Humanismus nach dem Tod des Menschen

Flucht und Rückkehr des subjektiven Faktors der Geschichte

In dieser Fassung erschien dieser Text in dem 2013 von der Jour Fixe Iniative Berlin im Verlag Edition Assemblage veröffentlichten Sammelband Etwas fehlt. Utopie, Kritik und Glücksversprechen; eine erste Fassung erschien im Juni 2012 im Band 167 der Zeitschrift Prokla, der den „Perspektiven der Gesellschaftskritik heute“ gewidmet war. Auch dieser Text markiert für mich den Übergang von der Kommunismus-Debatte (Krise und Ereignis) zur Ökologie der Existenz. Kenntlich wird das in der Problematik der Reformation, mit der die sowieso schon überdrehte Dialektik von Reform und Revolution noch einmal erweitert wird. Politisch ist er vom Arabischen Frühling inspiriert.

Was auch immer aus den Umbrüchen resultieren wird, deren Auftakt die Aufstände in Tunis und Kairo gewesen sein werden, ein Ergebnis steht heute schon fest: das nach 1989 ausgerufene „Ende der Geschichte“, brüchig geworden schon zum Jahrhundertwechsel, ist endgültig zu Ende.[1] Tatsächlich kommen dem Arabischen Frühling bereits jetzt wesentliche Attribute jener besonderen „Begebenheiten“ zu, denen Kant die Kraft eines „Geschichtszeichens“ zusprach. (Kant 1984: 83) Kant prägte diesen Begriff anlässlich der Französischen Revolution, von der er sagt, sie sei „zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflusse nach auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als dass sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholungen neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.“ (ebd.: 88)

Worin aber liegt die besondere „Größe“ jener Begebenheiten, die uns Geschichtszeichen werden, d.h. zunächst zum Grund einer „Teilnehmung dem Wunsche nach“ und dann, „bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände“, zum praktischen Beispiel einer „Wiederholung“? Sie kann nicht im bloßen Ablauf des Geschehens liegen, im Gegenteil: der mag, das hält Kant ausdrücklich fest, in abstoßender Weise „mit Elend und Gräueltaten angefüllt sein.“ Sie hängt auch nicht am unmittelbaren Ertrag, kann im Blick auf den Arabischen Frühling also nicht durch den Umstand bestritten werden, dass die Aufständischen des Tahrirplatzes nur einen Teilsieg errangen und deshalb partiell bereits besiegt wurden. Die Größe, die aus einer einzelnen Begebenheit unter vielen anderen ein Geschichtszeichen macht, liegt für Kant vielmehr darin, auf eine reale Erfahrung hinzudeuten, die einer „wahrsagenden Geschichte des Menschengeschlechts“ den von nun an unvergesslichen (ebd.: 87) Anhalt ihrer eigenen Wahrheit und also eine reale Utopie bereitstellt. Die mit dieser Erfahrung notwendig verbundene Stimmung des „Enthusiasmus“ belegt, so Kant, ein für den Menschen grundlegendes „Vermögen“, nach dem wir uns nicht nur als Zeug_innen eines historischen „Fortrückens zum Besseren“ wissen dürfen, sondern uns zugleich als die „Urheber“ dieses Fortschritts wissen können: als ein „mit Freiheit begabtes Wesen“, das vom Geschichtszeichen seiner Freiheit „auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlecht“ schließen und diesen Schluss retrospektiv auf die Vergangenheit und prospektiv auf die Zukunft beziehen darf. (ebd.: 83f.)

Kants ebenso kurze wie dichte Bestimmung des Geschichtszeichens ist zu einem Schlüsseltext der philosophischen Bewegung geworden, für die mittlerweile die Titel des Postmarxismus und Posthumanismus gebräuchlich geworden sind; zu ihr gehören u.a. Toni Negri, Michael Hardt, Alain Badiou und Slavoj Žižek. Im Rückgriff auf Kants Begriff des Geschichtszeichens und Heideggers daran anschließenden Begriff des Ereignisses kehren sie philosophisch und politisch zu einer Konzeption der Geschichte als des teleologischen, d.h. zielgerichteten Prozesses einer Wahrheit zurück. Die wieder als Prozess gedachte Geschichte schließt einen „subjektiven Faktor“ im starken Sinn des Worts ein: ein Subjekt der Geschichtlichkeit, das für die im Ziel des historischen Prozesses ausstehende, wenn auch durch nichts außerhalb des Prozesses selbst garantierte Wahrheit einstehen kann. Ihm kommt damit insoweit eine utopische Dimension zu, als er in der Welt die Möglichkeit eines Unterschieds ums Ganze setzt, der dem bloßen Verlauf der Zeit einen Anfang und ein Ende verleihen und das bloße Auf und Ab des Geschehens in den Fortschritt einer „Universalgeschichte“ verwandeln kann.

Schon auf den ersten Blick steht diese Philosophie in Widerspruch zur ihr vorausgehenden Philosophie des Poststrukturalismus, für die u.a. Gilles Deleuze, Félix Guattari und Michel Foucault stehen. Als deren gemeinsamer Nenner wird umgekehrt die Auflösung jeder teleologisch-utopischen Geschichte in ein kontingentes Werden gesehen, in dem Wahrheiten bloß der Einsatz unabschließbarer Machtspiele sind, die keine über sie hinausweisende Bedeutung haben und deshalb selbst niemals wahr oder falsch sein können. Sie kennen darum auch kein Subjekt, sondern allenfalls „Subjektivierungen“, die an und für sich bloß kontingente Effekte ebenso kontingenter Kräftekollisionen sind.

