Subjektives ohne Subjekt

Praktische Philosophie in der Postmoderne

Der Text dokumentiert den Vortrag, den ich im Winter 2003 auf dem Frankfurter Kongress „Indeterminate! Kommunismus“ gehalten habe. Veranstaltet von den Gruppen DemoPunk und Kritik & Praxis markierte der von über 1000 Leute besuchte Kongress die Ankunft der Kommunismus-Debatte in Deutschland: er musste damals noch als „Kulturkongress“ gelabelt werden. Zwei Jahre später – noch immer zur rechten Zeit – publizierten DemoPunk und Kritik&Praxis im Unrast Verlag die überarbeiteten Vortragstexte. (Länger)

Wir leben, so heißt es, in der Postmoderne, und die ist eine Zeit des Endes. Zuende gehen soll zuallererst die Geschichte selbst, jedenfalls sofern sie als „Große Erzählung“ (J.-F. Lyotard) fortschreitender universeller Emanzipation gedacht wird. Dasselbe Schicksal droht dem Subjekt dieser Geschichte, sofern es als homogener, mit sich identischer Ursprung solcher Emanzipation gedacht wird. An ihr Ende gekommen scheint damit in jedem Fall die moderne Geschichts- und Subjektphilosophie und mit ihr der Marxismus als deren radikalste Gestalt. Darüber herrscht, bei allen Unterschieden im Detail, Konsens, unter den Postmodernen übrigens ebenso wie bei den Verteidigern eines in den Horizont der parlamentarischen Demokratie eingeschlossenen „Projekts der Moderne“. So wohlmeinend und abgeklärt dieser Konsens auch vorgetragen wird, so offensichtlich ist doch zugleich, dass und wie er lediglich den jüngsten Versuch einer indirekten Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse darstellt. Der aber stellt sich noch immer eine theoretische und praktische Militanz entgegen, deren messerscharfe Logik die revolutionären Sansculotten der Rue Mouffetard in einer Erklärung auf den Punkt bringen, die sie am 9. Dezember des Jahres 1792 dem Konvent der Republik zukommen ließen: „Folge von ‚Wir sind euch egal?’ Wir werden euch nicht mehr lange egal sein.“

Phänomenologie(n) des Proletariats

Fangen wir also noch einmal von vorne an. Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) fasst den revolutionstheoretischen Einsatz des Denkens von Marx in dem philosophischen Axiom, nach dem die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. In diesen Kämpfen wird um den Preis von Sieg, Niederlage oder „gemeinsamem Untergang der kämpfenden Klassen“ (MEW 4, 462) die Form der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgefochten. Darin soll der Kommunismus, wie zwei Jahre zuvor in der Deutschen Ideologie notiert, weder eine erst zu verwirklichende Utopie noch ein bloß handlungsleitendes Ideal sein, sondern streng immanent „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ Die wiederum sieht Marx in der im kapitalistischen Weltmarkt erreichten Universalisierung bürgerlicher Vergesellschaftung und der mit ihr verbundenen Universalisierung einer dem Kapital vollständig ausgelieferten „Masse von bloßen Arbeitern“. Im Begriff des Proletariats fasst er deren gegenwärtiges Dasein – nichts als Arbeit, „Arbeit sans phrase“ zu sein – und die ihr gerade deshalb gegebene Möglichkeit, zum revolutionären Subjekt der kommunistischen Bewegung werden zu können: „Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als ‚weltgeschichtliche’ Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen; d.h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist.“ (MEW 3, 35f.) Es scheint von daher nur konsequent, dass Marx’ in dieser Axiomatik begründete Philosophie mit der emanzipativen Aufhebung des „jetzigen Zustands“ in der kommunistischen Aktion des Proletariats zugleich die eigene Aufhebung anstrebt: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (MEW 1, 392. Hervorheb. i. Orig.).

