Ontologie der Revolution

Elf Thesen zur PRAXIS-Gruppe – heute

Das Belgrader Auslandsbüro der Rosa Luxemburg Stiftung lud vom 13. – 15. November 2011 zu einer Konferenz auf die kroatische Insel Korcula ein. Sie war der PRAXIS-Gruppe gewidmet, einer Gruppe von politischen Philosoph*innen, die sich im Jugoslawien der 1960er Jahre um eine existenzialistisch inspirierte Erneuerung des Marxismus bemühte. Mit ihren auf Korcula veranstalteten und auch von internationalen Gästen – darunter Herbert Marcuse – besuchten „Sommerschulen“ gewann sie maßgeblichen Einfluss nicht nur auf die jugoslawische Studierendenbewegung dieser Zeit. Ich folge den unterirdischen Verbindungslinien, in denen die PRAXIS-Gruppe noch der Kommunismus-Debatte präsent blieb (Länger) 

1.

Philosophie und Politik der PRAXIS-Gruppe sind für uns Geschichte geworden. Die Politik, sofern sie Teil der kommunistischen Bewegung des 20. Jhdts. war, die ihren Abbruch auch im Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien 1991 erfuhr. Die Philosophie, sofern sie Teil der langen „Krise des Marxismus“ war, die bekanntlich keine Lösung fand und deshalb ebenfalls nur in einem Abbruch endete. Doch sind mit diesen beiden Abbrüchen weder die politischen noch die philosophischen Kämpfe zu Ende gegangen, die sich in ihnen verdichtet haben. Deshalb stehen wir am Anfang des 21. Jhdts. längst im Neubeginn einer kommunistischen Bewegung und einer inmitten dieser Bewegung neu zu beginnenden Philosophie der Revolution.[1] Deshalb stehen unsere Politik und unsere Philosophie heute unter dem Titel des Postmarxismus, von dem Jacques Derrida sagt, dass er nur als eine „Radikalisierung des Marxismus“ verstanden werden kann, die als solche „immer an das verschuldet“ bleibt, „was von ihr radikalisiert wird.“ In dieser Radikalisierung kann es allerdings gerade nicht darum gehen, „noch weiter in die Tiefe der Radikalität, des Fundamentalen oder des Ursprünglichen (Ursache, Prinzip, arche) fortzuschreiten, noch einen Schritt mehr in dieselbe Richtung zu tun. Wir würden eher versuchen, uns dorthin zu begeben, wo das Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit, wie es immer noch die marxistische Kritik beherrscht, Fragen erfordert, wo es Formalisierungsverfahren und genealogische Interpretationen braucht, die in dem, was die sich marxistisch nennenden Diskurse beherrscht, nicht oder nicht hinreichend ins Werk gesetzt werden.“ (Derrida 1995: 149f.)

PRAXIS wird diesen Fragen, Formalisierungen und Genealogien auch deshalb auszusetzen sein, weil es in der Befragung des „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ um den transhistorischen Gründungsakt der Philosophie selbst und damit notwendig um den Punkt geht, von dem aus die Philosophie die Politik denkt und darin selbst politisch wird. Die Bedeutung der PRAXIS-Gruppe liegt darin, sich diesem Abenteuer der Dialektik vorab schon in fünf Zügen genähert zu haben:

(a) Sie richtete sich schon zu ihrer Zeit auf einen Neubeginn kommunistischer Bewegung und revolutionärer Philosophie aus.

(b) Sie folgte dabei einer Dialektik von Politik und Philosophie, die den Neubeginn kommunistischer Bewegung ausdrücklich zur Sache einer Philosophie erhob, die in diesem Neubeginn ihre eigene „Aufhebung“ finden und darin das Erbe Marx’ antreten sollte.

(c) Sie verstand diese Philosophie selbst schon als eine postmarxistische, in dem sie das „Denken von Marx“ kategorisch von den Marxismen der II. und III. Internationale, also von den Generallinien des „wissenschaftlichen Sozialismus“ unterschied.

(d) Sie vollzog diese Unterscheidung durch ihre Weigerung, jenes Paradox umstandslos hinzunehmen, von dem Michael Hardt und Toni Negri in einem der ersten Dokumente heutiger kommunistischer Bewegung festhalten, dass es „schon im Denken von Marx“ anzutreffen war: „das Paradox, die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem ‚Prozess ohne Subjekt’ anzuvertrauen.“ (Hardt/Negri 1997: 17)

(e) Sie bereitete der von Derrida und anderen eingeforderten Befragung des Fundamentalen, des Ursprungs und des Radikalen insoweit schon den Weg, als sie Teil der philosophischen Bewegung wurde, die das „Denken von Marx“ zugleich einer Ontologie einschrieb, in der die Frage nach dem Sinn von Sein nicht mehr auf einen ersten Grund und ein letztes Ziel alles Seienden, sondern auf die existenzielle Erfahrung des Entzuges solcher Gründe und Ziele führte. In der Folge dieser Erfahrung bestimmt diese Ontologie das „Gattungswesen“ menschlicher Subjektivität nach einer Dialektik, in der die subjektkonstituierende „Sorge um sich“ zur Antwort auf einen grundlegenden „Mangel im Sein“ und derart in sich selbst schon zu einem „Begehren des anderen“ wurde: zu einer Leidenschaft, in der sich die Freiheit des menschlichen Seins auf ihre „nichtmenschliche ermöglichende Dimension“ und damit auf eine Praxis verwiesen sieht, in der „Denken und Sein zwar unterschieden, doch zugleich in Einheit zueinander“ wären.[2]

Das doppelte Problem vor allem dieses letzten Zuges liegt nun allerdings darin, dass einerseits PRAXIS in der ontologischen Reformulierung des „Denkens von Marx“ nicht weit genug ging, und dass andererseits die dabei in Anspruch genommene Ontologie selbst – es war dies, man weiß es, diejenige Heideggers – in der Folge des politischen Bösen ihres ersten Autors von ihrem ursprünglichen Kurs abgelenkt wurde.[3] Insofern bleibt, und das ist die These dieser Thesen, die Arbeit noch zu tun, die PRAXIS sich vorgenommen hatte. Angemerkt sei, dass das im Folgenden entfaltete Abenteuer der Dialektik zunächst wortwörtlich zu nehmen ist: als offene Folge von Rede und Widerrede in einer Phänomenologie des kommunistischen Neubeginns.

