Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen?

Fragen an John Holloway – und an die globalisierungskritischen Bewegungen

Im März 2004 luden die Antifaschistische Linke Berlin, attac und die Redaktion Fantomâs John Holloway zum Vortrag ins Berliner Theater Hebbel-am-Ufer: zu jener Zeit mit Hardt/Negri prominentester philosophischer Protagonist der globalisierungskritischen Bewegungen. Vor Hunderten von Zuhörer*innen verdichtete er dort sein Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ in drei Thesen. Zur Eröffnung der Diskussion stellte ich ihm die unten aufgeführten Fragen. (Einmal lang, einmal etwas kürzer). Ein Mitschnitt der ganzen Veranstaltung findet sich bei Indymedia.

Vortrag John Holloway

1.

Ich gehe von einem sehr einfachen, sehr augenfälligen Punkt aus, ein Punkt der so augenfällig ist, dass wir oft vergessen, ihn zu erwähnen. Der Kapitalismus ist eine komplette Scheiße, eine Katastrophe, eine gesellschaftliche Organisationsform, die droht, die Menscheit vollständig zu zerstören.

Die Existenz des Kapitals ist ein beständiger Angriff gegen die Menscheit: das Kapital bedeutet Ausbeutung, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden warenförmig, es bedeutet Zerstörung der Natur, Vernichtung alternativer Lebensweisen, usw.

Ich spreche von „dem Kapitalismus“ statt vom „Neoliberalismus“, denn dieser Angriff ist nicht bloß eine Frage der politischen Entscheidung oder der falschen Wirtschaftspolitik sondern Ergebnis davon, dass das gesellschaftliche menschliche Tun auf Basis der Ausbeutung und der Entmenschlichung organisiert ist. Wir schreien alle gegen den Krieg, und es ist sehr wichtig, dass wir es tun. Aber es ist auch wichtig, zu verstehen, dass der Krieg nicht nur ein verrückter Einfall von Bush und Blair ist, sondern Ausdruck der dem Kapitalismus innewohnenden Gewalt,. Die Schaffung einer menschenwürdigen, einer friedlichen Welt (und ich nehme an, dass wir alle das wollen) erfordert die Abschaffung des Kapitalismus und nicht bloß eine Veränderung der Regierungspolitik.

Wenn wir diesen Punkt alle teilen, dann sind wir alle Teil desselben Kampfes. Wir wollen jedoch manchmal den Punkt nicht sehen, weil die Abschaffung des Kapitalismus unmöglich scheint, weil die bloße Idee lächerlich scheint und wir die Lächerlichkeit fürchten. Aber wenn der Punkt richtig ist, wenn es stimmt (und es stimmt doch), dass das Überleben der Menschheit von der Abschaffung des Kapitalismus abhängt, dann ist klar, dass die einzige Frage, die politisch und wissenschaftlich Sinn hat, lautet: Wie können wir den Kapitalismus abschaffen? (formally speaking it must read: wie können wir uns des Kapitalismus entledigen?

Wir sprechen also von Revolution. Ich weiß, dass das Wort altmodisch ist, dass es nicht mehr salonfähig ist, von Revolution zu sprechen, weder an den Universitäten noch in der Linken im allgemeinen. Es ist komisch, dass immer weniger von Revolution gesprochen wird, während es immer klarer wird, wie schrecklich der Kapitalismus ist. Aber darum geht es: darüber nachzudenken, wie wir den Kapitalismus loswerden, wie wir eine andere Welt schaffen können.

2.

             Die Feststellung, dass der Kapitalismus eine Scheisse ist, ist nicht nur eine akademische Beobachtung. Die Frage der Revolution und der Macht ist eine praktische Frage. Es gibt jetzt in der ganzen Welt eine große Welle von Kämpfen gegen den Neoliberalismus. Wie sollen sie weitergehen? Wie können wir diese Bewegungen verstärken? Es gibt eine Frage, die zentral für die Bewegung von heute ist: Die Frage des Staates. Sollen wir die Kämpfe auf den Staat konzentrieren, um Einfluss innerhalb des Staates zu gewinnen oder gar um die Staatsmacht zu übernehmen? Oder ist es besser, dem Staat den Rücken zuzukehren und zu versuchen, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen?

Aus, im marxistischen Sinne orthodoxem Blickwinkel betrachtet, lautet das Argument, dass wir unsere Kämpfe auf den Staat konzentrieren müssen, um die Staatsmacht entweder durch Wahlen oder durch den bewaffneten Kampf zu übernehmen. Sobald wir erst einmal den Staat kontrollieren, können wir radikale gesellschaftliche Veränderungen einführen, die Produktionsmittel vergesellschaften/verstaatlichen, die Arbeitsorganisation umgestalten, usw. Natürlich kann es keinen Sozialismus in einem Land geben, aber die Kontrolle des Staates erlaubt uns, die Bedingungen innerhalb eines Landes zu verändern und den Kampf um die Übernahme der Staatsmacht in anderen Ländern weiterzuführen.