Tatsächlich haben die Hauptlinien des historischen Marxismus aus Marx’ Axiomatik die Große Erzählung einer unaufhaltsamen Fortschrittsgeschichte gewoben. Der lag je nach subjektiv-voluntaristischer oder objektiv-ökonomistischer Tendenz entweder ein dem Hegelschen Weltgeist nachgebildetes „Klassenbewusstsein“ oder die gesetzmäßig geregelte und von daher quasi-automatische großindustrielle Produktivkraftentwicklung zugrunde – Mischformen eingeschlossen. Eben dem entsprach die Identifizierung und Homogenisierung eines revolutionären Subjekts in der sozialen Kategorie des weißen männlichen Industriearbeiters und seinen sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien. Ihr folgte die Hierarchisierung der sozialen Kämpfe in einer Logik von Haupt- und Nebenwiderspruch, in der die Vielstimmigkeit der Kämpfe der „Bildung des Proletariats zur Klasse“ (MEW 4, 475) untergeordnet wurde. Die Revolution wurde dabei stets nach dem Muster der französischen gedacht, in der der bürgerliche „Dritten Stand“ als revolutionäre Teilmenge des gesellschaftlichen Ganzen die Wahrnehmung und Durchsetzung des Allgemeininteresses beanspruchte. Ihr historisch unerfüllt gebliebenes Universalitätsversprechen sollte deshalb – wieder nach dem Modell des pars pro toto – in der Universalität der proletarischen Revolution eingelöst werden.

Krise des Marxismus

Derart angewiesen auf kollektive revolutionäre Praxis, stehen und fallen das Denken von Marx wie der Marxismus mit der Bewährung seines revolutionstheoretischen Axioms in solcher Praxis. Um die aber ist es, darin ist den Postmodernen zuzustimmen, schon seit längerem schlecht bestellt. Handgreiflich wurde das nicht erst mit dem Zusammenbruch, mindestens aber der tief greifenden Schwächung der auf Marx sich berufenden ArbeiterInnenbewegung und der aus ihren Kämpfen hervorgegangenen Gewerkschafts-, Partei- und Staatsapparate im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern zuvor schon im Elend und der furchtbaren Gewalt, die sie historisch zu verantworten haben. Die Schwäche revolutionärer Politik und Philosophie hängt aber auch an den für den Untergang der real existierenden Sozialismen in Ost und West bestimmenden Umwälzungen, die der postmoderne Diskurs als Übergang von der nationalstaatlich verfassten „Industrie-“ zur globalisierten „Informationsgesellschaft“ fasst. Die unterwirft zwar wie von Marx vorhergesagt nahezu alle gesellschaftliche Tätigkeit der anonymen Macht kapitalistischer Verwertung. Doch geht die umfassende Proletarisierung paradox mit der konkurrenzförmig entfesselten Atomisierung und Pluralisierung auch und gerade der traditionellen ArbeiterInnenklassen einher. Deren Integration zum revolutionären Kollektivsubjekt wird damit praktisch immer unwahrscheinlicher und theoretisch immer mehr zum leeren Konstrukt: die „wirkliche Bewegung“ scheint bloß eine Episode gewesen zu sein, die ihr Versprechen so wenig einlösen konnte wie die französische Revolution. Dafür spricht auch, dass die Revolutions- und Subjekttheorie der orthodoxen Marxismen nicht erst in der Postmoderne, sondern schon in den ihr vorausgehenden Revolten des Mai 68 zerplatzt ist. In denen wurde die Fortschrittslogik proletarischer Identitätspolitik durch Politiken der Differenz kritisiert, die sich im Feminismus, der Ökologie und im kulturrevolutionären „Patchwork der Minderheiten“ (J.-F. Lyotard) artikulierten und sich eher auf Nietzsche und Heidegger als auf Marx beriefen.

