD besiegelt.

In der DDR wurden KPD und SPD 1949 unter massivem sowjetischen Druck zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereinigt. Vollständig mit dem stalinistischen Staatsapparat verschmolzen, gründete die bald von jeder Abweichung ”gereinigte” SED ihre Herrschaft auf eine ”marxistisch-leninistische” Übercodierung des volksgemeinschaftlichen Konsenses. Dieser bestimmte damit auch im ”deutschen Arbeiter- und Bauernstaat” eine im besonderen Maß homogenisierende Vergesellschaftung.

…und nach dem Mai 68

Die Revolten der sechziger Jahre konnten diese Konstellation nur vorübergehend erschüttern. Die 1968 wiederbegründete Deutsche Kommunististische Partei (DKP) wurde in der BRD bald zur stärksten Organisation der Post-68er Linken mit zeitweise erheblichem Einfluss auf Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Ihre Politik zielte primär auf die Anerkennung durch die Sozialdemokratie und verstärkte damit zwangsläufig den niemals zureichend reflektierten Antikommunismus in den undogmatischen Strömungen der Neuen Linken und den Neuen Sozialen Bewegungen.[5] Deren Vorbehalte gegenüber der kommunistischen Tradition gründeten natürlich nicht allein in der Distanzierung von der DKP oder den Staaten des sowjetischen Blocks, sondern primär in der Autonomie und im eigentlich ”Neuen” des eigenen Aufbruchs. In der spezifisch deutschen Konstellation ergab sich daraus aber gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten ein faktisches Einverständnis mit dem herrschenden Antikommunismus, der damit unvermerkt in die eigene Position einfloss. Dabei gründete die Hegemonie des von rechts bis links ausdifferenzierten antikommunistischen Diskurses in wenigstens vier ideologischen Effekten. Zum ersten relativierte der Antikommunismus die nationalsozialistische Herrschaft auf ihr stalinistisches ”Gegenstück”. Das entlastete auch deutsche Linke von der Reflexion auf die aktive Teilhabe der eigenen Gesellschaft am nationalsozialistischen Terror. Zweitens sorgte er für eine bedingte Loyalität wiederum auch der Linken zum vergleichsweise liberaleren politischen System der BRD. Drittens erschwerte er jede ”Linksabweichung” der Arbeiterbewegung und sicherte so deren Einbindung in den von oben fortschreitend entleerten Klassenkompromiss. Viertens sicherte er die Tradierung des volksgemeinschaftlichen Konsenses über sämtliche historischen Brüche der Nachkriegsgeschichte hinweg.

Mit der ”Wiedervereinigung” der beiden deutschen Staaten modifizierte sich der Antikommunismus zur nahezu vollständigen Abschottung gegen jede Form einer linken Alternative. Wesentliche Teile der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen sowie die Mehrheit der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung integrierten sich jetzt in den hegemonialen Block und sorgten dabei für dessen neoliberale (Post-)Modernisierung zum ”Konsens der Demokraten”. Die organisierten Zusammenhänge der ausgezehrten linken Opposition sackten wie Kartenhäuser zusammen.

 

Berliner Republik

Die herrschaftliche Umkehr der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus durch den wiedervereinigten deutschen Staat artikulierte sich im erneut mit Waffengewalt erhobenen Anspruch auf wenigstens gleichberechtigte Teilhabe am zur ”internationalen Gemeinschaft” stilisierten Block der dominanten Staaten. Dem entsprach die weitgehende Aufkündigung des internen Klassenkompromisses. Forciert wurde dieser Prozess 1998 nach dem Wahlsieg der von Sozialdemokraten und Grünen gebildeten Koalition. In der ”Berliner Republik” fiel die politische Führung jetzt einem Personal zu, das biographisch für sich in Anspruch nimmt, in der (Post-)Modernisierung der Volksgemeinschaft die Revolten der 60er Jahre zu vollenden und deshalb auch zum imperialen Mandat legitimiert zu sein. In atemberaubender Weise hüllte die ”Neue Mitte” ihr neoliberales Programm in einen aggressiven Wohlstandschauvinismus ein. Dessen Hegemonie bewies sich in einem hochgradig flexiblen Verhältnis zum seit der ”Wiedervereinigung” eruptiv anwachsenden Straßenrassismus. Je nach Opportunität wird die rassistische Alltagsgewalt in Staatsrassismus übersetzt oder zur Legitimierung einer weiteren Aufrüstung der repressiven Staatsapparate benutzt: in jedem Fall ein win-win-Spiel für die (post-)modernisierte Volksgemeinschaft!