2.

Die von der PRAXIS-Gruppe eröffnete Dialektik von Politik und Philosophie muss in ihrer Herkunft aus einer besonderen politischen Erfahrung verstanden werden: der Teilnahme nicht weniger der PRAXIS-Gründer am Partisanenkampf der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee einerseits und der folgenden Korruption der revolutionären Subjektivität vieler Militanter dieser Armee und ihrer Partei in der Herausbildung einer bürokratischen Staats- und Parteiherrschaft andererseits.[4] Aus dieser Erfahrung analysierte PRAXIS den inneren Zusammenhang der marxistischen These eines gesetzmäßig determinierten Geschichtsprozesses mit dem ethisch-politischen Voluntarismus bürokratischer Herrschaft. Den Kern dieses Zusammenhangs machte PRAXIS im Vorrang des „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch vor seinem eigenen „subjektiven Faktor“ aus, mit dem viele Marxist_innen bzw. Kommunist_innen des 20. Jhdts. einem folgenschweren Missverständnis des Begriffs wie der Sache selbst der Subjektivität verfielen. Den logischen Grund dafür erkannte PRAXIS in dem Umstand, dass die Bestimmung der Subjektivität meist erst im „ideologischen“ Gegenzug zu den zuvor „wissenschaftlich“ ausgewiesenen objektiven Determinationsverhältnissen erfolgte; das beileibe nicht nur Marxist_innen zuzuschreibende Missverständnis selbst kann in Abwandlung einer berühmten Formel Michel Foucaults als „deterministisch-voluntaristische Dublette“ bezeichnet werden. (vgl. Foucault 1971: 384) Dabei ist im Begriff des Voluntarismus weniger die Bestimmung des Subjekts durch seine Bedürfnisse, seine Ansprüche und Begehren und derart auch durch seinen Willen gemeint als vielmehr die Trennung dieses Willens von einer Vernunft, die im selben Zug auf die wissenschaftliche Positivierung von Determinationsverhältnissen reduziert wird.

3.

Dass PRAXIS die deterministisch-voluntaristische Dublette als notwendige Folge einer falschen Verwissenschaftlichung von Philosophie und Politik verstand, lässt sich der Polemik entnehmen, in der Gajo Petrović sogar der Kritischen Theorie vorwarf, die gemeinsam angestrebte Aufhebung der Philosophie mit einer „positivistischen Auflösung der Philosophie in die Wissenschaften“ verwechselt zu haben. (Petrović 1984: 3) Wenn Petrović die tatsächliche Aufhebung der Philosophie demgegenüber einem „wahren (wesentlichen) Denken“ vorbehält, „das die Revolution (nicht die Revolution im Sinne einer gesellschaftlichen Veränderung, sondern die Revolution im Sinn von wahrem Sein) zu denken imstande ist“, verortet er die Dublette im Sein selbst und entwirft ihre philosophische und politische Aufhebung als einen polit-ontologischen Prozess, in dem die politische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit der ontologischen (Selbst-)Veränderung ihrer Subjektivierung zusammenfällt.

4.

Natürlich beruft sich Petrović in dieser Polemik auf die Thesen zu Feuerbach, in denen Marx dem „bisherigen Materialismus“ ein grundlegendes Vergessen attestiert: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.“ Das erste Vergessen schließt ein zweites ein, in dem vergessen wird, dass das „Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung“ selbst wieder „nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden“ kann. Marx zufolge artikuliert dieses Vergessen nicht weniger als den „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus“, nach dem „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.“ (Marx/Engels 1969: 5-7)

Tatsächlich „sondiert“ im Bann dieses Vergessens und Versäumnisses nicht nur der Marx vorausgehende, sondern auch der Marx folgende Materialismus die Gesellschaft in „zwei Teile“, spaltet dabei das „theoretische Verhalten“ vom Ganzen der Praxis ab und liefert sich so der deterministisch-voluntaristischen Dublette aus: eine Operation, die ihre entschiedenste Fassung PRAXIS zufolge in Althussers „Sondierung“ der Wissenschaft von der Ideologie und der Subordination sowohl der Ideologie wie der Philosophie unter die Wissenschaft gefunden hat.[5] Gegen diese Mystifikation gleichermaßen der Wissenschaft wie der Ideologie und des vergessenen Zusammenhangs beider in der „menschlichen Praxis“ beharrt PRAXIS auf der strategischen Einsicht der Thesen über Feuerbach, nach der „alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis“ finden. Der entscheidende Punkt liegt dabei im Zirkel der Praxis und des „Begreifens dieser Praxis“, in dem „die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme“, zuerst und zuletzt „keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“ ist (Marx/Engels a.a.O.): die Frage mithin einer nur im jeweiligen Vollzug gegebenen Einheit von Denken und Sein und eben insofern einer „Revolution im Sinn von wahrem Sein“.