Nimmt man allerdings zur Kenntnis, dass Deleuze/Guattari/Foucault die Vielheit der Werden auch ihrerseits einer „Universalgeschichte“ einzuschreiben suchten und sich dazu selbst der Begriffe des Geschichtszeichens und des Ereignisses bedienten, wird sichtbar, dass Poststrukturalismus und Postmarxismus zumindest eine gemeinsame Problematik teilen. Diese aber ist, das soll im Folgenden gezeigt werden, gar keine andere als die, von der sich schon Kant zur Deutung seines Geschichtszeichens genötigt sah: die Problematik der Existenz eines „mit Freiheit begabten Wesens“ in der Geschichte, das als ein solches nach dem „Akt ihrer (d.h. der Freiheit) Kausalität“ in eben dieser Geschichte fragt und fragen muss.

Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus

Weil an dieser Problematik nicht weniger als der Möglichkeitsspielraum unseres eigenen geschichtlichen Handelns hängt, ist der Streit von Poststrukturalismus und Postmarxismus kein bloß akademischer Streit. Wenn ich ihn jetzt in einer Konstellation entfalte, die von Deleuze/Guattari/Foucault über Hardt/Negri auf Badiou/Žižek führt, nehme ich die von den Letztgenannten behauptete Rückkehr eines subjektiven Faktors der Geschichte in ihrem direkten Gegenzug auf eine Position in den Blick, die Geschichte umgekehrt ohne jedes Subjekt denken wollte. Ich verbinde damit das Versprechen einer dialektischen Lösung, die das vorgegebene Entweder-Oder in sich aufzuheben vermag. Deshalb entfalte ich den Streit gerade dort, wo die poststrukturalistische Subjektdekonstruktion selbst schon ins Schlingern kam und die Philosophie seither ex negativo herausfordert, wieder zur Subjekt- und Geschichtsphilosophie zu werden. Darin öffnet sich der aktuelle Stand der Auseinandersetzung seiner eigenen Herkunft und erschließt sich dort die Quellen eines Neubeginns.

Den ersten Anhalt dazu liefert schon die unmittelbare Nachgeschichte von Kants geschichtsphilosophischer Reflexion. In der unternahm der Deutsche Idealismus seinen ebenfalls an der Französischen Revolution orientierten Versuch, von einer philosophischen Bestimmung der Freiheit über das Geschichtszeichen des „Akts ihrer Kausalität“ in uns auf eine „wahrsagende Geschichte des Menschengeschlechts“ zu schließen. Die daraus resultierende Geschichtsphilosophie Hegels rief gleich mehrere „Umstülpungen“ (Marx) und „Umdrehungen“ (Nietzsche) auf den Plan, in denen die idealistische Freiheitsspekulation materialistisch „vom Kopf auf die Füße“ gestellt werden sollte. Von der Arbeiter_innenbewegung politisiert, führte die Frage nach dem „mit Freiheit begabten Wesen“ dann zum innermaterialistischen Streit, der sich allerdings nur dann auf der Höhe des Problems hält, wenn er sein idealistisches Erbe aufbewahrt. Das bringt Marx in der ersten seiner Thesen über Feuerbach wie folgt auf den Punkt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.“ (Marx 1978: 5)

Die Geschichte des an Marx anschließenden Denkens kann dann als Folge der Versuche gefasst werden, das in der ersten Feuerbachthese aufgestellte Dilemma entweder nach der „objektiven“ oder der „subjektiven“ Seite aufzulösen. Der aktuelle Streit zwischen Poststrukturalismus und Postmarxismus fügt sich genau besehen als jüngste Runde in diese Suchbewegung ein und überführt dabei die schon im Deutschen Idealismus verhandelte Erfahrung des „Todes Gottes“ in die Erfahrung eines „Todes des Menschen.“ Dem entspricht, dass das von Marx aufgestellte Dilemma in Abwandlung einer berühmten Formel Foucaults als Dilemma einer „deterministisch-voluntaristischen Dublette“ bezeichnet werden kann.[2] Darin ist der Determinismus die zwingende Folge einer jeden Denkweise, in der die Geschichte „nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung“, nicht aber subjektiv als „sinnlich menschliche Tätigkeit“, als „Praxis“ analysiert wird. Der gleichermaßen zwingende Umschlag in den Voluntarismus ergibt sich dann aus der Nötigung, die subjektiven Qualitäten dieser Wirklichkeit deshalb immer erst nachträglich in den Blick nehmen zu können; der Beschränkung der Wissenschaft auf objektive Strukturen entspricht die Zuordnung der subjektiven Praxis zur Ideologie. Als deren Grundmuster setzt sich seit der Französischen und später der Russischen Revolution vielfach variierte und insoweit immer problematische Humanismus durch.

Ihren reinsten Ausdruck findet die deterministisch-voluntaristische Dublette in Louis Althussers Dublette von theoretisch-antihumanistischer Wissenschaft und praktisch-humanistischer Ideologie, in der erstere auch ganz ausdrücklich dem Determinismus, letztere gleichermaßen ausdrücklich dem Voluntarismus zugeordnet wird. Nicht zufällig wurde Althussers Philosophie noch im Mai 68 zum gemeinsamen Ausgangspunkt von Poststrukturalismus und Postmarxismus. Radikalisiert der Poststrukturalismus zunächst den Lösungsvorschlag Althussers, setzt der Postmarxismus dort ein, wo die aus aller Wissenschaft ausgeschlossene „sinnlich menschliche Tätigkeit“ ihren Eigensinn anmeldet.