Dem schon Anfang der 90er Jahre erfolgten Zusammenbruch der radikalen Minderheitsströmung der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen folgte nach dem ausgerechnet von der rotgrünen Koalition legitimierten Überfall auf Jugoslawien die Demoralisierung ihrer staatsreformistischen Mehrheitsströmung. Wie sehr sich dabei Erbärmlichkeit und Infamie mischten, zeigte sich in der gespenstischen ”68er-Debatte” des Jahres 2000. Während die konservative Opposition führende Politiker der rotgrünen Regierung wegen ihrer militant linken Vergangenheit zu denunzieren suchte, verteidigten sich diese durch die überlegene Demonstration ihrer demokratischen ”Läuterung” und verstärkten damit die Denunzierung jeder Form linker Militanz. Die Schwäche der Restlinken offenbarte sich zuvor schon in der Kampagne gegen den Kölner G 8-Gipfel 1999, die in Ausmaß und Qualität deutlich hinter vorangegangenen Kampagnen in den Nachbarländern zurückblieb.

 Nachholende Entwicklung I

Nach den Genoveser Demonstrationen im Juli 2001 und der blutigen Repression der ”chilenischen Nacht” formierten sich endlich auch in Deutschland zaghafte Ansätze einer globalisierungskritischen Bewegung. Exemplarisch lässt sich dies in der Entwicklung des deutschen Zweigs des internationalen Attac-Netzes belegen, der Anfang 2000 von einer Reihe von NGO als ”Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte” gegründet wurde. Bis Genua schien Attac Deutschland gegenläufig zum internationalen Trend ein Flop zu werden. Auffällig waren vor allem das nahezu vollständige Fehlen von Jüngeren und die Abwesenheit radikaler Linker. Nach Genua nahm der Organisierungsprozess turbulente Ausmaße an, die Medien stilisierten Attac zum Subjekt der globalisierungskritischen Bewegung, Alibilinke der SPD und der Grünen suchten demonstrativ den Schulterschluss. Die Organisierung verbindet drei Ebenen: Sie ist zum einen ein Netzwerk unterschiedlicher politischer Formationen – NGO, Gewerkschaftsgruppen, Verbände der Kirchen – und zugleich eine in autonomen lokalen Gruppen verankerte soziale Bewegung, der man sich individuell anschließt. Aus der Vernetzung beider Organisierungsebenen gehen besondere thematische Arbeitszusammenhänge hervor, die auf einen systematischen Austausch zwischen aktivistischen Erfahrungen und der ”Gegenexpertise” kritischer NGO oder akademischer Linker zielen. Politisch kennzeichnend ist zum einen der Versuch der Reartikulation eines staatsreformistischen Projekts, zum andern eine grundlegend internationalistische Orientierung.

Nach dem 11. September und dem Überfall auf Afghanistan verurteilte attac sofort sowohl den Angriffskrieg der ”Anti-Terror”-Koalition wie die rassistisch aufgeladene innenpolitische Repression. Trotzdem wurden alle weiteren Aktivitäten von der Drohung überschattet, die in Genua erreichte Öffnung könnte schon wieder verschlossen sein. Der Ende Oktober 2001 in Berlin tagende attac-Kongress konnte diese Befürchtung zerstreuen, die Neugründung von Ortsgruppen und der Beitritt von Einzelmitgliedern dauert in ungebrochener Dynamik noch heute an. Das Ende der neunziger Jahre hat damit auch in Deutschland Einzug gehalten – jedenfalls der Möglichkeit nach. Zweifel daran weckt nicht zuletzt das noch heute fortdauernde Fehlen einer relevanten linksradikalen Strömung in und außerhalb der globalisierungskritischen Bewegung. Dies hat weniger mit der Bewegung und mehr mit der Linken zu tun.