Die so verstanden praktische Frage nach einer so verstandenen Revolution im Sein beantwortet PRAXIS immer wieder mit dem Marx-Zitat, nach dem der Kommunismus „als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus“ sei: „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, (…) wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (Marx/Engels 1968: 536; zur Bedeutung dieser Marx-Passage für PRAXIS vgl. exemplarisch die Diskussion bei Petrović 1971: 211-224 bzw. 224-234)

Von hier aus ist dann auch zu fassen, was PRAXIS unter dem Begriff der „Praxis“ eigentlich verstand: ein Vermögen des menschlichen Seins, sich selbst, das Sein alles anderen Seienden und damit zuletzt das Sein der Welt im Ganzen von der Entfremdung in der und durch die Arbeit zu befreien, indem die Menschen sich selbst und die Welt im Ganzen von der herrschenden Arbeitsteilung, der entziehenden Aneignung ihrer Produkte und der Regulation beider im Staat befreien. Im aktuellen Denken findet sich ein ähnliches Verständnis von Praxis in der Unterscheidung, die John Holloway zwischen der Arbeit und dem Tun bzw. dem Tun und dem schon Getanen vollzieht.

5.

Die Emphase, mit der PRAXIS die „ontologische Einheit“ des Seins selbst im Sein der „menschlichen Praxis“ und damit im „Sein des Menschen“ finden wollte, ruft heute und für uns allerdings zunächst nur erst den „Zeitenabstand“ (Gadamer 1986: 303) auf, der uns von ihr trennt. In diesem Zeitenabstand gründen Derridas Vorbehalt gegen das „Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ wie Foucaults Auflösung der „ontologischen Einheit“ des Kollektivsingulars „Mensch“ in den nichtmenschlichen Transzendentalien des Lebens, der Arbeit und der Sprache. Dabei fasst Foucault den berüchtigten „Tod des Menschen“ seinerseits in Frage-Form: „Wie kann der Mensch dieses Leben sein, dessen Netz, dessen Pulsieren, dessen verborgene Kraft unendlich die Erfahrung überschreiten, die ihm davon gegeben ist? Wie kann er jene Arbeit sein, deren Erfordernisse und Gesetze sich ihm als ein fremder Zwang auferlegen? Wie kann er das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet worden ist, deren System ihm entgeht, (…) die er einen Augenblick durch seinen Diskurs aufblitzen lässt und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein Denken platzieren muss?“ (Foucault 1971: 390)

Liegt einerseits auf der Hand, dass PRAXIS diese Fragen nicht zureichend beantwortet hat, gilt doch auch hier zugleich, dass der fortwirkende Zeitenabstand „den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen“ lässt: „es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so dass der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren.“ (Gadamer, a.a.O.)

6.

Ein solcher Sinnbezug kann in der noch lange nicht ausgedeuteten Übereinkunft gefunden werden, nach der die Ontologie Heideggers nicht nur für PRAXIS, sondern auch für deren Kritiker Derrida und Foucault und noch für die heutigen Postmarxismen Hardt/Negris, Alain Badious und Slavoj Žižeks zur methodisch leitenden Referenz auch in der Aneignung des „Denkens von Marx“ wurde.[6] Diese alle ihre Differenzen untereinander durchwirkende Übereinkunft eröffnet die Möglichkeit, den jeweiligen Zeitenabstand aufeinander im doppelten Blick auf Marx und Heidegger auszumessen. Letzterer bestimmt sein eigenes Verhältnis zu Marx im Brief über den Humanismus bekanntlich in der Auszeichnung, nach der Marx, „indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht“, deshalb in seiner „Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen“ sei und die existenziale Ontologie dadurch zum „produktiven Gespräch mit dem Marxismus“ verpflichte. (Heidegger 1967: 340)

7.

Obwohl Heidegger selbst dieses Gespräch nirgendwo zureichend geführt hat, können wir im Blick auf PRAXIS und den Postmarxismus wenigstens drei Punkte wechselnder Übereinstimmung wie wechselnden Widerstreits nennen:

a.) PRAXIS und der Postmarxismus folgen Heidegger zunächst darin, Ontologie nicht als klassisch-metaphysische Seins- oder Wesenslehre, sondern als selbst post-metaphysische „Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein“ (Heidegger 1984: 3) zu fassen. Wenn das Sein in dieser „Seinsfrage“ primär als „Sinn“ entschlüsselt werden soll, folgt dies daraus, dass das „Grundwort“ Sein von Heidegger als Begriff für den quasi-transzendentalen Horizont der Welt-Erschlossenheit und damit aller gesellschaftlichen Praxis verstanden wird.[7] Wenn so verstandenes Sein nicht mehr wie in der Tradition zum Grund eines seiner selbst und des Ganzen der Welt mächtigen Wissens, sondern zum Abgrund einer nie still zu stellenden Seinsfrage wird, liegt dies darin, dass die in ihm gemeinte apriorische Umgrenzung alles Sicht- und Sagbaren zugleich die Grenze dessen ist, was sich eben nicht sehen und sagen lässt. Wenn dieses Sein mehr als das formale „X“ eines unerkennbaren „Ding an sich“ ist, liegt dies daran, dass die dem Sein zugehörige Unsichtbar- und Unsagbarkeit von einer „Gegnerschaft des Anwesens“ selbst zeugt, die als ontologischer (quasi-transzendentaler) Antagonismus allen ontischen (empirischen) Antagonismen vorausgeht und darin die nichtmenschliche Bedingung aller zwischenmenschlichen Antagonismen bildet.[8]