Der Tod des Menschen

Kam dem Begriff des Menschen bei Althusser „kein theoretischer Wert, sondern nur ein Wert als praktischer Hinweis“ im politisch-ideologischen Kampf zu (Althusser 2011: 318), geht Foucault einen Schritt weiter und bilanziert, dass sich Begriff und Sache des Menschen in der wissenschaftlichen Aufklärung der ihn objektiv determinierenden Strukturen des Lebens, der Arbeit und der Sprache auflösen „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“: „Wie kann der Mensch dieses Leben sein, dessen Netz, dessen Pulsieren, dessen verborgene Kraft unendlich die Erfahrung überschreiten, die ihm davon gegeben ist? Wie kann er jene Arbeit sein, deren Erfordernisse und Gesetze sich ihm als ein fremder Zwang auferlegen? Wie kann er das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet worden ist, deren System ihm entgeht, (…) die er einen Augenblick durch seinen Diskurs aufblitzen lässt und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein Denken platzieren muss?“ (Foucault 1971: 462 bzw. 390)

Der Radikalisierung des Althusser’schen Determinismus entspricht die Weise, in der Foucault die objektive Determination aller historischen und darin auch der menschlichen „Positivitäten“ fasst.[3] Beschränkte sich Althusser hier auf eine allerdings elaborierte Fassung des klassisch-marxistischen Schemas von determinierender ökonomischer Basis und determiniertem ideologischem Überbau, verortet Foucault die Determinationskausalitäten in einem noch einmal komplexeren Gefüge ineinandergreifender „Dispositive“, die er formal als solche der Macht, des Wissens und der Subjektivierung bestimmt. In ihren Kausalitätsverkettungen werden dann nicht nur die Positivitäten der Arbeit, sondern auch die des Lebens und der Sprache sowie deren Wirkungen aufeinander untersucht. Weil es eine so verstandene historische Kritik dann aber allein mit dem a-subjektiven Verhältnis zwischen determinierenden Dispositiven und determinierten Positivitäten zu tun hat, bezeichnet Foucault seine Geschichtswissenschaft als eine „positivistische“ und zeigt damit deren theoretischen Antihumanismus an. Wenn er diesen Positivismus unter Berufung auf Nietzsche dann aber ausdrücklich als einen „fröhlichen“ fasst, hält er fest, dass es ihm auch um einen praktischen Antihumanismus geht. Dessen Fröhlichkeit aber entspringt nicht einer zynischen Bejahung von Inhumanität, sondern der Parteinahme für die auf den Mai 1968 folgenden „Neuen Sozialen Bewegungen.“ Diese setzten sich als Bewegungen der Jugendlichen, der Frauen, der Migrant_innen, Gefangenen und Psychiatrisierten, der antikolonialen wie der ökologischen Befreiung und als Bewegungen des Widerstands gegen die ganze „fordistische“ Arbeits- und Lebensweise auch von der „alten sozialen Bewegung“ der Arbeiter_innen ab. Sie kehrten sich zugleich von einem Humanismus ab, der die Arbeit zum Medium historischen Fortschritts verklärte. Dem entspricht, dass sich die Bewegungen gerade der Forschungen Foucaults und seiner Weggefährten Deleuze/Guattari bedienten, als sie endlich auch theoretisch aus dem Bann eines Marxismus heraustraten, der ihre Ansprüche beharrlich zu „Nebenwidersprüchen“ des zwischen Kapital und Arbeit auszutragenden „Hauptwiderspruchs“ herabsetzte.

Verdeutlichen lässt sich die Korrespondenz von poststrukturalistischer Theorie und Neuer Sozialer Bewegung an den Begriffen der „Mikro-“ bzw. „Biopolitik“ und den darauf bezogenen Begriffen der „Majorität“, der „Minoritäten“ und des „Minoritär-Werdens.“ Sie bezeichnen allerdings gerade keine Zahlenverhältnisse, sondern Kräftekonstellationen innerhalb unaufhörlich umkämpfter Macht-, Wissens- und Subjektivierungsdispositive des Lebens, der Arbeit und der Sprache. Was den von diesen Dispositiven determinierten Individuen zunächst als wahres Merkmal ihrer eigensten Subjektivität erscheint, wird vom fröhlichen Positivismus als machtgetränkter Effekt der „Codes“ entlarvt, die diese Dispositive strukturieren. Majoritär ist dann der Code, der sich den Machtspielen des Wissens und der Subjektivierung als deren letztbestimmende „Konstante“ aufzwingt. Deren Logik fixieren Deleuze/Guattari in der Formel „Mensch-männlich-weiß-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache“, nach ihr bestimmen sich die Abstände und Ausschlüsse, in denen Minoritäten verschiedenster Art sozial verortet, d.h. „territorialisiert“ werden. (Deleuze 1980: 27; Deleuze/Guattari 1992: 147f.)