Das historische Scheitern dieser Strategie ist offensichtlich. Die linken Bewegungen haben ihre Ziele nie durch die Übernahme der Staatsmacht erreicht, weder in ihrer reformistischen noch in ihrer revolutionären Form. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist der Staat (welcher Staat auch immer) derart in die Totalität der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden, dass er praktisch unmöglich Maßnahmen einführen kann, die ernsthaft die Rentabilität des Kapitals beschneiden könnten. Das, was ein Staat tun könnte, ist sehr begrenzt.

Aber es gibt ein zweites (und wichtigeres) Argument gegen die Ausrichtung des Kampfes auf die Übernahme der Staatsmacht. Den Kampf auf den Staat zu konzentrieren, bedeutet die Vielfalt des Kampfes einzuschränken. Eine Welle von Kämpfen wie die gegenwärtige ist ein unglaublicher Ausbruch von Kreativität: die Leute erfinden neue Formen um für ihre Wünsche zu kämpfen, neue Formen, sich auszudrücken, neue Formen, Spaß zu haben. Ihre Träume und ihre Hoffnungen gehen weit über das unmittelbar Mögliche hinaus. Der Spruch des Che, „Seien wir Realisten, verlangen wir das Unmögliche“, wird in Zeiten des Aufstands zu etwas Selbstverständlichem. Neue Organisationsformen entwickeln sich, die alten Institutionen und Führerschaften brechen zusammen. Der Aufstand ist expressiv, nicht instrumentell: er ist ein Aufstand-gegen, ein Ausbruch des Unterdrückten, er ist keine bewusste, kalkulierte Bewegung mit einem bestimmten Ziel. Der Aufstand spricht eine Sprache, die der kapitalistische Staat nicht versteht; er gebraucht eine Grammatik, die für die Mächtigen sinnlos ist; er singt ein Lied, das den Ohren der Kapitalisten und ihren Politikern wehtut.

Diesen Aufstand auf die Übernahme der Staatsmacht zu konzentrieren – gleich ob auf dem Weg der Wahlen oder des bewaffneten Kampfes – heißt, den Aufstand zu zähmen, ihn die Sprache und die Musik der Macht zu lehren, ihn auf ein anderes Terrain zu stellen (auf das Terrain der Wahl- oder der bewaffneten Kämpfe), ein Terrain auf dem das Kapital sich völlig zuhause fühlt. Aber das heißt, die Vielfalt des Aufstands einzuschränken, ihm die Farbigkeit zu nehmen, ihn langweilig zu machen. Es heißt, Hierarchien einzuführen: Hierarchien zwischen Führern und Massen und eine Hierarchie zwischen ernsthaften Aktivitäten, die etwas zur Übernahme der Staatsmacht beitragen, und den frivolen oder kleinbürgerlichen Aktivitäten, die dies nicht tun. Die Bewegung auf den Staat auszurichten, heißt die Kraft der Bewegung auszuhöhlen. Es kann sein, dass diese Ausrichtung der Bewegung tatsächlich zu einer Übernahme der Staatsmacht führt, aber die Bewegung, die dann an die Macht kommt, wird eine viel eingegrenztere und viel bürokratisiertere Bewegung als vorher sein, eine Bewegung, die keinen Widerstand leisten können wird, wenn ihre Führer in die Welt der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgesogen werden, von denen sie bereits ein Teil sind. Bürokratisierung, Verrat und Desillusionierung sind deshalb Schlüsselbegriffe in der Geschichte der staatszentrierten Linken.

Aber, wenn nicht durch den Staat, wie dann? Die Rebellion ist der Ausgangspunkt, aber er reicht nicht aus. Er ist nicht genug, weil die Grausamkeiten der Welt nicht einfach bloß existieren: sie werden ständig neu hervorgebracht; und das, was sie hervorbringt, ist die kapitalistische Organisationsweise der Gesellschaft, die Organisationsweise unseres Tuns als Arbeit. Arbeit, die Gewinne, also Wert und Mehrwert, produziert. Wir erschaffen den Kapitalismus, und wir müssen aufhören, ihn zu erschaffen. Der Aufstand muß sich in Revolution verwandeln, nicht im Sinne eines Wandels von oben, sondern in dem Sinne, dass wir aufhörten, den Kapitalismus zu erschaffen, in dem Sinne, dass wir eine Welt erschüfen in der das Tun nicht als entfremdete Arbeit existierte: erst dann können wir sagen, dass eine andere Welt möglich ist.

Wie können wir das machen? Wir müssen von den Aufständen, den Aufsässigkeiten und dem Ungehorsam ausgehen, die es alle schon gibt, und sie als Risse verstehen, als (widersprüchliche) Kluften in der kapitalistischen Herrschaft, als Zwischenräume, in denen die Menschen „Nein“ sagen – „Nein, hier herrscht das Kapital nicht, hier werden wir unsere eigenen Leben selbst bestimmen, wie wir es wollen.“ Diese Kluften gibt es überall, große und kleine. Das Problem besteht darin, uns vorzustellen, wie wir sie ausweiten und vervielfachen können. Es gibt keinen Grund dafür davon auszugehen, dass die Ausweitung des Aufstandes über den Staat durchgeführt werden sollte, ist doch der Staat eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zum Zwecke der Unterdrückung des Ungehorsams entwickelt wurde. Es gibt auch keinen Grund, warum die Ausweitung und die Vervielfachung des Ungehorsams eine zentralisierte Organisationsform bräuchte: was sie braucht (und was es jetzt gibt), ist die Entwicklung informelle Netzwerke mit dem Ziel gegenseitiger Unterstützung, Information und Anregung.