Auch und gerade deshalb wird Ontologie bei Heidegger wie bei PRAXIS zu einer universalen Hermeneutik, die sich von Anfang an jenseits der Opposition von Wissenschaft und Ideologie platziert: ein Schritt, der im Postmarxismus im Prinzip nachvollzogen, wenn auch in unterschiedlich tiefgreifender Weise modifiziert wird. Universal ist diese Hermeneutik insoweit, als es ihr nicht einfach um das Auslegen von Texten geht, sondern um das Auslegen dessen, was Heidegger und Marx je auf ihre Weise als „faktisches Leben“ fassen. Ihr ontologischer Eigensinn liegt darin, die deterministisch-voluntaristische Dublette von Objekt und Subjekt in Konstellationen von Praxis und Welt aufzuheben, in denen Praxis ein zunächst und zumeist vor-subjektives In-der-Welt-sein ist: ein welt- und selbstauslegendes, doch als solches gerade nicht-objektivierendes Verhalten, das sich sein eigenes Sein in seinem vor der Theorie-Praxis-Scheidung liegendem Vollzug zugleich enthüllt und verstellt. Der methodische Eigensinn der Hermeneutik liegt dann darin, die ausdrücklich theoretische Auslegungstätigkeit der Ontologie zum „destruierenden“ Nachvollzug der alltäglichen Auslegungstätigkeit der Praxis wie ihrer bisherigen geschichtlichen Ausformulierungen zu radikalisieren und darin zum Austragungsort der „Gegnerschaft des Anwesens“ wie aller anderen, stets von ihr gezeichneten Antagonismen zu werden. Ihrem immanenten Ziel nach ist so verstandene Hermeneutik deshalb kritisches Sich-Verhalten zum alltäglichen Sich-zu-sich-Verhalten, dem es um die Aufhebung der eigenen Entfremdung geht: um eine „Revolution im Sinn von wahrem Sein“ im Vollzug der praktischen Kritik aller bisherigen Praxis.

b.) Erkennt PRAXIS den Grund der deterministisch-voluntaristischen Dublette des „wissenschaftlichen Sozialismus“ wie der europäischen Wissenschaftsgeschichte überhaupt mit Marx in einem „Vergessen“ der emphatisch verstandenen „menschlichen Praxis“, so weitet sich dieses Vergessen bei Heidegger zur „Seinsvergessenheit“ aus, die ihrerseits überhaupt erst zur „Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein“ nötigt. Von dieser Seinsvergessenheit sagt Heidegger, dass sie einerseits in den Ursprung der europäischen Wissenschaftsgeschichte zurückreicht und andererseits, vermittelt über die Verwissenschaftlichung und Durchtechnisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, das Alltagsleben wie die Verfassung entwickelter moderner Gesellschaften in quasi-transzendentaler Weise lenkt. Der Sache nach ist unter dieser Seinsvergessenheit die alle gesellschaftliche Praxis durchherrschende Verdinglichung (Objektivierung, Positivierung) des Seins in einem „höchsten“ und zugleich „allgemeinsten“ Seienden (Idee, Gott, Subjekt, Vernunft, Geist, Wille und, last but not least, Mensch) zu verstehen, in dem die nichtmenschliche Ermöglichung der menschlichen Möglichkeiten gebannt und derart dem „Willen zum Wissen“ (Foucault) verfügbar gemacht werden soll. Politisch wird diese „Onto-theo-logie“, sofern das höchste und allgemeinste Seiende historisch als die Referenz fungiert, in Bezug auf die der Staat die Vielheiten des Seienden durchzählt und aktuell, d.h. im Prozess seiner kapitalistischen Globalisierung, zum geschlossenen Ganzen der „Weltordnung“ zu versammeln sucht, die Heidegger „Gestell“, Foucault „Biomacht“ und Hardt/Negri „Empire“ nennen.

c.) PRAXIS und Heidegger trennen sich dann allerdings im konkreten Begriff der polit-ontologisch aufzuhebenden Entfremdung. Richtet sich PRAXIS auf eine letztendliche Aufhebung der Entfremdung im Vollzug kommunistischer Bewegung aus, geht es Heidegger um die immer neu zu wiederholende und derart nie abzuschließende Aufhebung einer in der „Gegnerschaft des Anwesens“ gründenden Entfremdung, die deshalb nicht nur der Bezugspunkt einer negatorischen, sondern auch einer affirmativen Geste ist, einer Geste, in der die „Sorge um sich“ und das „Begehren des anderen“ zum freien Verhältnis zur bleibenden Fremde im eigenen wie im Sein überhaupt werden können und sollen. Wenn Derrida, Foucault, Badiou und Žižek in diesem Punkt eher Heidegger, Hardt/Negri und Holloway eher PRAXIS folgen, heißt das nicht, dass es den Erstgenannten nicht um die Abschaffung der herrschenden Arbeitsteilung, der entziehenden Aneignung ihrer Produkte und der Regulation beider im Staat gehen würde. Doch nehmen sie ernster, dass der Kommunismus für Marx zwar das „aufgelöste Rätsel“ im historischen Widerstreit „zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung“, als solches aber eben nur das Ende der „Vorgeschichte“ war und derart Möglichkeiten des Werdens eröffnen sollte, deren eigene Problematiken jetzt noch nicht absehbar sind.[9]

8.