 Nachholende Entwicklung II

Nach der Resignation bzw. Integration der Neuen Linken im Gründungsprozess der ”Berliner Republik” formierte sich eine junge Generation radikaler Linker, deren Grunderfahrung die letztendliche Niederlage ihrer VorgängerInnen und die eigene nahezu vollkommene Marginalisierung war. Angesichts der (Post-)Modernisierung des volksgemeinschaftlichen Konsenses vollzog diese Generation einen doppelten Bruch zur Neuen Linken.[6] In einem ersten Schritt begriff sie sich primär als ”antinationale” bzw. ”antideutsche” Linke und richtete sich damit unmittelbar gegen den volksgemeinschaftlichen Konsens, dessen Sprengung für sie zur Bedingung der (Un-)Möglichkeit eines emanzipativen Projekts wurde.[7] In einem zweiten Schritt wendete sie sich konsequent gegen jeden ”massenpolitischen” Ansatz, setzte auf die ”Antipolitik” einer prinzipiell praxisfernen Negativität und griff dabei auf Argumentationsfiguren der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers zurück. Damit wurde die antinationale bzw. antideutsche Linke das historisch längst überfällige Korrektiv auf die Unfähigkeit sowohl der Traditions- wie der Neuen Linken, der postfaschistischen Konstellation ”deutscher” Vergesellschaftung gerecht zu werden. Zwar war das Erschrecken vor der Beteiligung der eigenen Eltern am Nationalsozialismus schon für den Aufbruch der Neuen Linken in den 60er Jahren konstitutiv; doch erst die Antinationalen und Antideutschen der 90er Jahre konfrontierten sich unverstellt der traumatischen Einsicht, dass die Mehrheit der deutschen Gesellschaft die nationalsozialistische Herrschaft und mit ihr den Holocaust aktiv unterstützt hatte. Auch haben erst die Antinationalen voll realisiert, dass der volksgemeinschaftliche Zusammenhang der Mehrheitsgesellschaft zentrale Momente nationalsozialistischer Ideologie wachhielt: allem voran die nahezu unaufkündbare Zustimmung zu einem im Arbeitsethos begründeten und rassistisch bzw. antisemitisch grundierten nationalen Klassenkompromiss. Das ermöglichte es ihnen, ihre Kritik an der volksgemeinschaftlichen Vergesellschaftung mit einer ebenso zutreffenden Kritik einerseits der Populismen, andererseits der Etatismen zu verbinden, die sowohl in der Linken der Arbeiterbewegung wie in der Solidarität mit den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen des Südens leitend gewesen waren. Im Recht ihrer fundamentalen Skepsis muss die antinationale Kritik deshalb zunächst als notwendige theoretische Innovation verstanden werden.