Vielheit der Werden

Der entscheidende Unterschied zwischen der Majorität und den Minoritäten liegt dann darin, dass die Majorität niemals, eine Minorität aber jederzeit von einem „Werden“ ergriffen werden kann, in dem widerständige Möglichkeiten des Lebens, Arbeitens und Sprechens erfunden und erprobt werden. Weil sich diese Werden zunächst immer als Bewegung des Sich-dem-Code-Entziehens und deshalb der „Flucht“ aus dem zugewiesenen sozialen Territorium beschreiben lassen, fassen Deleuze/Guattari sie in den Begriffen der „Decodierung“ und folgend der „Deterritorialisierung“. Bilden Frauen, Kinder, „Neger“ oder „Schizos“ Minoritäten, deren sozialer Ort durch ihren Abstand zur majoritären Konstante „Mensch-männlich-weiß-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache“ bestimmt wird, benennen die minoritären Frau-, Kind-, „Neger-“ oder „Schizo“-Werden Möglichkeiten des Lebens, Arbeitens und Sprechens, die dem Macht-Wissens-Gefüge von Majorität und Minorität in dem Maß entfliehen, wie sie dieses Gefüge selbst in eine Flucht treiben. Foucault folgt dieser Logik des Widerstands in den Revolten gegen „die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskranken, der Medizin über die Bevölkerung“ und deren gemeinsame Frontstellung gegen die Macht „der staatlichen Verwaltung über die Lebensweisen der Menschen.“ Gegen das klassisch-marxistische Schema von Haupt- und Nebenwiderspruch und die auf Lenin zurückgehende Unterordnung der partikularen, weil bloß alltäglich-sozialen Widerstände unter den universalen, weil direkt auf die Staatsmacht gerichteten politischen Kampf spricht Foucault den Neuen Sozialen Bewegungen den Charakter der „Transversalität“ zu. Er verweist damit auf den Umstand, dass diese Bewegungen in allen modernen Gesellschaften und dort an ganz verschiedenen sozialen Orten aufbrechen, an Orten, die zur Klassenspaltung und zum Gefüge staatlicher Institutionen oftmals querliegen. Wesentliches Moment ihres transversalen Charakters ist, dass sie stets und überall die Identität und den Status des Individuums in Frage stellen, einerseits ein Recht auf existenzielle Autonomie, Singularität und Differenz einfordern, andererseits Verfahren und Einrichtungen der Trennung der Individuen voneinander zurückweisen. Sie werden deshalb, so präzisiert Foucault, „nicht für oder gegen das ‚Individuum’ ausgetragen, sondern gegen die ‚Lenkung durch Individualisierung’.“ Dem „ökonomischen und ideologischen Staat“ wie der „wissenschaftlichen und administrative Inquisition“ entziehen sich diese Bewegungen, indem sie sich aus der machtdurchwirkten Unmittelbarkeit eines Alltagslebens lösen, „das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben.“ (Foucault 2005a: 273ff.) Damit bewähren sie sich als zugleich „mikro-“ und „biopolitische“ Bewegungen: sie sind mikropolitisch, sofern sie in der vor-staatlichen Arena der alltäglichen sozialen Beziehungen und Verhältnisse beginnen, und sie sind biopolitisch, sofern sie zuerst auf Veränderungen der Lebensformen und -weisen zielen und erst nachgeordnet auf Veränderungen der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung.

Reform, Revolution, Reformation

Zum intern kritischen Punkt des politischen Denkens Deleuze/Guattari/Foucaults und der Neuen Sozialen Bewegungen wurde dann die zunächst abgedrängte Frage nach der Einheit ihrer Mikro- und Biopolitiken. Praktisch stellte sich diese Frage immer dann, wenn sich die Werden, Kämpfe und Bewegungen nicht nur den im unmittelbaren Alltag wirksamen Macht-, Wissens- und Subjektivierungsdispositiven, sondern deren im Staat und der politischen Ökonomie artikulierten Zusammenhang konfrontierten. Theoretisch stellte sie sich dort, wo sich Foucault in der Nachfolge Nietzsches und Heideggers auf eine das Alltagsleben untergründig durchherrschende „Geschichte des Abendlands“ bezog und Deleuze/Guattari die Vielheit der Minoritär-Werden im Horizont einer mit Marx konzipierten „Universalgeschichte“ verorteten: „Die gesamte Geschichte kann im Lichte des Kapitalismus verstanden werden, wenn exakt nach den von Marx formulierten Anweisungen verfahren wird: die Universalgeschichte ist zu allem Anfang eine von Kontingenzen und keine der Notwendigkeit, von Brüchen und Grenzen und keine der Kontinuität.“ (Deleuze/Guattari 1977: 177; zum europäischen Charakter der Universalgeschichte vgl. Deleuze/Guattari 2000: 111) Dabei gingen sie so weit, das „Vorbild“ und „universelle Bewusstsein“ (!) der minoritären Gegen-Mächte „im Proletarier“ auszumachen und damit zumindest im beiläufigen Verweis gerade das zu tun, was sie hegelianisch oder heideggerianisch inspirierten Geschichtsphilosophien vorwarfen: der Geschichte eine „Innerlichkeitsform“ zu verleihen, „in der der Begriff notwendig sein Geschick entfaltet oder enthüllt.“ (Deleuze/Guattari 1991: 148, 653 bzw. Deleuze/Guattari 2000: 109)