Ein ähnliches Verhältnis von Widerspruch und Übereinkunft ergibt sich dann allerdings auch in der hier mit Derrida gestellten Frage eines „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit.“ Stellte Heidegger seine Seinsfrage anfangs unter den missverständlichen Titel einer „Fundamental-Ontologie“, setzte er dieses Schema in der Entfaltung der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem einer immer tiefgreifenderen Befragung aus. Dabei stieß er auf den auch für den späteren Postmarxismus maßgeblichen Begriff einer Geschichtlichkeit, deren mögliche ontologische Einheit am Einbruch eines Ereignisses hängt und sich in der Augenblicklichkeit eines solchen Ereignisses sogleich wieder entzieht. Wenn der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben ist, liegt dies maßgeblich an einem Humanismusbegriff, den alle anderen Autoren so nicht teilen, weil sie ihn zumindest der Tendenz nach als selbst „onto-theo-logischen“ Begriff deuten. Es spricht zumindest für Ansätze einer selbstkritischen Einholung dieser Differenz, dass z.B. Mihailo Marković die größte Gefahr der PRAXIS in einem „abstrakten Humanismus“ und in der „Gefahr einer Kritik“ ausgemacht hat, „die keinen Sinn für die Geschichte hat und die alle Grundbegriffe (Mensch, menschliche Natur, Praxis, Freiheit, Entfremdung usw.) als apriorische, abstrakte Gemeinplätze behandelt, indem sie sie unmittelbar mit dem Bestehenden konfrontiert, statt sie durch besondere Bestimmungen der konkreten historischen Situation zu vermitteln.“[10]

Allerdings heißt das nicht, sich in der von Althusser aufgestellten Opposition von Humanismus und Antihumanismus auf die Seite des zweiten Pols stellen zu müssen: wie überall, kommt es auch hier auf die dritte Möglichkeit an. Analog zum Begriff des Postmarxismus haben Hardt/Negri dazu den Begriff des Posthumanismus gebildet und sich dabei auf die weitreichende Relativierung der Rede vom „Tod des Menschen“ bezogen, die Foucault in der subjekthermeneutischen Kehre seiner eigenen späten Ontologie vorgenommen hat. (Hardt/Negri 2002: 104ff.; Foucault 2005: 700ff.) In dieser Linie wäre dann auch den untergründigen Korrespondenzen zwischen dem Humanismus der PRAXIS-Philosophie und dem Antihumanismus Deleuze/Guattaris nachzugehen: haben beide doch in der entschiedenen Zustimmung zu Marx’ spekulativem Ausgriff auf eine „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ einen trotz allem gemeinsamen polit-ontologischen Fluchtpunkt, in dessen weiteren Umkreis dann auch Batailles Begriff einer von der Macht abgelösten „Souveränität“ gehört. (vgl. Deleuze/Guattari 1974; Bataille 1978).

9.

Mit einem so verstandenen Posthumanismus und insbesondere mit Badiou käme PRAXIS zuletzt darin überein, die jenseits von Wissenschaft und Ideologie platzierte Hermeneutik auf einen „Formalismus der Existenz“ zuzuspitzen. Badiou zufolge kommt in diesem (zugleich metaethischen wie metapolitischen) Formalismus als einer Lehre vom Wie des Existierens auf den Punkt, dass „die Philosophie sich vornimmt, zu zeigen, dass es Formen der Existenz gibt, die kohärent und gerechtfertigt sind, und andere, die dies nicht sind. Die Frage des Universellen hat keinen anderen Sinn, als zu versuchen, durch singuläre diskursive Mittel einen Formalismus der Existenz zu definieren, der derart ist, dass man im Ausgang von ihm unterscheiden kann, was ein wirklich subjektives und erfülltes Leben ist, soweit es dies sein kann, und was ein Leben ist, das in der Animalität verharrt.“ (Badiou 2009: 18).

Allerdings: Gegen Badious undialektische Opposition von Animalität und Subjektivität wäre die Unterscheidung des subjektiven und des animalischen Lebens in der Subjektivität selbst zu vollziehen, die dann in sich selbst als Spaltung eines animalischen und eines in sich gespaltenen Lebens zu fassen wäre: eine Komplikation im Begriff wie der Sache selbst der „Spaltung in sich“, mit der ihre Pole Animalität und Subjektivität einer je eigenen Seinsfrage zugewiesen werden. Es ist kein Zufall, dass sich deren aktuell reifste Bearbeitung bei Žižek findet, der sein eigenes theoretisches Projekt bekanntlich als Schüler der PRAXIS-Philosophie begann. Dabei hat Žižek die für PRAXIS noch kennzeichnende anthropologische Einhegung des Begriffs des subjektiven Seins überschritten, indem er das menschliche „Gattungswesen“ und seine „Sorge um sich“ ganz ausdrücklich auf ein „Begehren des anderen“ und darin auf seine nichtmenschliche Ermöglichung als auf sein „Reales“ zurückbezogen hat: auf einen Grund seines Seins selbst, den es nur in der abgründigen Weise seines Entzugs zu erfahren und auszustehen vermag. Er hat darin zugleich den Sinn für die Negativität des Existierens gerettet, der von Foucault, Deleuze/Guattari, Hardt/Negri und Badiou je auf ihre Weise verfehlt wird. Gelungen ist ihm das auch deshalb und nicht zuletzt, weil er als PRAXIS-Schüler die Weisung wörtlich zu nehmen wusste, die Marx in der ersten seiner Feuerbach-Thesen allen ihm folgenden Materialist_innen auf den Weg gab: dass ein zureichender Begriff der Praxis paradoxerweise den Rückgang auf die idealistische Spekulation einschließt – obwohl diese „die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche“ natürlich nicht kennt und deshalb gegen ihren eigenen „Strich“ gelesen werden muss (vgl. hier These 4 sowie Žižek 1998).[11]

10.