Und doch verfällt, wer damit sich zufrieden gibt, bloß einer anderen Großen Erzählung: der von dem, was „Marxismus“ gewesen sei. Ihr „antimarxistisches Konzert“ (J. Derrida) verdeckt, dass alle produktiven Brüche eines Denkens im Horizont des Denkens von Marx mit einer Kritik der marxistischen Orthodoxie begannen. Allerdings ordnen sich diese Neugründungen nicht zur kontinuierlich fortschreitenden „Lehre“ eines „wissenschaftlichen Sozialismus“, sondern markieren singuläre Ereignisse revolutionärer Theorie: beginnend mit Marx selbst über Lenin, Luxemburg und Lukács, von Trotzki und Mao bis zu Fanon, bei Brecht und Gramsci, in der Kritischen Theorie, der autonomia operaia, der Situationistischen Internationale und dem Mouvement de la Libération des Femmes, bei de Beauvoir, Sartre, Thompson, Althusser und den Marx verbundenen Nietzscheanern Deleuze, Guattari und Foucault.

Einheit und Vielheit

Zu denen, die unter postmoderner Kondition mit Marx über Marx hinausgehen, gehören die Philosophen Antonio Negri und Alain Badiou. Keineswegs zufällig entstammen sie radikalen Strömungen des Mai 68, Negri dem italienischen Operaismus, Badiou dem französischen Maoismus. Beide halten – bei allen Unterschieden in Philosophie und Politik – am kommunistischen Projekt fest, indem sie es im kritischen Durchgang durch die postmoderne Subjekt- und Geschichtsdekonstruktion sowohl von der – so Badiou – „klassistischen“ Identitätspolitik der historischen ArbeiterInnenbewegung wie von den postmodern eingehegten Politiken der Differenz ablösen. Dabei weisen sie die für die Postmoderne zentrale Figur des Endes sei’s der Geschichte, des Subjekts oder der Philosophie zurück und deuten deren gar nicht zu bestreitende Krise nicht als Symptom ihres schon eingetretenen oder bevorstehenden Untergangs, sondern ihres stets prekären Seins selbst.

Negri übersetzt Marx’ Axiom der universalhistorischen Klassenantagonismen in sein Axiom der Antagonismen von Souveränität und Multitude. In diesen kommt den Kämpfen der Multituden die aktive, den Mächten der Souveränität eine reaktive Rolle zu. Während die Multituden unausgesetzt aus den politökonomischen Formen der Souveränität ausbrechen, folgen die Souveränitätsmächte deren „Exodus“ und biegen dessen Fluchtlinien unter ihre Disziplin und Kontrolle zurück. Sie erreichen das – hier folgt Negri Foucault und mit ihm Nietzsche – nicht allein durch Repression, sondern indem sie sich gerade der produktiven Kräfte der Multituden bedienen, sie für sich arbeiten lassen und derart in Wert setzen. Deshalb sind die Souveränitätsmächte den Multituden auch nicht äußerlich, sondern wirken in ihnen selbst als deren „Korruption“.

Wer aber sind, wo und wann gibt es Multituden? Negri bezeichnet den Begriff der Multituden – wörtlich einfach mit „Menge“ zu übersetzen – einerseits ausdrücklich als Klassenbegriff und setzt ihn andererseits sowohl von den politischen Kategorien des Volkes bzw. der Nation wie der sozialen Kategorie der Klasse ab. Wie die Souveränität – die in der Moderne ja stets nationalstaatliche Volks- oder Klassensouveränität war – sind diese Kategorien den Multituden aber nicht äußerlich, sondern stellen deren korrumpierte Seinsweise im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, in denen aus Singularitäten einer Menge Subjekte der Souveränität werden. Multituden sind folglich überall da, wo solche Subjektivierungspraxen zum Gegenstand sozialer Kämpfe werden, die immer Klassenkämpfe und zugleich mehr und anderes als Klassenkämpfe und deshalb weder Politiken der Identität noch solche der Differenz sind. Dabei unterscheidet Negri die Multituden präzisierend nicht nur von Volk, Nation und Klasse, sondern auch von den formierten Massen etwa eines parteikommunistischen Aufmarschs wie vom amorphen Mob eines riots. Mit Marx bestimmt er das Feld, auf dem Genese wie Korruption der Multituden theoretisch zu untersuchen wie praktisch zu organisieren sind, als das der Produktivkräfte und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse. Deshalb fordert das philosophische Axiom des Antagonismus von Multitude und Souveränität heute die historisch-materiale Untersuchung der zugleich informatisierten und globalisierten kapitalistischen Produktion, die dem qualitativen (nicht quantitativen!) Primat der Symbole und Affekte produzierenden „immateriellen“ Arbeit unterstellt ist.