Selbstverständlich gibt es viele Probleme sich vorzustellen, wie diese Perspektive sich weiterentwickeln könnte. Ein zentrales Problem ist die materielle Organisationsform unseres Tuns. Um eine andere Welt zu erschaffen, müssen wir unser Tun auf eine andere Weise, also auf eine nicht-kapitalistische, nicht-marktorientierte Weise organisieren. Es gibt viele Projekte und Experimente in diesem Sinn, aber sie erfahren dadurch ihre Grenze, dass sich die Produktionsmittel im Besitz des Kapitals befinden, dass es also den Zugang zum vom menschlichen Tun produzierten Reichtum kontrolliert. Um sich weiterzuentwickeln, muss die Bewegung des Ungehorsams dem kapitalistischen Eigentum entgegentreten, und damit auch den Kräften der Repression, die das kapitalistische Eigentum verteidigen. Bedeutet das, dass wir die Kontrolle über den Staat ausüben sollten, damit wir das Gesetz, das das Eigentum verteidigt verändern können, und damit wir die Polizei und die Armee kontrollieren können? Ich denke nicht, denn der Staat ist keine Organisationsform, die gegen das Gesetz, das Eigentum, die Armee und die Polizei eingesetzt werden kann: die Kontrolle des Staates neigt dazu, sich in Kontrolle durch den Staat zu verwandeln. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie die Bewegung der Aufsässigkeit Gesetz, Eigentum, Polizei und Armee durchdringen und untergraben könnte, und wie die Bewegung sich gegen die Gewalt des Kapitals verteidigen kann.

Die staatszentrierte Perspektive zu kritisieren, bedeutet nicht, dass die Alternative (also der Versuch, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen) keine Probleme böte. Die Tatsache, daß sie, also die Staatsorientierten, keine Antworten haben, bedeutet nicht, dass wir sie haben. Man könnte denken, dass beide Perspektiven zusammengeführt werden sollten, und in gewissem Sinne geschieht das heute in den Bewegungen gegen den Neoliberalismus. Die zapatistische Bewegung führt Menschen, die durch den Staat kämpfen, mit Menschen, die den Staat als Form des Kampfes ablehnen, zusammen. Ebenso tun dies die Antiglobalisierungsbewegung und die Antikriegsbewegung. Das ist schon gut. Wie ich anfangs sagte, sind wir alle Teil desselben Kampfes, wenn wir den Kapitalismus ablehnen, obgleich wir verschiedene Fomen des Kampfes nützen mögen. Wenn ich hier bin, dann auch, weil bestimmte staatliche Instanzen mir den Flug gezahlt haben. Das erkenne ich auch an, und bedanke mich dafür. Wenn wir hier an diesem Tisch als Personen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammengekommen sind, dann deshalb, weil wir GenossInnen sind, nicht weil wir FeindInnen sind. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht nur eine Frage der Koexistenz, dass es nicht einfach eine Frage der Kombination beider Formen ist, sondern dass große Spannungen zwischen den zwei Perspektiven bestehen, die uns in verschiedene Richtungen führen. Der Staat ist eine Form, Sachen zu tun, ist eine Form zu denken und sich zu organisieren, er ist ein Prozess, ein Prozess, der sich gegen die Rebellion richtet, und es ist auf lange Sicht schwierig, die Orientierung auf den Staat mit der vollen Entfaltung der Rebellion in Einklang zu bringen.

Trotz der vielen Probleme, die es gibt, denke ich, dass wir für den weiteren Weg voran, darüber nachdenken müssen, wie wir die Welt verändern können, ohne die Staatsmacht zu übernehmen. Die Orientierung auf den Staat kanalisiert die Rebellion, erstickt sie. Es gibt jedoch auch einen anderen Ansatz: die Zapatisten nennen es „Würde“, die Situationisten haben es als „Authentizität“ bezeichnet, manchmal wird es als „ethische“ Dimension der heutigen Rebellion diskutiert. Dem alten Begriff zufolge war die Revolution wie ein Krieg, und wir waren gezwungen, die Methoden des Feindes (also den Wahl- oder den bewaffneten Kampf) anzunehmen, um das Kapital zu besiegen. Aber wenn wir die Menschenwürde als zentralen Ausgangspunkt nehmen, bedeutet das, dass die Revolution sich nicht mit militärischen Metaphern verstehen läßt. Es bedeutet, dass der Einsatz der Methoden des Feindes zu unserer eigenen Niederlage führt, und das es stattdessen von entscheidender Bedeutung ist, unsere eigenen Methoden und Organisationsformen zu entwickeln, die gleichzeitig unsere Idee von Menschenwürde ausdrücken und eine praktische Vorstellung von der Gesellschaft vermitteln, die wir erschaffen wollen. Entscheidend ist, dass der Kampf aus uns selbst heraus entsteht, dass er etwas ausdrückt und nichts unterdrückt; er muss ein Vergnügen sein, darf nicht als Opfer aufgefasst werden.