Im Rückblick auf PRAXIS sind abschließend die beiden Punkte zu nennen, in denen ihr noch heute eine unmittelbare ethisch-politische Aktualität zukommt. Der erste Punkt hat natürlich mit der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung zu tun und führt von dort auf den nicht zu unterschätzenden Umstand, dass sich die heutige kommunistische Bewegung – und das besonders seit dem „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 und den von den Ereignissen in Tunis und Kairo inspirierten Erhebungen an vielen anderen Orten der Welt – primär als Demokratisierungsbewegung formiert. Strategische Relevanz kommt dabei sowohl der im „jugoslawischen Modell“ leitenden Suche nach einer dritten Möglichkeit jenseits der Opposition von Markt und Plan wie der für PRAXIS leitenden Auffassung des „Absterbens des Staates“ als eines langfristigen und in sich notwendig konfliktiven Prozesses zu. Dabei greift die PRAXIS-Diskussion des Begriffs der „unmittelbaren Demokratie“ als einerseits eines theoretisch aufzulösenden „ideologischen Mythos“ und andererseits einer praktisch einzuholenden „Tendenz des historischen Fortschritts“ (Marković 1968: 146ff und passim) auf die Dialektik konstituierender und konstituierter Macht vor, in der aktuell die staatstheoretische Problematik der postmarxistischen Philosophie gründet (Hardt/Negri 2010: 125ff. und passim sowie systematisch Rancière 2002).[12] Mit der ontologischen Problematisierung der „Gegnerschaft des Anwesens“ ist das insoweit zuinnerst verbunden, als der Antagonismus konstituierender und konstituierter Macht eben nach ihrem Modell und nicht nach der deterministisch-voluntaristischen Dublette zu denken und auszutragen ist, in der die II. und III. Internationale die Entdeckungen des „Denkens von Marx“ verdinglicht haben.

11.

Der Demokratiefrage eng verbunden ist dann der zweite Punkt, der sich in der Frage nach dem Ethos und darin nach der Subjektivität der kommunistischen Militanten erschließt. Sie war die Ursprungsfrage der PRAXIS-Gruppe und wird aktuell vor allem von Hardt/Negri, Holloway, Badiou und Žižek gestellt (für PRAXIS vgl. exemplarisch Grlić 1969). Posthumanistisch wiederholt, führt diese Frage zunächst auf die Differenz des Marx’schen und des Heideggerschen Entfremdungsbegriffs zurück, die PRAXIS zu ihrer Zeit eindeutig im Sinne Marx’ beantwortete, heute aber in ihrer Zusammenführung zu bearbeiten wäre. Im Zeitenabstand auf ihr abgeschlossenes Abenteuer wie auf ihre Nachgeschichte im Zerfallsprozess Jugoslawiens ist dazu ein kritischer Selbstvorbehalt Markovićs aufzugreifen. In diesem Selbstvorbehalt macht er in der „modernen wissenschaftlichen und technischen Revolution, der Entdeckung der dunklen, irrationalen Seite der menschlichen Natur durch die Psychoanalyse, den anthropologischen Untersuchungen primitiver Kulturen, dem Surrealismus und anderen Richtungen der modernen Kunst und des modernen philosophischen Irrationalismus (der Lebens- und Existenzphilosophie) und schließlich der brutalen Erfahrung der Kriege und Konterrevolutionen unseres Jahrhunderts“ ebenso viele Motive einer „neuen kritischen Konzeption der dialektischen Rationalität“ aus, denen PRAXIS nicht gerecht geworden sei.[13] Um zum Schluss auf diesen Punkt zurückzukommen: Nach dem 20. Jhdt. liegt der turning point einer solchen Dialektik dort, wo sich Marx infolge des „Hauptmangels alles bisherigen Materialismus“ behelfsweise an idealistische Bestimmungen der „tätigen Seite“ zurückverwiesen sah: in der Frage, wie sich das Individuum – und insbesondere die kommunistische Militante – zu dem „wirklichen individuellen Gemeinwesen“ machen kann, das sich „sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art“, d.h. in einer Praxis aneignen wird, in der „Denken und Sein zwar unterschieden, doch zugleich in Einheit zueinander“ wären. (Marx 1968: 539) Den Horizont dazu stiftet die „Gegnerschaft des Anwesens“, die das menschliche Sein in sich spaltet und derart auf seine nichtmenschliche Ermöglichung bezieht – und vice versa. Diese zugleich existenzielle und ko-existenzielle, zugleich ethische und politische Dialektik aber führt nicht zufällig auf die unumgängliche Befragung des „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ zurück, mit der wir hier angefangen haben. Es ist dies eine Aufgabe, die schon deshalb mit keiner einfachen Antwort abgeschlossen werden kann, weil das Schema selbst dabei in stets veränderter Weise aktiviert wird.

Literatur:

Althusser, Louis 2011: Für Marx, Frankfurt am Main.