Situation und Ereignis

Auch Badiou geht von der Atomisierung und Individualisierung der tradierten sozialen Kategorien in der kapitalistischen Postmoderne aus: alle Identität ist Trugbild, die Wahrheit liegt in der Differenz, die als Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigkeiten zu denken ist. Die Souveränitätsmacht, die im gegebenen „Zustand“ einer gesellschaftlichen Situation (état d’une situation) dennoch immer schon Einheit gestiftet hat, nennt Badiou mit einem im Deutschen unübersetzbaren Wortspiel „Staat“ (État d’une situation). Was Marx im Begriff der Proletariats und Lenin und Mao in ihrem Begriff der „Massen“ zugleich entdeckt und verfehlt haben, sind Badiou zufolge die in einer Situation zwar präsenten, von der staatlichen Identifikation aber nicht „als Eins gezählten“, also nicht re-präsentierten sozialen Elemente: die „gefährlichen Klassen“, der Proletarier als „ehrloses Subjekt“, die Frauen, die MigrantInnen, die Kolonisierten, das Patchwork der Minderheiten wieder im qualitativen, nicht quantitativen Sinn des Wortes. Deren Ausschluss aus der Repräsentation macht die Unwahrheit jedes État d’une situation aus, die im Ereignis der Revolution offenbar wird. Im Heidegger entlehnten Begriff des Ereignisses markiert Badiou seinen revolutionstheoretischen Einsatz, nach dem ein revolutionärer Prozess aus der Situation, mit der er bricht, so wenig abgeleitet werden kann wie er durch die Situation, die gegebenenfalls aus ihm resultiert, entwertet werden könnte. Mit der Unableitbarkeit des stets singulären, weil das Kontinuum der Geschichte unterbrechenden Ereignisses – Badiou nennt die Pariser Kommune, die Oktoberrevolution und die Revolten der Epoche von 1965 bis 1985 – wird die Revolution nicht quasitheologisch mystifiziert. Festgehalten wird vielmehr, dass sie weder auf ein vorgängiges Subjekt, noch auf ein strategisches Kalkül, noch auf eine durchgängig bestimmte Verkettung von Umständen und Handlungen zurückgeführt werden kann. Die Revolution ist niemandes Eigentum, weil sie sich an alle adressiert und in ihrem Ereignis allen die Wahrheit der Politik vorschreibt: dass nach dem Axiom der Gleichheit wie der Gerechtigkeit jede geschlossene, mit sich identische Gemeinschaft zu sprengen ist und Emanzipation nur in der Aufkündigung der Bindung an sie praktisch wird. Das gilt dann auch für die IndustriearbeiterInnenklasse, die als homogenisiertes Subjekt der historischen ArbeiterInnenbewegung mit der offenen Kommune der revolutionären Massen nicht in eins gesetzt darf: „Weit entfernt also, unter irgendeinem imaginären Emblem homogene Menschenmengen zu versammeln, bezeichnet ‚Massen’ im politischen Sinn das Unendliche der intellektuellen und politischen Singularitäten, das in der Durchführung einer jeden Gerechtigkeitspolitik enthalten sein muss. (…) ‚Masse’ ist also ein Signifikant der äußersten Partikularität, der Nichtbindung.“ (Über Metapolitik, , 86) Subjekt der Revolution ist folglich, wer in Theorie und Praxis den Bruch des Ereignisses mitvollzieht: die Bolschewiki von 1917, die Roten Garden im Aufbruch der Kulturrevolution, die französischen MaoistInnen im „roten Jahrzehnt“ nach dem Mai 68, die AktivistInnen der Solidarnosc im Augenblick, da sie das polnische Regime zu Fall bringen.