Der Niedergang der antinationalen Kritik

Angesichts dieser Ausgangssituation reduzierte sich die Praxis der antinationalen bzw. antideutschen Linken auf die publizistische Kommentierung politischer Ereignisse, an denen sie selbst keinen Anteil nahm und auch nicht nehmen wollte. Damit aber wurde die Kritik zur self-fullfilling-prophecy, in der die eigene Marginalisierung zum Beweis der Wahrheit der eigenen Position wurde – eine ideologische Verkennung, die in hegelmarxistischen Denkfiguren vor jedem Einwand abgesichert wurde. Da die antinationale Publizistik auf die restlinken Milieus beschränkt blieb, nahm sie diese auch zum Ziel und konzentrierte sich dabei auf den Nachweis einer Verstrickung der Traditions- wie der Neuen Linken in den volksgemeinschaftlichen Konsens. Wer sich in seiner politischen Praxis an außer-linke Milieus richtete, verfiel dem scharfrichterlichen Verdikt, Anschluss an die Volksgemeinschaft suchen zu wollen. Da deren sozialer Kitt letztlich im Antisemitismus bestand, mussten folglich auch und gerade der Linken antisemitische Tendenzen attestiert werden. Der Rückzug in die Moralität einer ‚reinen‘ Kritik kulminierte nach den Anschlägen von New York und Washington und kürzlich wieder in den Protesten zum Bush-Besuch in Berlin. Weil die Reste der Friedens- und AktivistInnen der globalisierungskritischen Bewegung z.T. in klassisch-antiimperialistischer Tendenz gegen die ”Anti-Terror”-Allianz Stellung bezogen, inszenierten Teile der antinationalen Linken eine bald ins Absurde abkippende Debatte, in der jede Kritik an den USA als Parteinahme für die Attentäter des 11. September denunziert wurde. Der gegen jede Wahrnehmung abgedichtete wahnhafte Zug der Debatte verstärkte sich in der Auseinandersetzung um den Terror einerseits des israelischen Besatzungsregimes und andererseits der palästinensischen Selbstmordattentate. Dabei kam es zu einer paradoxen Verkehrung klassisch-antiimperialistischer Deutungsmuster. Ignorierte die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen des Südens deren in der nationalistischen Ideologie und der Logik des bewaffneten Kampfes begründeten reaktionären Züge, verfingen sich jetzt Teile der antinationalen Kritik im imperialen Kalkül und den rassistischen Ideologemen der ”Anti-Terror”-Allianz. Dem entsprach, dass die Distanzierung sowohl von al-Qaida wie von den Taliban unvermerkt in eine Äquidistanz zu allen Fronten des ”Anti-Terror”-Krieges übersetzt wurde – was angesichts der globalen Machtverhältnisse eine grobe Fahrlässigkeit darstellt. Den Tiefpunkt der antinationalen Kritik markierten diejenigen, die sich offen auf die Seite der kriegführenden Mächte schlugen und dabei deren Deutungsmuster – Zivilisation vs. Barbarei, Moderne vs. Antimoderne, ”unsere Lebensweise” vs. ”deren Lebensweise” – übernahmen: unter gar nicht klammheimlichem Verzicht auf eben die Kapitalismuskritik, für die man zuvor das Exklusivrecht in Anspruch genommen hatte. Darin zeigt sich nichts anderes mehr als die bereits habituell verfestigte Unfähigkeit metropolitaner Linker, die eigene privilegierte Position reflektieren und den Horizont der Metropolenerfahrung relativieren, geschweige denn übersteigen zu können.

Die Entpolitisierung des Alltagslebens

Dass der Umschlag der antinationalen Kritik in vollständige ideologische Verkennung selbst noch zur Geschichte der volksgemeinschaftlichen Vergesellschaftung gehört, muss historisch hingenommen werden und macht insofern die subjektiv tragische Dimension des ganzen Prozesses aus. Das Scheitern der Antinationalen führt aber auch in die Geschichte der Neuen Linken zurück, in den Mangel einer adäquaten Selbstkritik in der Folge des Abschwungs sozialer Bewegung ab Mitte der 80er Jahre. Damals schlug sich die Krise avantgardistischer Politikvorstellungen, die zuvor theoretisch aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der antikolonialen Kämpfe extrahiert worden waren, in einer Verwerfung jeder an die sozialistisch-kommunistische Erfahrung anschließenden theoretischen Praxis nieder. Abstrakt wurde diese Verwerfung dort, wo sie auf die kritische Auseinandersetzung mit dieser Tradition verzichtete, sich pauschal vom Marxismus verabschiedete und dabei jegliche Reflexion auf die sog. ”Organisationsfrage” ausschaltete. Der damit einher gehende Verlust historischen Wissens bestimmte gegen Ende der 80er Jahre die weitere politische Entwicklung der Grünen wie der Autonomen als der beiden Strömungen, die im engeren Sinn zur Linken der Neuen Sozialen Bewegungen geworden waren.[8] Obwohl Grüne und Autonome sich rasant auseinander entwickelten, wurde die ”Politik in erster Person” – zentrale Errungenschaft der Neuen Sozialen Bewegungen – in beiden Milieus zunehmend subjektivistisch überdreht. In der Folge kam es zur Ersetzung der theoretischen Praxis durch einen Empirismus der Realpolitik einerseits und einen Empirismus der reinen Gesinnung andererseits. Dem entsprach, dass beide den Unterschied zwischen einer politischen Linken im engeren und den sozialen Bewegungen im weiteren Sinn einebneten, indem sie sich selbst mit der Bewegung identifizierten. Paradoxerweise verspielten sie gerade dadurch jede Chance, auf deren Dynamik Einfluss zu nehmen und ihren in dieser Zeit schnell stärker werdenden Abschwung zu bremsen oder gar umzukehren.