Der teleologisch-utopischen Aufladung der Universalgeschichte wichen Deleuze/Guattari dann aber im Verweis auf das Vermögen des Kapitalismus aus, seine unvermeidlich aufbrechenden Krisen in ebenso viele Gelegenheiten seiner Reproduktion zu verwandeln und sein eigenes Ende durch die unaufhörliche Konstruktion neuer Territorien und neuer Codes immer wieder aufzuschieben. Deleuze/Guattari fassen diese Fähigkeit in den Begriffen der „Reterritorialisierung“ bzw. „Recodierung“, die sie sie mit der geschichtsphilosophisch hochbrisanten These verbinden, dass es „letztlich“ unmöglich sei, Deterritorrialisierung und Reterritorialisierung bzw. Decodierung und Recodierung zu unterscheiden, „da sie sich wechselseitig enthalten oder die beiden Seiten ein und desselben Prozesses ausmachen.“ (Deleuze/Guattari 1977: 333 und 296ff.)

Eindrucksvoll bestätigt wurde diese These durch das Ausmaß, in dem es dem Kapital gelang, die historischen Fluchten der Neuen Sozialen Bewegungen für den ab den späten 1970er Jahren einsetzenden Prozess seiner „postfordistischen“ bzw. „neoliberalen“ Modernisierung produktiv zu machen. Deleuze/Guattari/Foucault sahen sich damit auch politisch vor das Problem gestellt, aufklären zu müssen, ob die Ununterscheidbarkeit von De- und Reterritorialisierung (also von Flucht aus dem und Rückholung in das Meta-Dispositiv des Kapitals) endgültig oder bloß vorläufig ist. Im ersten Fall markiert der dann definitiv unüberwindliche Kapitalismus eine anti-utopische Stillstellung der Universalgeschichte und begründet so die resignative Beschränkung der Widerstandsmöglichkeiten, der zeitgleich auch Habermas und die zweite Generation der Kritischen Theorie erlagen. Im zweiten Fall bleibt philosophisch und politisch zumindest die Möglichkeit erhalten, dass der Kapitalismus nur eine endliche Epoche der nach wie vor zu einem Unterschied ums Ganze befähigten und deshalb utopisch geladenen Universalgeschichte gewesen sein wird.

Während sich Deleuze/Guattari in diesem Entweder-Oder auf die empirische Anerkennung der bisher ungebrochenen Reproduktionsfähigkeit des Kapitals und deshalb auf die anarchistische Strategie beschränkten, sich rückhaltlos dem jeweils neuesten Deterritorialisierungs- und Decodierungsschub zu überlassen (ebd.: 308), nahm Foucault an dieser Stelle zwei entscheidende theoretische Verschiebungen vor. Mit der ersten erweiterte er das im strategischen Denken des Marxismus leitende Doppel von innersystemischer Reform und systemsprengender Revolution um einen dritten Begriff, den der „Reformation“. Dabei unterschied er im Gesamtgefüge sozialer Auseinandersetzungen zunächst einmal Kämpfe gegen ethnische, soziale und religiöse Herrschaft (1), Kämpfe gegen ökonomische Ausbeutung (2) und Kämpfe um Subjektivität (3). Der formalen Unterscheidung verlieh er dann zumindest insoweit eine Teleologie, als er den Feudalgesellschaften einen Primat der Kämpfe gegen Herrschaft, der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft einen Primat der Kämpfe gegen Ausbeutung und der durch den Mai 68 markierten Gegenwart einen Primat der Kämpfe um Subjektivität zuschrieb – „auch wenn der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden ist, im Gegenteil.“ (Foucault 2005a: 273ff.)

Damit eröffnete Foucault eine universalgeschichtliche Perspektive, die Nietzsche, Heidegger und Max Weber zunächst näher zu stehen scheint als Marx und ihr strategisches Paradigma in der Epoche findet, der er den Begriff der Reformation entlehnt: „Es ist nicht das erste Mal, dass unsere Gesellschaft sich mit Kämpfen dieses Typs konfrontiert sieht. All jene Bewegungen, die ihren Ausgang im 15. und 16. Jahrhundert nehmen und ihren Ausdruck wie auch ihre Rechtfertigung in der Reformation fanden, müssen als Anzeichen einer schweren Krise im westlichen Verständnis der Subjektivität und als Indiz einer Revolte gegen jene Form religiöser und moralischer Macht verstanden werden, welche dieser Subjektivität im Mittelalter Gestalt verliehen hatte. Das damals empfundene Bedürfnis nach einer direkten Beteiligung am spirituellen Leben, an der Heilsarbeit und an der Wahrheit der Bibel – all das zeugt von einem Kampf für eine neue Subjektivität.“ (a.a.O., vgl. auch ebd., 117 sowie Foucault 1992a: 58)

Interessanterweise ergeben sich hier allerdings überraschende Korrespondenzen zu Überlegungen, in denen Antonio Gramsci schon den Aufbruch der Arbeiter_innenbewegung und die Rolle des Marxismus bzw. der Kommunistischen Partei in dieser Bewegung in Bezug zur Reformation setzte: „Man redet oft davon, in bestimmten Ländern sei das Ausbleiben der großen Reformation der Grund für den Rückschritt auf allen Gebieten des zivilen Lebens, ohne zu bemerken, dass gerade die Verbreitung der Philosophie der Praxis (d.h. des Marxismus, TS) die große Reformation der Moderne ist, eine intellektuelle und moralische Reform ist.“ (Gramsci 1995: 1302) Was Gramsci im Blick auf die italienischen Verhältnisse der 1920er/1930er Jahre notiert, gewinnt angesichts der nicht zufällig auf den Zusammenbruch der Realsozialismen folgenden Ausbreitung politisierter Religiositäten eine allererst auszudeutende Brisanz. Ihr setzt Foucault eine „Ästhetik der Existenz“ entgegen, die sich dem erklärtermaßen anti-utopischen Entweder-Oder von Liberalismus und Fundamentalismus durch die reformatorische Ethik und Politik eines „religiösen Atheismus“ entzieht, in dem er sich neben Nietzsche und Heidegger immer wieder auf Kant beruft.[4] Von dem ist im Folgenden zu zeigen, dass der utopisch gegen Liberalismus und Fundamentalismus verteidigte Unterschied ums Ganze radikal innerweltlich gedacht wird.