Damit ver-„kehrt“ Badiou – im Anschluss an Althusser und wiederum im Heideggerschen Sinn des Wortes – das Verhältnis von Prozess und Subjekt der „wirklichen Bewegung“. Das revolutionäre Subjekt liegt der Revolution nicht zugrunde, sondern konstituiert sich nachträglich erst in der Praxis, die im Licht des Ereignisses dessen Wahrheit bezeugt, indem sie die herrschenden Verhältnisse nach seiner Maßgabe zu verändern sucht. „Dieses politische Subjekt“, schreibt Badiou in Politik der Wahrheit, „hat in der Geschichte verschiedene Namen geführt. Es wurde Bürger genannt, zwar nicht im Sinne von Wähler oder Stadtrat, sondern im Sinne von Bürger als einem aktiven Mitglied eines revolutionären Ausschusses. Es wurde auch Berufsrevolutionär genannt. Es wurde politischer Kämpfer der Massensituationen genannt. Wir leben sehr wahrscheinlich in einer Zeit, wo der Name außer Kraft gesetzt wurde, wo es heißt, den Namen zu erfinden.“ (a.a.O., Wien 1997, 60)

Glück, Treue und Partei der KommunistInnen

Die Frage nach dem Subjekt führt auch im letzten Kapitel von Negris gemeinsam mit Michael Hardt verfassten Empire zur Subjektivität der kommunistischen „Militanten“. Dabei denken sie nicht an „den traurigen, asketischen Vertreter der Dritten Internationale“, sondern an den Agitator der us-amerikanischen Industrial Workers of the World (IWW), den Wobbly, der die ArbeiterInnen „von unten“ her zu organisieren suchte, als „kreative Singularität dieser gigantischen kollektiven Bewegung, die der Kampf der Arbeiterklasse darstellte.“ Militante Praxis kann heute aber nicht mehr den Anspruch erheben, die Ausgebeuteten und Entrechteten zu repräsentieren, sondern muss unter postmoderner Kondition erneuern, was im gelungenen Fall „schon seit jeher die ihr eigene Form war: nicht repräsentative, sondern konstituierende Tätigkeit. Militanz ist heute eine positive, konstruktive und innovative Tätigkeit“, ausgeübt in der „produktiven Kooperation der Massenintelligenz und affektiver Netzwerke“ der unter dem Primat der Sprache und des Wissens globalisierten Arbeitskraft.

Unterstreicht Negri die „nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein“ (alle Zitate a.a.O., 418ff.), besteht für Badiou die wesentliche Eigenschaft kommunistischer Militanz in der subjektiven „Treue“ zur kollektiven und universellen Wahrheit eines revolutionären Ereignisses. Weil die Wahrheit im Prozess der Politik sich stets an alle wendet, ist die politische Kategorie des kommunistischen Militanten „eine Kategorie ohne Grenzen, eine subjektive Bestimmung ohne Identität oder ohne Begriff. Dass das politische Ereignis kollektiv ist, schreibt vor, dass virtuell alle Militante des Denkens sind, das vom Ereignis ausgehend einsetzt.“ (Über Metapolitik, 151f.) Deshalb reformuliert Badiou Marx’ und Lenins Bestimmung der kommunistischen Partei gerade im Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Parteidisziplin und dem auf sie gestützten Anspruch, die Klasse zu repräsentieren. Attribut der Partei ist „nicht die Kompaktheit, sondern im Gegenteil ihre Porosität zum Ereignis, ihre vielfältige Geschmeidigkeit im Ansturm des Unvorhersehbaren. Was für den Marx von 1848 ‚Partei’ heißt, hat nicht einmal die Form einer Bindung im institutionellen Sinn. Die ‚kommunistische Partei’, deren Manifest Marx schreibt, ist von vorneherein mannigfaltig, weil sie sich aus den radikalsten Singularitäten aller ‚Arbeiterparteien’ zusammensetzt. Die Definition der Partei ist rein auf die historische Mobilität bezogen, deren kommunistisches Bewusstsein die internationale Dimension (also die maximale ‚mannigfaltige Ausdehnung’) und zugleich den Sinn der globalen Bewegung (also die Loslösung von den unmittelbaren Interessen) sichert.“ (ebd., 87f., vgl. im Manifest, MEW 4, S. 475f.)