Der Abschwung der Neuen Sozialen Bewegungen, die Integration der Grünen und die Selbstmarginalisierung der Autonomen führten dann zwar zu einer Rückwendung zur theoretischen Praxis in der antinationalen Linken der 90er Jahre. Doch war dieser mit einer über die Grenzen des eigenen Milieus hinaus reichenden politischen Praxis auch das eigentliche Spezifikum linker Theorie verloren gegangen: der imaginäre und gleichwohl unverzichtbare Vorgriff auf die nie gegebene, sondern immer erst herzustellende und deshalb stets prekäre Einheit von theoretischer und politischer Praxis, den die Traditionslinke in der Formel von der Einheit von Arbeiterbewegung und Marxismus gesucht hatte.

Allerdings resultierte die antinationale Praxisabstinenz eben nicht allein aus ihrem jeder ”Massenpolitik” entgegengesetzten Selbstverständnis, sondern dem voraus aus dem faktischen Fehlen einer relevanten sozialen Bewegung. Dafür aber waren nicht allein die theoretischen und politischen Fehler ihrer linken Kerne als vielmehr die schon Ende der 70er Jahre einsetzende neoliberale Transformation der sozialen Beziehungen verantwortlich. Deren wesentlicher Effekt lag in der Zersetzung des ”fordistischen” Charakters sowohl der Produktions- wie der ideologischen Staatsapparate und der ihnen angeschlossenen Milieus. Damit kam es zu einer tief greifenden Entpolitisierung der sozialen Räume des Alltagslebens. Waren Schule, Universität, Fabrik, Büro und Stadtteil bis in die 80er Jahre immer auch Orte, an denen der herrschende Konsens angefochten wurde, so umgrenzten sie jetzt nur noch ”private” Strategien der persönlichen Absicherung bzw. des persönlichen Fortkommens in der stetig sich ausweitenden ”Kampfzone” einer radikal individualisierten Überlebenskonkurrenz. Wer da nicht mitziehen mochte, zog sich an die subkulturellen Ränder des Alltags zurück.

Ging es in der steten Reproduktion der Volksgemeinschaft um die ”Überwindung” sozialer Konflikte durch eine Homogenisierung unterschiedlicher und deshalb immer auch rebellischer sozialer Milieus, so schloss die ”nationale Einheit” nun gegeneinander isolierte Individuen zusammen. Deren Konformität wird weniger durch Techniken der normalisierenden Disziplin als durch Praktiken der individualisierenden Kontrolle sichergestellt, die primär in der Intimität der gesellschaftlichen Selbstverhältnisse zur Wirkung kommen. Die von der ”Neuen Mitte” besorgte (Post-)Modernisierung des volksgemeinschaftlichen Konsenses zielt auf die nachfolgende politische Anerkennung dieser zwar schleichenden, nichtsdestotrotz aber umfassenden Transformation des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Allerdings schlagen die Auflösung traditioneller sozialer Milieus und die Entpolitisierung des Alltagslebens auch auf die “Neue Mitte” durch. Noch ist nicht ausgemacht, ob ihr Ideologie-Mix aus Konkurrenzindividualismus, Wohlstandschauvinismus und menschenrechtlich auffrisiertem Eurozentrismus die Krise der Repräsentation bewältigen wird, die die Organisationen der traditionellen und der Neuen Linken ebenso zersetzt hat wie die bürgerlichen Parteien und Institutionen.