Wahrheitspolitik I: Die Sorge um sich

Mit der zweiten Verschiebung seiner Forschung antwortete Foucault auf ein Problem, dass sich ihm so erst mit dem strategischen Bezug seiner Existenzästhetik auf eine neue Reformation stellte. Er sah sich nun nämlich vor die Notwendigkeit gestellt, den Eigensinn von Subjektivität überhaupt klären zu müssen, um entscheiden und dann auch angeben zu können, warum und wie eine Weise der Subjektivierung einer anderen vorzuziehen sei. Wie einschneidend dieses Problem war, zeigt sich schon daran, dass zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten bzw. dritten Bandes von Sexualität und Wahrheit acht Jahre lagen, in denen Foucault nicht nur den diesen Büchern unterlegten Plan, sondern sein ganzes Denken radikal veränderte.[5] Zwar hielt er an einer Philosophie fest, in der die Dynamiken des Lebens, Arbeitens und Sprechens in jederzeit brüchiger Weise durch Macht-Wissens-Subjektivierungsdispositive verregelt werden, die sich niemals zur Geschichte eines universalen Subjekts fügen. Zwar blieb er dabei, dass die in solchen Dispositiven herrschenden Wahrheiten an sich selbst wahrheitslose Spieleinsätze der immerwährenden Schlacht von Macht und Gegenmacht bzw. Macht und Widerstand sind, von denen es sich zunächst immer erst abzulösen gilt. Doch erfolgt die Ablösung jetzt gerade in einer „Sorge um die Wahrheit“, die Foucault zugleich als „Sorge um sich“ und darin als „Sorge um die Freiheit“ fasst. Dabei griff er ausdrücklich auf den von Kierkegaard, Heidegger und Sartre vertrauten Begriff der „Existenz“ zurück, den er bereits zu Beginn seines Philosophierens verwendet, dann aber ausdrücklich fallengelassen hatte. (Vgl. Foucault 1968, 1992b) Zwar zielte dieser Begriff immer schon auf eine Dekonstruktion der klassischen Subjektphilosophie und des klassischen Humanismus, doch ging es dabei weder um eine Tilgung des Subjekts noch um ein Verschwinden des Menschen. Stattdessen sollte er nach der zentralen Bestimmung Heideggers umgekehrt die Frage beantworten, „was positiv unter dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts, der Seele, des Bewusstseins, des Geistes, der Person zu verstehen sei.“ (Heidegger 1982: 46)

Zur Klärung dieser Frage blieb Foucault nicht mehr die Zeit: Er starb im Jahr des Erscheinens des Gebrauchs der Lüste und der Sorge um sich, die Veröffentlichung seiner letzten Vorlesung Hermeneutik des Subjekts erfolgte posthum (2001). Umso wichtiger ist deshalb der kurz nach seinem Tod vorgelegte Versuch Deleuzes, dem Denken seines Freundes den systematischen Abschluss zuzuschreiben, den dieser selbst nicht mehr ausformulieren konnte. In dem ebenso schlicht wie anspruchsvoll Foucault betitelten Buch unterstellte Deleuze die a-subjektiven Dimensionen der Macht und des Wissens insoweit der subjektiven Dimension der Existenz, als die Macht und das Wissen dort ausdrücklich in ein Innen „gefaltet“ werden, das er mit Foucault als „Innen des Denkens“ bezeichnet. Die allgemeine Formel dieser „Faltung“ des Lebens, Arbeitens und Sprechens in je ein existenzielles Selbstverhältnis fand Deleuze dann im Begriff des „Sich-durch-sich-Affizierens“: einem Begriff, der wie die Wendung vom „Innen des Denkens“ in die subjekt- bzw. existenzphilosophische Tradition zurückführt. (Deleuze 1987: 131 bzw. 146; vgl. dazu auch die instruktive Skizze ebd.: 169). Die existenziellen „Faltungen“ der Macht und des Wissens öffnen jetzt den Raum, in dem erstmals positiv nach der bis dahin nur als „Gesetz“ herrschaftsförmiger „Kategorisierung“ zurückgewiesenen Wahrheit gefragt werden kann: „Wenn die Macht wahrheitskonstitutiv ist, wie ist dann eine ‚Macht der Wahrheit’ vorstellbar, die nicht mehr Wahrheit der Macht wäre?“[6] Im unmittelbaren Anschluss an Foucault bindet Deleuze deren Beantwortung wiederum ausdrücklich an die Fragen, die schon für Kant Leitfragen der praktischen Vernunft waren: „Wie sind wir als Subjekte unseres Wissens konstituiert worden? Wie sind wir als Subjekte konstituiert worden, die Machtbeziehungen ausüben und erleiden? Wie sind wir als moralische Subjekte unserer Handlungen konstituiert worden?“[7]