Das Selbe für alle

Von Negris und Badious Begriffen der Multitude und der Masse lässt sich aber nicht nur Marx’ Bestimmung der kommunistischen Partei, sondern auch sein Begriff des Proletariats neu lesen. Nicht zufällig bildet das Proletariat des Manifests weniger eine homogene soziale Kategorie als ein Milieu, in dem sich potenziell alle wiederfinden können, die von der Dynamik des Kapitals aus ihren tradierten sozialen Kategorien und Codes freigesetzt wurden. Deshalb „rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung“, Angehörigen der kleinen Mittelstände, sogar Kleinindustriellen, Kaufleuten und Rentiers, deshalb „fallen“ auch Handwerker und Bauern ins Proletariat „hinab“ und mit ihnen der „Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“ Als ProletarierInnen sind sie auch insofern „eigentumslos“, als sie dem „bürgerlichen Familienverhältnis“ ebenso fremd geworden sind wie sie „allen nationalen Charakter abgestreift“ haben. Solchen ProletarierInnen sind „die Gesetze, die Moral, die Religion ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.“ Eine so verstandene proletarische Multitude kann sich dann tatsächlich „nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“ (MEW 4, 469ff.) Offensichtlich ist aber zugleich, dass die klassistische Identifikation des Proletariers im Industriearbeiter ein Missgriff war, der zum vorhandenen Subjekt-Objekt verdinglichte, was im strengen Sinn des Wortes immer nur eine Möglichkeit der sozialen Kämpfe war und ist, ein „Subjektives ohne Subjekt, das sich, ergänzen wir, auch nicht in der Form des Objekts präsentiert“, weil es „die reale Materie der Parteinahme, die Chance des Kämpfers, der Moment der Entscheidung“ ist. (Über Metapolitik, 77f.)

Ob der in den Ereignissen Seattle und Genua manifest gewordene und schon dem Selbstverständnis nach nicht zu vereinheitlichende Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung die „reale Materie“ sein wird, an der sich die Theorien der Multitude bewähren, ist allerdings selbst keine theoretische Frage mehr. Es ist vielmehr der Einsatz der Wette, die schon eingegangen ist, wer zur Militanten dieser „Bewegung der Bewegungen“ geworden ist. Die Probe darauf wäre in den konkreten Antagonismen auszutragen, in denen sich die Dynamik dieser Bewegungen entfaltet: dem Antagonismus zwischen den Institutionen der imperialen Souveränität (WTO, Weltbank, IWF, OECD usw.) und der zugleich lokal und global erhobenen Forderung nach partizipatorischer Demokratie; dem Antagonismus zwischen der Intensivierung von Arbeit, Ausbeutung, Entrechtung in der imperialen „Akkumulation durch Enteignung“ (D. Harvey) und den Neugründungen einer ArbeiterInnenbewegung; dem Antagonismus zwischen dem Ausgriff global operierender Konzerne auf eine exklusive Aneignung des Lebens wie des Wissens und dessen unmittelbaren ProduzentInnen; dem Antagonismus zwischen der fortschreitenden Krise der sozialen Reproduktion und der wachsenden Bedeutung der Widerstände, die von Frauen getragen werden; dem Antagonismus schließlich zwischen der versuchten Durchsetzung eines globalen Gewaltmonopols der imperialen Souveränitätsmächte und der gerade im Widerstand gegen den Krieg sich einstellenden horizontalen Koordination der Bewegungen.