 Repräsentation ohne Repräsentierte

Dass sich der Neuaufschwung sozialer Bewegung über ebenso alltagsferne wie kaum eben ”sozialdemokratische” Forderungen nach der Einführung einer Tobinsteuer und der Schließung von Steueroasen artikuliert, muss insofern als Reflex der mit der (Post-)Modernisierung der Politik einhergehenden Desorientierung gesehen werden. Dass eine durch die antinationale Skepsis hindurchgegangene Linke mit dem globalisierungskritischen Projekt einer fiskalischen Bändigung des ”entfesselten” Kapitalismus nur wenig anfangen kann, ist dabei mehr als verständlich. Ihrer vorschnellen Distanzierung entgeht jedoch die historische Folgerichtigkeit, mit der die GlobalisierungskritikerInnen dem zur Staatsdoktrin avancierten neoliberalen Immoralismus eine primär moralisch begründete Kritik der Repräsentation entgegensetzen. Jenseits des expliziten Selbstverständnisses der Beteiligten findet die spontane Ablehnung jeglicher Repräsentationspolitik ihre materielle Verdichtung im neuartigen Typus der globalisierungskritischen Organisierung. Selbst das Attac-Netz ist weder Partei, noch NGO-Koalition, noch eine weitere Bewegung im Stil der Neuen Sozialen Bewegungen, es ist auch kein Dachverband, der Parteien, Gewerkschaften, NGO und Bewegungen überwölben würde und zuletzt nicht einmal ein auf einen tendenziell leeren Konsens getrimmtes ”Bündnis”. Der möglichen Aneignung des Potenzials der politischen Form durch die AkteurInnen kommt die soziale Zusammensetzung der Bewegung entgegen. In dieser begegnet eine politische Subjektivität, die ihre Politisierung der Krise der Repräsentation verdankt, Subjekten früherer sozialer Bewegungen und früherer Linken, die in dieser Krise mit ihrer Politisierung zu brechen suchen. Solche Begegnungen können nicht nur Räume relativ autonomer Debatten öffnen, sondern auch ein potenziell antagonistisches Handeln initiieren, das die Logik der Repräsentation hinter sich lässt. Im deutschen Kontext gewinnt dies eine in ihrer politischen Reichweite noch gar nicht erprobte Bedeutung. Hier waren die Neue Linke und die Neuen Sozialen Bewegungen das Projekt einer Jugend, die sich in den 60er und 70er Jahren allein auf theoretischem Weg eine Tradition schaffen und sich danach nur durch den sukzessiven Beitritt jeweils jüngerer Generationen verstärken konnte.