3.

Der Ausgangspunkt, ist folglich Wir und Nein, Nein und Wir: unser Nein, unser Schrei gegen die Welt, die existiert. Wie denken und handeln wir, wenn wir vom Nein und Wir ausgehen? Wir müssen das Nein als Gewissheit, als einzige Gewissheit, das Wir als Frage, vielleicht als einzige Frage auffassen.

Vom Wir und vom Nein auszugehen heißt, unsere eigene Logik des Denkens und des Handelns zu entwickeln. Wir gehen von der Negativität und der Subjektivität aus, von der negativen Subjektivität, von praktischer Negativität; das heißt, wir verstehen uns selber nicht als Seiende sondern als Tuende. Das bedeutet Dialektik: also kein leeres, formales Schema, sondern eine Denkweise, die davon ausgeht, dass wir keine Opfer sondern Subjekte sind, keine Seienden sondern Tuende, die sich gegen das, was ist, bewegen und Identitäten zerbrechen. Wir sind die Bewegung der Nicht-Identität, der Anti-Identität. Wir sind Tuende, die von dem, was ist, gefesselt werden, aber das, was ist, ist nichts mehr als der Produkt unseres Tuns. Dies ist die Quelle der Hoffnung. Die Welt, die uns entgegensteht, die verdinglichte Welt des Kapitals, ist das Produkt unseres Tuns und ihre Existenz hängt von uns ab.

Der Kapitalismus steht uns als grosser, unbeweglicher Riese entgegen, und es ist sehr schwer vorstellbar, wie wir seine Kräfte besiegen könnten – seine Heere, seine Kontrolle der Verkehrsmittel und der Erziehung, seine Kontrolle des materiellen Reichtums, usw. Das Projekt, ihm auf seinem eigenen Terrain entgegenzutreten, ist zum Scheitern verurteilt. Vielleicht müssen wir es so verstehen, dass wir ihm nicht entgegentreten können, sondern vielmehr, dass wir ihn auflösen oder entfetischisieren müssen. Das Problem kann auch als Frage von Innerlichkeit/Äußerlichkeit aufgefasst werden. Das Kapital scheint eine äußerliche Kraft zu sein, die uns entgegensteht. In Wirklichkeit ist es aber bloß der verwandelte, fetischisierte Ausdruck unseres eigenen Tuns und, als solcher, hängt das Kapital völlig von uns ab. Der Kern der kapitalistischen Metamorphose besteht in der Verwandlung unseres Tuns in Arbeit (entfremdete Arbeit). Darin liegt, nach wie vor, die Zentralität von Marx und des Klassenkampfbegriffs. Unser Kampf ist der Kampf um die Auflösung der Äußerlichkeit des Kapitals, der Kampf des Antifetischismus, also der Kampf, das Tun von der Arbeit zu emanzipieren. Das bedeutet unsere Macht-zu-tun (oder kreative Macht) gegen ihre verkehrte Form (ihre Macht-über, ihre Macht-zu-befehlen, ihre instrumentelle Macht) aufzubauen. Unsere Macht-zu-tun oder kreative Macht und ihre Macht-über oder instrumentelle Macht sind zwei völlig verschiedenen Formen von Macht, jede mit ihrer ganz eigenen Logik. Unsere Macht ist keine Gegenmacht (ein Begriff, der nahelegt, dass unsere Macht das Spiegelbild ihrer Macht sein könnte) sondern eine Anti-Macht, mit eigener Farbe und Musik und Rhythmus.

All dies ist nicht neu. Die Rebellion hat immer ihre eigene Logik, ihre eigenen Organisationsformen, ihre eigene Sprache, ihre eigene Zeit, ihren eigenen Raum gehabt. Denkt an Joachim di Fiore, an Abiezer Coppe, an Thomas Münzer, auch an Karl Marx. Im Zentrum dieser Logik steht der Kampf um die Erschaffung eines Wir, eines selbstbestimmten gesellschaftlichen Flusses des Tuns. Immer wieder kommt der Aufstand auf den Rat oder die Versammlung als seine spezifische Organisationsform zurück – von der Pariser Kommune bis zu den Nachbarschaftsräten in Argentinien oder den zapatistischen Gemeinderäten in Chiapas. Und immer wieder tritt dem Versuch, ein sich selbst bestimmendes Wir zu bilden, der Staat entgegen, das heißt, der Versuch, uns eine fremde Logik, die Logik der Unterordnung und der Zersplitterung aufzuerlegen. Deshalb ist es so wichtig, unsere eigene Organisationsformen, unsere eigene Logik, unsere eigene Formen Sachen zu tun, unsere eigenen Zeiten und Rhythmen zu entwickeln und ihnen zu vertrauen. Wir müssen eine Sprache sprechen, die die Mächtigen nicht verstehen; ein Lied singen, das ihren Ohren wehtut; uns mit Farben schmücken, die ihren Augen wehtun; das Tun mit einer Logik verrichten, die ihre Vernunft übersteigt; uns mit Rhythmen bewegen, die sie nicht wahrnehmen: dies ist der Kern der Kämpfe der letzten Jahre auf der ganzen Welt, dies ist der Kern jeglichen antikapitalistischen Kampfes.