Offensichtlich ist jetzt bereits, dass deren Dynamik weder identitäts- noch differenzpolitisch zu fassen ist, auch wenn beide Formen der Politik in ihr zu finden sind. Offen bleibt, ob es ihr gelingen wird, die Freisetzung aus den tradierten sozialen Kategorien und deren Subjektivierungsweisen zu bejahen und diese Bejahung gegen die Universalisierung der Konkurrenz zu kehren, die das wesentliche soziale Attribut des postmodernen Kapitalismus ist. Ohne Zweifel liegt darin das zentrale, theoretisch gar nicht wegzudekretierende Problem einer erstmals im Vollsinn des Wortes globalisierten revolutionären Praxis. Gerade deshalb aber schreiben Negri und Badiou – auch hier dem Marx des Manifests nicht fern – den Kämpfen der MigrantInnen eine exemplarische Rolle zu. Sie sind es, die in der Alltäglichkeit ihrer trotz allen Aufwands nicht zu kontrollierenden Bewegung sämtliche Grenzen überschreiten und damit praktisch die Frage nach der jederzeit und an jedem Ort für alle offenen Kommune stellen, die nur in der Überwindung der globalen Konkurrenz beantwortet werden kann. Dabei erschließt sich auch die Perspektive eines anderen Historischen Materialismus: „Es wäre in der Tat interessant, eine allgemeine Geschichte der Produktionsweisen aus der Sicht des Mobilitätsstrebens der Arbeiter zu schreiben (vom Land in die Kleinstadt, von der Kleinstadt in die Großstadt, von einem Staat zum anderen, von einen Kontinent zum anderen) statt diese Entwicklung lediglich unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass das Kapital die technischen Arbeitsbedingungen reguliert. Eine solche Geschichte würde die Marxsche Vorstellung von den Stufen der Arbeitsorganisation grundlegend neu aussehen lassen. (…) Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration.“ (Empire, 224f.)

Besteht Konsens darüber, dass das migrantische Proletariat damit gerade nicht an die in Wahrheit schon immer leere Stelle gesetzt wird, die der Marxismus dem Proletariat der großen Industrie einräumen wollte, wäre eine Revolutionstheorie unter postmoderner Kondition ein wesentliches Stück weiter gekommen. Dann wäre klar geworden, dass die historische Exemplarität besonderer Kämpfe und ihrer Subjektivierungsweisen – zu ihrer Zeit und in bestimmter Hinsicht die der IndustriearbeiterInnen, die der bäuerlichen Massen in den antikolonialen Revolutionen, heute in anders bestimmter Hinsicht die der MigrantInnen – niemals ein Subjekt auszeichnet, das substanziell für alle steht und deshalb einen politischen Führungsanspruch erheben könnte. Zugleich käme dem als exemplarisch ausgezeichneten Kampf damit erst die Kraft zu, alle anderen Kämpfe auf seine ebenso spezifische wie universelle Wahrheit zu verpflichten. Allerdings ergibt sich gerade an dieser Stelle zwischen Negri und Badiou eine signifikante Differenz. Denn während Negri Marx auch darin zu folgen scheint, den Multituden die Verwirklichung der Philosophie aufzugeben, weist Badiou dieses Projekt entschieden zurück. Obwohl die Politik im Axiom der Gleichheit aller ihre Wahrheit und deren Subjektivität selbst hervorbringt, ist sie für Badiou nur ein partikularer Wahrheitsprozess, der von denen der Wissenschaft, der Kunst und der Liebe auf immer verschieden bleibt, obwohl er ihnen in epochal bestimmter Weise verbunden ist. Weil die Philosophie, selbst keine Wahrheit hervorbringend, deren stets momentane und deshalb nie zu totalisierende Einheit denken will, darf sie in keinem dieser Prozesse aufgehen. Die Auftrennung der auch auf Marx zurückgehenden „Vernähung“ von Philosophie und Politik ist für Badiou deshalb die unabweisliche Forderung der gegenwärtigen Epoche und eben darin eine der Weisen, in der politischen und philosophischen Militanz den revolutionären Ereignissen die Treue zu halten. Indem Politik und Philosophie je für sich eine Diagonale durch alle sozialen Identitäten und Differenzen ziehen, wird die Kommune zur Gleichheit der Vielen, die nicht eins sind. Sie ist darin die Selbe für alle.