Ausgangs- und Endpunkt der Geschichte

Den zumindest insoweit subjekt- bzw. existenzphilosophischen Abschluss des Denkens Foucaults vollendet Deleuze dann in einer geschichtsphilosophischen Konkretion der Formel vom „Tod des Menschen.“ Dabei verkehrt er das Verschwinden des Menschen in den Wirbeln des Lebens, der Arbeit und der Sprache in die Heraufkunft eines sich in den minoritären Kämpfen des Frau-, Kind-, „Neger“- oder „Schizo-Werdens“ bildenden „Übermenschen“. Dessen Genese fasst er in Worten, die nicht nur an Nietzsche, sondern auch an Marx’ frühe Bestimmungen des „menschlichen Gattungswesens“ erinnern. So wird die „übermenschliche“ Subjektivität als die eines „Lebewesens“ bestimmt, das „in sich selbst das Leben, die Arbeit und die Sprache zu befreien“ hat, um in der existenziellen „Faltung“ dieser Freiheit zu einem Subjekt zu werden, „dem alle Lebewesen aufgegeben“ sind. Der unüberhörbar religiös-atheistischen Bestimmung dieses Subjekts wird im letzten Satz des Buchs dann allerdings eine eher resignative Wendung gegeben: „Foucault würde sagen, dass der Übermensch viel weniger ist als das Verschwinden des existierenden Menschen und sehr viel mehr als die Veränderung eines Begriffs: es ist die Ankunft einer neuen Form, weder Gott noch Mensch, von der man hoffen mag, dass sie nicht schlimmer sein wird als die beiden vorausgehenden.“ (ebd.: 188f.)

Wenn ich an dieser Stelle Hardt/Negri in die Diskussion einführe, so deshalb, weil sie den innertheoretischen Grund dieser außertheoretisch ja nicht abwegigen Resignation in einer Leerstelle der Geschichtsphilosophien Deleuze/Guattari/Foucaults ausmachen. Hardt/Negri füllen diese Lücke, indem sie die bei Deleuze/Foucault ja nur anklingenden Korrespondenzen des „Übermenschen“ Nietzsches zum „menschlichen Gattungswesen“ Marx’ ausdrücklich zum turning point eines „Humanismus nach dem Tod des Menschen“ machen. (Hardt/Negri 2000: 104ff.) Angezeigt wird das schon im wohl nicht zufällig religiös-atheistischen Titel ihres ersten gemeinsamen Buchs, der Marx und Nietzsche im Begriff einer Arbeit des Dionysos zusammenstellt. Näher bestimmt wird dieser Titel dann durch die Aufgabe, den Kommunismus „als totale Kritik im Nietzscheanischen Sinn zu denken.“ Dazu soll die negative Kritik der politischen Ökonomie und des Staates zur affirmativen „Konstruktion eines Gegenentwurfs“ werden. Indem die Kritik „unter ihrem negativen Aspekt den Kommunismus zum Ausgangspunkt“ nimmt, „erkennt sie hier, unter ihrem affirmativen Aspekt, im Kommunismus den Endpunkt“ einer Geschichtsphilosophie, die der Geschichte in einer „materialistischen Teleologie“ Einheit, Zweck und Wahrheit zuschreiben kann. (Hardt/Negri 1996: 10 bzw. Hardt/Negri 2000: 61, 65, 76ff., 98, 139, 214, 375f., 403, 412 sowie zuletzt Hardt/Negri 2010: 73, 385)

Auch die weitere Entfaltung beider Aspekte erfolgt im doppelten Rückbezug auf Marx und Nietzsche. So wird der negative Aspekt in Marx’ Dialektik von Produktivkraft und Produktionsverhältnis verortet, nach der die Produktionsverhältnisse historisch von „Entwicklungsformen“ zu „Fesseln“ dieser Kräfte werden und damit jeweils eine „Epoche sozialer Revolution“ eröffnen. (Marx 1971: 8) Der positive Aspekt liegt dann im Vermögen der „lebendigen Arbeit“, sich von der Verwertung durch das Kapital zu einer in der Perspektive Nietzsches gedachten „Selbst-Verwertung“ zu befreien, in der ihre Subjektivitäten hier und jetzt bereits zu „Agenten der Produktion einer alternativen Gesellschaft“, d.h. einer realen Utopie im Sinn eines innerweltlichen Unterschieds ums Ganze werden. (Hardt/Negri 1996: 10)

Dabei stellen sich Hardt/Negri ausdrücklich dem Dilemma, dass das Kapital seine Krisen bisher stets zur eigenen Reproduktion nutzen konnte und sich dazu gerade dort zu modernisieren verstand, wo es von sozialen Bewegungen angegriffen wurde. Gelang dies im 19. und 20. Jahrhundert durch die sozialstaatliche und -rechtliche Einhegung der Arbeiter_innenbewegung und deren ebenso produktive wie profitable Einbindung in die fordistischen Arbeits- und Lebensweisen, folgte in der Epoche nach 1968 die ebenso produktive und profitable Funktionalisierung der Neuen Sozialen Bewegungen für deren postfordistische Umwälzung. Dazu zeigen Hardt/Negri in ihren Untersuchungen der hochtechnologischen, primär auf die Herstellung „immaterieller“ Güter (Wissen, Symbole, Dienstleistungen, soziale Beziehungen) ausgerichteten und durchgängig finanzialisierten Produktionsweise, wie gerade die Fluchten der Minoritäten aus den tradierten Arbeits-, Lebens- und Sprechweisen zur Einführung neuer Formen der Arbeit führten, die Hardt/Negri deshalb auch als Formen „biopolitischer“ Arbeit bezeichnen. Damit wird gesagt, dass das Kapital in der Expansion über die Fabrik hinaus Tätigkeiten, Güter und Subjektivitäten zur Ware machen konnte, die bis dahin außerhalb kapitalistischer Verwertung, weil in der Unmittelbarkeit des Alltagslebens vollzogen bzw. hervorgebracht wurden.