Das Buch ist ein Versuch, diese Themen zu untersuchen. Es ist eine Einladung zur Diskussion, im Wissen darum, dass wir keine Antworten haben, dass die Antworten nur durch gemeinsame Diskussion und gemeinsames Tun gefunden werden können. Der einzige Weg nach vorne ist der Weg des preguntando caminamos, des „fragend schreiten wir voran“.

Thomas Seibert: Fragen an John Holloway

 

Wir stimmen überein in der Anstrengung, den Begriff und wichtiger noch die „Sache selbst“ der Revolution ins Denken und Handeln zurückzubringen, nach fast drei Jahrzehnten der ideologischen Hegemonie verschiedener Varianten des Liberalismus. Wir setzen dem Liberalismus die Aktualität der Revolution entgegen, nicht in phantastischer Selbstüberschätzung unserer Möglichkeiten, sondern als eines lang anhaltenden Prozesses, der lange schon begonnen hat und den wir heute, unter ganz besonderen, historisch einzigartigen Bedingungen fortsetzen. Wie das gehen kann, darüber wollen wir uns verständigen, unter Genossinnen und Genossen streiten.

Wir stimmen auch überein, dass wir uns auf der Linken in einer Konstellation von – grob gesprochen – drei Traditionslinien finden: der durch die Namen Lenins, Trotzkis und Maos zu bestimmenden parteikommunistischen Tradition, der sozialdemokratisch-reformistischen Tradition, und schließlich  der untergründigen Tradition einer undogmatischen, autonomen und antiautoritären Linken, die genauso alt ist wie die beiden anderen Linien, und die Du anrufst, wenn Du exemplarisch immer wieder von den Zapatistas sprichst.

Für LeninistInnen und ReformistInnen hat die Eroberung der Staatsmacht tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt, und in diesem Punkt trennen wir uns von ihnen. Fraglich aber ist, wie wir das tun, d.h. wie wir sie kritisieren und uns von ihnen absetzen. Ich glaube, dass wir uns darüber nicht einig sind. Zwar weisen wir gemeinsam die Antworten zurück, die LeninistInnen und ReformistInnen auf bestimmte, jedenfalls meiner Auffassung nach noch heute aktuelle Fragen gegeben haben. Ich denke aber, dass Du mit den Fragen, auf die Leninismus und Reformismus historisch gescheiterte Antworten gegeben haben, anders umgehst, ich frage mich, ob Du nicht sogar schon diese Fragen zurückweist. Ich vermute, dass Du deshalb nach einem antileninistischen und antireformistischen Verständnis revolutionärer Politik suchst, und dass Dir deshalb auch die Vorsilbe „Anti-“ so wichtig ist, wenn Du von Anti-Macht, Anti-Politik oder von Anti-Fetischisierung sprichst.

Ich ziehe an dieser Stelle die Vorsilbe „Post-“ vor, mir geht es weniger darum, dem Leninismus und dem Reformismus Anti-Politik entgegenzusetzen, als nach ihnen Politik zu denken und zu machen. Das schließt für mich deshalb auch eine Kritik der undogmatischen und autonomen Linken ein: ich glaube, dass wir heute auch eine Politik nach der Neuen Linken suchen.

Ich möchte unsere Diskussion deshalb gerne anhand der Fragen stellen, auf die Leninismus, Reformismus und die Neue Linke nicht in jedem Fall falsche, aber oft unbefriedigende Antworten gegeben haben. Du beziehst Dich immer wieder auf die zapatistische Losung, nach der wir fragend vorangehen. Auch im Vorrang der Frage vor der Antwort sind wir uns einig –: ich meine aber, dass man nur dann fragend vorankommt, wenn man sich unterwegs über wie immer auch vorläufige Antworten auseinandersetzt. Um solche Antworten möchte ich Dich bitten.

1.) Fangen wir mit der Frage nach der Staatsmacht an, und gehen wir dieser Frage anhand eines Beispiels nach, über das wir beide schon einmal gesprochen haben, das Beispiel der Landlosenbewegung MST in Brasilien. Leninismus und Reformismus ging es – grob gesprochen – um Einfluss im Staat bzw. um die Übernahme der Staatsmacht.

Du schlägst vor, dem Staat den Rücken zuzukehren, sich ungehorsam auf die Flucht vor dem Staat zu machen, weil er eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse sei, die zum Zwecke der Unterdrückung des Ungehorsams entwickelt wurde.