Axelos, Kostas 1966: Einführung in ein künftiges Denken. Marx und Heidegger, Tübingen

Badiou, Alain 1997: Manifest für die Philosophie, Wien

Badiou, Alain 2003: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien

Badiou, Alain 2009: Das Konzept des Modells. Einführung in eine materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien

Bataille, Georges 1978: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München

Castoriadis, Cornelius 1984: Gesellschaft als imaginäre Struktur. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main

Deleuze, Gilles/Guattari, Fèlix 1974: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt am Main

Derrida, Jacques 1995: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 2005: Was ist Aufklärung? In: Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main

Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen

Grlić, Danko 1969: Aktion und Kreation, in: Petrović, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, 174-191

Guattari, Félix/Negri, Toni 1985: Communists like us, New York

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Heidegger, Martin 2003: Der Ursprung des Kunstwerks, In: Holzwege, Frankfurt/Main

Hardt, Michael/Negri, Toni 1997: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin/Amsterdam

Hardt, Michael/Negri, Toni 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main

Hardt, Michael/Negri, Toni 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1967: Brief über den Humanismus. In: Wegmarken, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Holloway, John 2002: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster

Irigaray, Luce 1980: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt am Main

Kangrga, Milan 2004: Praxis Zeit Welt, Würzburg

Kanzleiter, Boris 2011: Die ‚Rote Universität’. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964-1975, Hamburg

Kojève, Alexandre 1975: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main

Kosìk, Karel 1967: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt am Main

Lacan, Jacques 2008: Meine Lehre, Wien

Lefebvre, Henri 1974/75: Kritik des Alltagslebens, Bd. 1. Bd. 2-3: Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit, München

Marcuse, Herbert 1968: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert/Schmidt, Alfred 1973: Existenzialistische Marx-Interpretation, Frankfurt am Main

Marx, Karl 1961: Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: Marx-Engels-Werke Band 13, Berlin (DDR)

Marx, Karl 1968: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin (DDR)

Marx, Karl 1969: Thesen über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke Band 3, Berlin (DDR)

Marx, Werner 1980: Heidegger und die Tradition. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Grundbestimmungen des Seins, Hamburg

Marković, Mihailo, 1968: Dialektik der Praxis, Frankfurt am Main

Petrović, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, Freiburg i. Breisgau

Petrović, Gajo 1971: Philosophie und Revolution. Modelle für eine Marx-Interpretation. Mit Quellentexten, Reinbek bei Hamburg

Petrović, Gajo 1984: Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. In: Honneth, Axel/Wellmer, Albrecht (Hg.) 1986: Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York. Hier zitiert nach: http://www.praxisphilosophie.de/petrovor.pdf

Rancière, Jacques 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main

Sartre, Jean-Paul 1964: Existenzialismus und Marxismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg

Seibert, Thomas 2009: Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg

Seibert, Thomas 2011: Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald (Hg.) 2011: Inventionen, Zürich.

Unsichtbares Komitee 2007: Der kommende Aufstand, Hamburg

Žižek, Slavoj 2001: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main

Žižek, Slavoj 2002: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuch über Lenin, Frankfurt am Main

Žižek, Slavoj 1998: Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus, Frankfurt am Main

[1] Als ein erstes Dokument kann hier Toni Negris und Félix Guattaris schon 1985 publiziertes Manifest Communists like us herangezogen werden, in dem sie Positionen des italienischen Operaismus und des französischen Poststrukturalismus zusammenführen (engl. Ausgabe New York 1990). Ihnen folgte 1989 Alain Badiou mit seinem Manifest für die Philosophie (dt. Ausgabe Wien 1997). 1993 belegt Jacques Derridas Marx’ Gespenster die Parteinahme der französischen Dekonstruktion für den kommunistischen Neubeginn; 1995 gelingt es Jacques Rancières Das Unvernehmen, den philosophischen und politischen Einsatz zu erneuern, den Marx zu seiner Zeit im Begriff des Proletariats ausgespielt, doch im klassistischen Selbstmissverständnis zugleich wieder verdunkelt hatte. Breite Aufmerksamkeit auch in den zu dieser Zeit neu aufbrechenden sozialen Bewegungen errangen Michael Hardt und wieder Toni Negri 2000 mit Empire (dt. Ausgabe Frankfurt/M 2002). 2002 erschienen Slavoj Žižeks Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin und John Holloways Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. 2007 setzt das anonyme Unsichtbare Komitee mit Der kommende Aufstand einen ganz eigenen Punkt, eine erste und in sich offene „Summa“ habe ich 2009 in Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus zu ziehen versucht.

[2] Das erste Zitat dieses Satzes stammt von Werner (1980: 211f.), das zweite von Karl Marx (1968: 539

[3] Der Begriff des Bösen wird hier im Sinn Badious verstanden und meint den Umstand, dass Heidegger sich politisch an ein „Wahrheitsereignis“ (die nationalsozialistische „Revolution“) band, von dem er hätte wissen können bzw. müssen, dass es nur das Trugbild eines solchen Ereignisses war. Solches „Verfallen an ein Trugbild“ bildet bei Badiou zusammen mit dem Verrat und der Hybris eine Triade des Bösen, die ihrerseits von einem ihnen vorausgesetzten Guten – der gelingenden Treue zu den Ereignissen der Wahrheit – abhängig bleibt. Vgl. Badiou 2003: 95ff. Die Ablenkung der Heideggerschen Ontologie von ihrem ursprünglichen Kurs verdankt sich dem Bemühen des Autors, seine Ontologie nachträglich von der Spur dieses politischen Bösen zu reinigen. Dazu musste die in Sein und Zeit und den Büchern und Vorlesungen der 1920er und frühen 1930er Jahre stets auf ihre „positive Absicht“ ausgerichtete „Destruktion der Geschichte der Metaphysik“ auf ihr negatorisches Moment reduziert werden. Deren Opfer wurden dann vor allem der Deutsche Idealismus sowie das Denken Nietzsches und Marx’, die nach Heideggers ursprünglichem Entwurf in eine „Metaphysik des Daseins“ eingeschrieben werden sollten.