Insofern könnte die globalisierungskritische Bewegung zu einem Medium werden, in dem die historische Erfahrung wenigstens der letzten 30 Jahre bewahrt, ausgetauscht und kritisch durchgearbeitet werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass radikale Linke diese Möglichkeit zu nutzen wissen und sich im Bewusstsein des prekären Unterschieds wie des intrinsischen Zusammenhangs zwischen einer Bewegung und ”ihrer” Linken ins Handgemenge der politischen Praxis begeben. Dabei darf das Potenzial des Organisierungsprozesses nicht mit der Realität bestimmter Organisationen verwechselt werden. Das attac-Netzwerk oder die Sozialen Foren sind nur vorläufiger Ausgangspunkt für eine Politisierung, die sich im Fall des Gelingens andere Formen schaffen und dann auch andere Forderungen artikulieren wird. Um hier keinen Zweifel zu lassen: letzten Endes wird jede linke Intervention in die globalisierungskritische Bewegung nur mit dem Ziel erfolgen können, den sozialen Prozess selbst über seine spontanen Formen hinaus zu treiben. Hier gilt es allerdings, sich einerseits rückhaltlos das Scheitern aller bisherigen Formen avantgardistischer Praxis einzugestehen und sich andererseits nicht in der antiautoritären Illusion zu verfangen, mit der Linke die Kaderfunktion, die sie im gelingenden Fall befristet ausüben, vor sich selbst und den anderen verdecken. Die Perfidie ins Regierungslager übergewechselter Ex-Antiautoritärer und der glücklicherweise skurril gewordene Avantgardismus überlebter leninistischer Sekten sind letzten Endes die beiden Backen des selben Arsches. Eine reorganisierte Linke wird die staatsreformistischen Illusionen der globalisierungskritischen Bewegung nur auflösen können, wenn sie sie nicht auf einen bloß theoretischen Irrtum (”verkürzte Kapitalismuskritik”, ”etatistisches Politikverständnis”) reduziert. Statt dessen gilt es, im Prozess der Organisierung selbst andere, gegenläufige, befreiende Erfahrungen möglich zu machen. Hier wird alles an einer Repolitisierung der sozialen Räume des Alltagslebens hängen – des Alltags der Linken wie derer, die ihren Widerspruch zum Bestehenden bis jetzt ‚nur’ in der Moralität ihrer Globalisierungskritik artikulieren. Etwas besseres als die Volksgemeinschaft finden wir immer.

Das Papier dokumentiert keine abgeschlossene Position, sondern den Ausschnitt einer Debatte, die weder in der Redaktion noch außerhalb ihrer abgeschlossen ist. Beiträge und Stellungnahmen sind ausdrücklich erwünscht.

[1] Bundesrepublik Deutschland (BRD), heute Bezeichnung des gesamtdeutschen Staats; Deutsche Demokratische Republik (DDR)

[2] Bezeichnenderweise ist die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung nicht in politisch konkurrierenden ”Richtungsgewerkschaften” organisiert, sondern in einer vorgeblich überparteilichen ”Einheitsorganisation”.

[3] Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

[4] Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)

[5] Im Begriff ‚Neue Soziale Bewegungen’ werden hier durchaus heterogene Bewegungen wie die Jugend-, die Frauen-, die Schwulen-/Lesben-, die Ökologie- und die Friedensbewegung zusammengefasst. Gerechtfertigt ist dies insofern, als mit ihrem Auftauchen die historische Zentralität der Arbeiterbewegung in den sozialen Kämpfen und ihre ideologische Legitimierung etwa in der traditionsmarxistischen Hierarchie von Grund- und Nebenwiderspruch unumkehrbar überwunden wurden.

[6] An der Formierung der antinationalen bzw. antideutschen Strömung waren allerdings Altkader einer Fraktion der Neuen Linken beteiligt, die schon in den 70er Jahren eher eine “Refaschisierung” als eine emanzipative Öffnung von Staat und Gesellschaft diagnostiziert hatten.

[7] ”Antinationale” und ”Antideutsche” sind nicht identisch, sofern erstere von einer universellen Kritik der nationalistischen Ideologie, letztere von einer Kritik spezifisch des deutschen Nationalismus ausgehen. Das führte die Antideutschen dazu, sich während der wesentlich von der deutschen Regierung initiierten NATO-Intervention in Jugoslawien bewusst an die Seite des serbischen Nationalismus zu stellen. Im hier thematischen Kontext kann diese Differenz allerdings übersprungen werden.

[8] Die (west-)deutschen Autonomen, stärkste Strömung der undogmatischen Linken, sind nur sehr bedingt der autonomen Bewegung Italiens vergleichbar. Mit dem Abflauen der Hausbesetzer-Kämpfe der 80er Jahre kam es zu einer fortschreitenden Ersetzung von Politik durch Moralität und zum Rückzug in ein immer hermetischer abgedichtetes subkulturelles Ghetto.