Das MST in Brasilien strebt nicht nach der Übernahme der Staatsmacht, es ist keine Partei, weder eine leninistische noch eine reformistische. Im MST kämpfen die landlosen ArbeiterInnen in eigener Sache, sie fordern nicht einfach vom Staat eine Landreform, sondern nehmen sie in ihre eigenen Hände, besetzen und besiedeln brachliegendes Land, bauen dort landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften auf. Das bringt sie in Gegensatz zu den Großgrundbesitzern und zum Staat, und diesen Gegensatz kämpft die Bewegung autonom aus.

Aber heißt das, dass sie sich in diesem Gegensatz erschöpft? Verändert sie kraft ihrer Autonomie nicht auch den Staat – ich würde sagen: nicht kraft ihrer Anti-, sondern kraft ihrer effektiven Gegenmacht? Ist Staat in Brasilien heute nicht auch das, was das MST aus ihm gemacht hat? Und, wichtiger noch: muss das MST nicht die natürlich sehr begrenzte Macht, den begrenzten Einfluss, den es über den Staat gewonnen hat oder gewinnen kann, strategisch in Rechnung stellen? Muss sich die Bewegung nicht in diesem Sinn bewusst auch auf den Staat beziehen, eine Politik entwickeln, die auch auf Staatshandeln, auf Regierungshandeln ausgerichtet ist – auch und gerade dann, wenn das MST nicht selbst Regierung werden will? Gibt es nicht deshalb ganz offen die Beziehung zwischen dem MST und der Arbeiterpartei, wie kompliziert und widersprüchlich sie auch ist? Müsste man deshalb nicht sagen: weder die Staatsmacht erobern noch ihr den Rücken zukehren, sondern zum Staat auf Distanz gehen, um aus dieser Distanz heraus Einfluss und Macht auch über staatliches Handeln zu gewinnen? Und bleiben wir damit nicht all den Fragen verbunden – den Fragen, nicht den Antworten! -, denen sich der Reformismus in seiner langen Geschichte gestellt hat, den Fragen nach begrenzten, nichtsdestotrotz aber oft lebenswichtigen Veränderungen auf halber Strecke, den Fragen nach den Teilsiegen in all den Teilniederlagen, aus denen sich die konkreten, nicht zu verachtenden Kompromisse im Kampf zusammensetzen, Kompromisse im Staat und zwischen den Klassen, Kompromisse, gegen die wir den Kampf nur deshalb neu beginnen können, weil wir sie zunächst einmal errungen haben, eingehen mussten?

2.) Deine Ablehnung des Staates und der reformistischen wie der revolutionären Konzeptionen von Gegenmacht begründest Du damit, dass die Orientierung am Staat den Kämpfenden wie den Kämpfen Hierarchien aufzwingt, Hierarchien zwischen Führern und Geführten, Hierarchien zwischen „wichtigen“ Kämpfen – denen um die Macht im Staat – und „unwichtigen“ Kämpfen – denen um die individuelle wie kollektive Selbstveränderung im Alltag, um die Veränderung der Lebenswelt. Dagegen bestehst Du darauf, dass wir alle in und mit unseren Unterschieden und in der Vielfalt unserer Kämpfe letztlich einen gemeinsamen Kampf führen, alle gemeinsam und gleich gegen Kapital und Staat.

Dass die Hierarchisierungen unter den Kämpfenden und zwischen den Kämpfen oft genau so funktioniert haben, wie Du das beschreibst, ist offensichtlich. Doch müssen nicht auch wir strategisch Unterschiede berücksichtigen, Unterschiede zwischen den Kämpfenden und ihren Kämpfen? Für Dich sind wir im Nein gegen die herrschenden Verhältnisse alle gleich – doch fällt dieses Nein nicht sehr unterschiedlich aus? Wir haben es doch nicht einfach nur mit einer Vielzahl von Kämpfen zu tun, je nach Subjekten, Zeit und Ort, wir haben es doch mit mehr oder weniger radikalen, mehr oder weniger autonomen Kämpfen zu tun, wir haben es sogar mit reaktionären und konterrevolutionären Elementen in den Kämpfen zu tun, wir haben es mit der Macht der herrschenden Ideologien über die Beherrschten zu tun, auch ganz einfach mit erfahrenen und unerfahrenen Kämpferinnen und Kämpfern.

Die leninistische Avantgardepartei war darauf, da sind wir uns einig, die falsche Antwort. Doch hat sich damit auch die leninistische Frage beantwortet? Gibt es nicht ganz unabhängig vom Problem ihrer konkreten Organisation in jedem einzelnen Kampf und zwischen verschiedenen Kämpfen ein wirkliches Problem der Avantgarde? Einer Avantgarde, die nicht wie die leninistische von außen an die Klasse herantritt, sondern sich in den Kämpfen von innen entwickelt? Waren die Bolschewiki jedenfalls zu einer bestimmten Zeit und für eine bestimmte Zeit nicht wirklich die Avantgarde der Kämpfe im zaristischen Staat? Gesetzt, es gibt immer wieder und notwendiger-, ja glücklicherweise solche Avantgarden: Wie wären sie anders zu organisieren als im Stil der Bolschewiki?