[4] Zu nennen sind hier wenigstens: Veljko Korać, Andrija Krešić, Mihailo Marković, Rudi Supek, Ljubomir Tadić und Predrag Vranicki; vgl. Petrović 1969: 275ff. Ich danke Manfred Lauermann für unser Gespräch zu dieser und einigen anderen Fragen.

[5] Ohne Althussers Problematik darauf reduzieren zu wollen, sei doch die Bemerkung Petrovićs angeführt, nach der es in ihr vor allem darum gehe, „den Stalinismus zu retten, und zwar dadurch, dass man ihm einen ‚gelehrteren’ und ‚westlicheren’ Anstrich gibt.“ (Petrović 1971: 26; vgl. dazu Althusser 2011). Von einer Subordination auch der Philosophie unter die Wissenschaft kann bei Althusser insofern gesprochen werden, als er ihr zwar das Richteramt im „Klassenkampf in der Theorie“ (und damit in der „Sondierung“ von Wissenschaft und Ideologie) zuspricht, sie aber gerade dadurch einem Primat der Wissenschaft unterordnet.

[6] Die verschlungene Geschichte des „Heideggermarxismus“ beginnt unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit mit Herbert Marcuses Entwurf einer marxistisch gewendeten Existenzialontologie (vgl. Marcuse/Schmidt 1973) und setzt sich später in der marxistischen Wende des französischen Existenzialismus (Sartre 1964), aber auch in enger bei Heidegger verbleibenden Philosophien u.a. von Kostas Axelos (1966) und Cornelius Castoriadis (1984) sowie im eigenständigen Werk Georges Batailles (1978) und in der Psychoanalyse Jacques Lacans (2008) fort. Mit der Zusammenstellung von Marx und Heidegger verbindet schon Marcuse (1968) eine existenzialontologische Hegel-Lektüre, deren prominenteste Ausarbeitung sich bei Alexandre Kojève (1975) findet. Vermittelt über Castoriadis wie über Henri Lefebvre (1974/75) beeinflusst diese Wende auch das durch Philosophie, Politik und Kunst hindurchführende Projekt der für den französischen Mai 1968 untergründig maßgeblichen Situationistischen Internationale (1957 – 1971). Die Abkehr Derridas und Foucaults, aber auch Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris vom französischen Existenzialismus findet dann allerdings wiederum im Zug eines noch einmal vertieften Rückgangs auf Heidegger (und Nietzsche) statt, ähnliches geschieht im Feminismus etwa bei Luce Irigaray (1980). Parallel zur Heidegger-Aneignung der PRAXIS verbreiteten sich im Vorfeld des Mai 1968 verwandte Positionen auch unter anderen kommunistischen Intellektuellen Osteuropas, so in der CSSR, in Polen und in Rumänien, exemplarisch beim tschechischen Philosophen Karel Kosìk (1967). Für eine kurze Übersicht vgl. Philosophie Marx/Heidegger: Freiheit in Prag, Der Spiegel 11/1967.

[7] Quasi-transzendental, weil der ursprüngliche Einsatz des Heideggerschen Denkens in einer Dekonstruktion der Differenz des Transzendentalen und des Empirischen liegt, die allerdings nicht als schlichte „Detranszendentalisierung“ missverstanden werden darf.

[8] Heidegger 2003: 40

[9] Vgl. Marx 1961: 8f sowie hier in der 4. These.

[10] Marković 1968: 12, vgl. ebd.: 160, wo PRAXIS selbstkritisch vorgeworfen wird, „bei den Kategorien des jungen Marx stehengeblieben zu sein.“ Dass der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben sei, gilt allerdings nicht für das Buch, das als ihr kollektives Vermächtnis gelesen werden muss: Milan Kangrgas Praxis Zeit Welt (Erstveröffentlichung 1984). Obwohl Kangrga dieses Buch während eines längeren Aufenthalts in Deutschland und in deutscher Sprache geschrieben hat, wurde es hier erst 2004 veröffentlicht.

[11] Vgl. Žižek 2001: 20f. und passim. Zur aktuellen Debatte des subjektiven Faktors vgl. meinen Aufsatz Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey u.a. 2011: 110-128.

[12] Die von Žižek a.a.O. aufgeworfene Frage, ob PRAXIS mit der kritisch-solidarischen Verpflichtung auf das „jugoslawische Modell“ einem im schlechten Sinn des Worts philosophischen Fehler verfiel, könnte erst dann beantwortet werden, wenn definitiv gesichert wäre, dass die anfängliche Bereitschaft von Teilen des BDKJ, die Revolte der Student_innen politisch anzuerkennen, in Wahrheit nur dem Ziel folgte, ihre Bewegung zu sabotieren. Da feststeht, dass die Partei fünf Tage nach Beginn der Revolte von niemand anderem als Marschall Tito selbst wieder „auf Kurs“ gebracht wurde, geht es dabei also um das Möglichkeitspotenzial eben dieser fünf Tage: in sich ein Beitrag zu den praktischen Implikationen des Begriffs wie der Sache selbst des Ereignisses. Vgl. dazu Kanzleiter 2011, besonders 189-300.

[13] Es gehört zu den Abgründen der Geschichte, dass Markovič wohl nicht erst in der Nachgeschichte der PRAXIS-Gruppe eine schlicht widerwärtige Rolle gespielt hat: Gelegenheit, um noch einmal festzuhalten, dass von der Unverzichtbarkeit der Philosophie für die kommunistische Bewegung nicht auf die Unverzichtbarkeit bestimmter Philosoph_innen in dieser Bewegung geschlossen und die philosophische Rettung ihres „subjektiven Faktors“ nicht mit der konkreten Subjektivität der Philosoph_innen verwechselt werden darf.