Anders gesagt: wie bringen wir Unterschiede der Erfahrung, des Wissens, der Radikalität und der gelebten Autonomie in der Bewegung und in den Kämpfen in Zirkulation? Und wie bewahren wir über die Unterschiede des Ortes wie der Zeit hinweg unsere historische Erfahrung und unser historisches Wissen? Reicht es da aus, wie Du auf „informelle Netzwerke“ zu setzen? Stellt sich nicht auch da das Problem von Autorität und Hierarchie? Wie finden wir also bessere Antworten auf die Fragen, die Lenin, Trotzki und Mao doch nicht aus bloßem Machtwillen gestellt haben? Versteh mich recht: Du musst diese Antworten hier so wenig geben wie jemand anderes, ich glaube nicht, dass wir heute solche Antworten haben. Doch mir scheint, dass Du schon die Fragen abwehren willst – oder täusche ich mich da?

3.) Die undogmatische und antiautoritäre Linke hat nach einem anderen Verhältnis von Ethik und Politik gesucht, und sie hat gerade darin ihren besonderen Unterschied zu ReformistInnen und LeninistInnen markiert. Du beziehst Dich auf den zapatistischen Begriff der „Würde“ und den existenzialistischen und situationistischen Begriff der „Authentizität“ – d.h. auf die „ethische Dimension“ der Politik. Die Neue Linke hat Ethik und Politik zusammengebracht, sie hat das vorgeblich Private als Raum der Politik bestimmt und deshalb auch auf eine „Politik in Erster Person“ gesetzt, eine Politik der subjektiven Wünsche und Begehren. Auch ich denke, dass die individuelle und kollektive Selbstveränderung von Subjektivität, der Kampf um Weisen der Subjektivierung und um eine Ethik der Würde oder der Authentizität einerseits, und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung andererseits nicht getrennt werden dürfen.

Auch ich hoffe, dass die Gestalt des leninistischen oder sozialdemokratischen „Parteisoldaten“ bald der Geschichte angehört. Doch heißt das, dass Ethik und Politik auch immer zusammenfallen? Gibt es nicht trotzdem eine Differenz oder mehrere Differenzen zwischen der Ethik und der Politik? Gibt es nicht auch da Ungleichzeitigkeiten? Müssen nicht gerade wir Unterschiede aushalten zwischen Ethik und Politik, in beiden Richtungen? Gibt es nicht manchmal einen Vorrang der Politik vor der Ethik, zu anderer Zeit einen Vorrang der Ethik vor der Politik, und dann wieder, wenn wir Glück haben, eine Einheit von Ethik und Politik? Und: Wenn es ernst wird, steht die Ethik immer vor der Entscheidung um ein Entweder-Oder – da werde ich Sören Kierkegaard immer treu bleiben: wir sind in der Würde, oder wir sind es nicht, wir sind authentisch, oder wir sind es nicht, „die Ethik“, so hat Kierkegaard gesagt, „diskutiert nicht.“

Für die Politik gilt das offensichtlich nur bedingt: Sprichst Du deshalb lieber von Anti-Politik – weil die Politik „unethisch“ ist, gerade nicht vor einem Entweder-Oder steht? Stellst Du also aus Gründen eines systematischen Vorrangs der Ethik Deine Entweder-Oder auf: Politik oder Anti-Politik? Macht oder Anti-Macht? Fetischisierung oder Antifetischisierung?

Aber reicht das? Geht es in der Politik, anders als in der Ethik, nicht eher um Übergänge und vielgestaltige Unterschiede: Um eine Distanz zum Staat, die auch eine Nähe ist? Um eine Auflösung und Zersetzung von Organisation, die auch ihre Neugründung ist? Um einen unabschließbaren Kampf der Ideologien, der Verwicklung der Widersprüche? Wie denkst Du zum Beispiel das Problem, für das der Genosse Mao Tsetung, sicherlich ein Leninist, die Formulierung von den „Widersprüchen im Volke“ gefunden hat, Widersprüche, die also gerade nicht durch ein Entweder-Oder aufzulösen sind? Die aber vielleicht einen Unterschied markieren zwischen der spontanen Organisierung der Leute im Kampf, auf Versammlungen, in Räten, und einer besonderen Organisierung der RevolutionärInnen, die auch die Zeiten überdauert, in der es nicht zu Versammlungen kommt?

Anders gesagt: auch wenn wir alle keine Parteisoldatin mehr sein wollen – sind wir nicht dennoch Militante oder Kader, und nicht einfach nur spontan rebellierende Menschen – gibt es da nicht einen Unterschied, der organisiert werden muss? Müssen wir nicht auch Militante sein?

In Deinem Buch beziehst Du Dich explizit auf drei Kämpfe aus jüngerer Zeit: natürlich auf die Kämpfe in Chiapas, dann auf den StudentInnenstreik an der Universität von Mexiko-City und auf die Kämpfe der Liverpooler HafenarbeiterInnen (S. 179). Selbstverständlich haben sich in diesen Kämpfen die Leute selbst zur Wehr gesetzt, unmittelbar aus ihrer Lebenssituation heraus. Und trotzdem waren und sind diese Kämpfe nur möglich gewesen, weil in ihnen organisierte Kader aktiv waren und sind, die immer auch aus einer strategischen Distanz heraus gehandelt haben und handeln, die auch, in Deinen Worten gesagt, in einem instrumentellen Verhältnis zum aktuellen Geschehen standen und deshalb der Politik jedenfalls für eine bestimmte Zeit den Vorrang geben vor der Ethik.

Glaubst Du, dass wir darauf verzichten können? Hieße das nicht, auf den Willen zum Sieg zu verzichten, ohne den man sich, jedenfalls nach meinem Verständnis, auf einen Kampf gar nicht einlassen sollte?

4.) Wir beziehen uns beide auf die ketzerischen Traditionen des revolutionären Denkens, auf die Kritische Theorie, den existenzialistischen Marxismus, auf den Operaismus, auch auf das Denken von Michel Foucault und Gilles Deleuze, von Michael Hardt und Toni Negri. In diesem Geflecht des Denkens gibt es zwei einander widersprechende Tendenzen, deren Unterschied im Begriff der Entfremdung auf den Punkt kommt. Für Dich ist das nach wie vor ein zentraler Begriff, andere versuchen, auf ihn zu verzichten. Mir geht es jetzt nicht um einen Streit um Worte, und ich plädiere auch nicht unbedingt dafür, den Begriff der Entfremdung fallen zu lassen. Deshalb möchte ich direkt das zur Sprache bringen, was mir an diesem Begriff problematisch zu sein scheint, und Dich um eine Klärung bitten.

Wer entfremdet wird, sich, seinem Tun entfremdet wird, der gerät auch seiner Heimat in die Fremde, und der erfährt dies als Verlust, als Vertreibung. Entfremdet kann nur werden, wer zuerst bei sich selbst ist, wer in seinem Wesen zuhause ist, wem die Fremde und wem das Fremde fremd ist, unheimlich im engsten Sinn des Wortes. Die Aufhebung der Entfremdung wird deshalb auch als Wiederherstellung gedacht, als Heimkehr, als Wiederaneignung des verlorenen Wesens.

Ich frage mich, ob das eine Metaphorik ist, die uns wirklich weiterhilft, und ich tue das aus zwei Gründen. Erstens: Die Worte selbst bergen eine Wahl in sich: eine Wahl für das Ursprüngliche, das Eigene, das Bei-sich-sein und gegen die Fremde und das Fremde. Ich frage mich und Dich, ob das der Erfahrung der Befreiungskämpfe entspricht, ob nicht gerade die umgekehrte Wahl zu treffen wäre, eine Entscheidung für den Aufbruch aus dem Eigenen, dem Herkommen, der Heimat, eine Entscheidung – wie Negri sagt – für den Exodus, für den Auszug aus Ägypten, und ich meine das nicht nur metaphorisch, sondern auch in unmittelbar politischem Sinn: als eine Entscheidung für die Migration, die durch die ganze Geschichte der sozialen Kämpfe hindurch eine der wichtigsten und gegenmächtigsten, auch antimächtigsten Strategien der Unterdrückten war. Sollten wir nicht auch unsere theoretischen Begriffe mit dieser Erfahrung verbinden? Sollten wir nicht, wie Toni Negri vorschlägt, „eine allgemeine Geschichte der Produktionsweisen aus der Sicht des Mobilitätsstrebens der Arbeiter (zu) schreiben (vom Land in die Kleinstadt, von der Kleinstadt in die Großstadt, von einem Staat zum anderen, von einen Kontinent zum anderen)“, und müssen wir dafür nicht auf die Metapher der „Entfremdung“ verzichten?

Zweitens: Hilft uns der Begriff der Entfremdung, auch der der Fetischisierung, den Du häufiger verwendest, wirklich, wenn es darum geht, die Bedingungen unserer Ausbeutung und unserer Unterdrückung so zu untersuchen, dass wir dabei zugleich herausfinden können, wo unser Widerstand und wo unsere praktischen Alternativen ansetzen können, hier und heute? Helfen uns Begriffe wie Entfremdung und Fetischisierung z. B. bei der konkreten und militanten Untersuchung der Erfahrungen, die wir im postmodernen Kapitalismus machen, unter den Bedingungen einer informatisierten Produktion, einer globalisierten Produktion, in der eben auch die herkömmlichen Erfahrungen von Raum und Zeit verändert werden, die Erfahrungen auch des Verhältnisses von Natur und Technik, von Mensch und Maschine? Ist das alles nur Entfremdungswerk, gegen das wir auf eine Rückkehr nach Hause setzen sollten? Oder sollten wir nicht sagen: Globalisierung – davon haben wir längst noch nicht genug gesehen, wir wollen nicht hinter die kapitalistische Globalisierung, wir wollen kommunistisch über sie hinaus, in eine Welt hinaus, die überhaupt erst zu erfinden wäre, viel künstlicher und kunstvoller, als wir das heute denken können?