Das Biopolitisch-Werden des Kapitals werten Hardt/Negri dann aber eben nicht als Stillstellung der den Kapitalismus sprengenden Produktivkraftdialektik, sondern als den historisch entscheidenden Schritt eines „Exodus“ aus dem Bann des Kapitals. Dies gelingt ihnen, indem sie diese Dialektik von ihrer deterministischen Verkürzung befreien und radikal auf ihren im Begriff der „biopolitischen Multituden“ gefassten subjektiven Faktor ausrichten. In ihm führen sie Marx’ Begriff der Klasse mit Deleuze/Guattari/Foucaults Begriff der Minoritäten zusammen und holen derart systematisch ein, was letztere nur anzudeuten vermochten, als sie das „universelle Bewusstsein“ der Frau-, Kind-, „Neger“- und „Schizo“-Werden im Proletariat verorteten.

Dabei halten Hardt/Negri zu Recht ausdrücklich fest, dass die Multituden erst in der revolutionären Entfaltung ihrer „selbst-verwertenden“ Biopolitik zum Subjekt der materialistischen Teleologie und Utopie werden. (Hardt/Negri 2010: 9ff., 15, 373) Damit stellt sich aber auch ihnen das klassisch-marxistische Problem einer Dialektik zwischen dem bereits gegebenen An-sich-sein und dem noch ausstehenden Für-sich-sein des „universellen Bewusstseins“ geschichtlichen Fortschritts. Zu deren Subjekt ernennen sie die Figur der kommunistischen „Militanten“, nach der sie deshalb gerade im Schlusskapitel von Empire fragen. Da diese Position nach dem „Tod des Menschen“ nicht mehr nur eine solche des Bewusstseins sein kann, binden auch sie deren Herausbildung an den a-subjektiven, weil nicht-intendierbaren Einbruch je eines Ereignisses. Darunter verstehen sie die Verdichtung verschiedener Werdensprozesse des Lebens, Arbeitens und Sprechens in historisch außerordentlichen Intensitäten, die deren vorgegebene Richtung ablenken oder gar umkehren: Begebenheiten also, die hier im Blick auf den Arabischen Frühling eingeführt und mit Kant im Begriff des Geschichtszeichens gefasst wurden. Leider bleibt ihr Ereignisbegriff zu unbestimmt, um nicht nur den intensiven Zeitlichkeits- und Geschichtlichkeitscharakter des Lebens, Arbeitens und Sprechens, sondern auch den Bezug von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu je einer Wahrheit und einem zum Wahrheitsvollzug befähigten Subjekts fassen zu können.[8]

Wahrheitspolitik II: Die Militanten

Ergibt sich hier der Übergang zu Badiou, liegt dies darin, dass er im Unterschied zu Deleuze/Guattari/Foucault und Hardt/Negri nicht hinter dem Ereignisbegriffs Kants zurückbleibt, sondern dessen Vertiefung durch Heidegger folgt. Die beginnt mit der Verortung des Enthusiasmus als der Stimmung, in der ein Subjekt das von ihm nicht direkt intendierte Ereignis als sein Geschichtszeichen bejaht: Ist der revolutionäre Enthusiasmus bei Kant die Stimmung der dem Ereignis aus der Ferne beiwohnenden Zuschauer_innen, stimmt er bei Heidegger und Badiou die aktiv engagierten Mitspieler_innen des Geschehens in ihre je eigenen Möglichkeiten ein.

Dabei schränkt Badiou die Zahl der Geschichtszeichen zumindest im Feld der Politik auf die vier Ereignisse ein, die er mit den Jahreszahlen 1789, 1848, 1917 und 1968 datiert.[9] Zum Geschichtszeichen wurden sie, indem sie an dem von ihnen allererst eingeräumten „Ereignisort“[10] die Ankunft einer Wahrheit markieren und die ihr folgende Geschichte in den „Modus“, die „Prozedur“ oder – geschichtsphilosophisch treffender – die „Sequenz“ ihres „Wahrheitssubjekts“ verwandeln. Verdeutlichen lässt sich das an den hier über ihre Jahreszahl aufgerufenen politischen Ereignissen. Artikulieren sie alle die transzendentale und in diesem Sinn „ewige“ Wahrheit der Politik, Gleichheit und Gerechtigkeit in actu zu sein, erfolgt der empirische Wahrheitsvollzug in einer historisch immer nur a posteriori beschreibbaren „Sequenz“: 1789 in der jakobinischen, 1848 in der Sequenz der Kommunist_innen des Marx’schen Manifests, 1917 in der bolschewistischen und 1968 in der Sequenz der Neuen Linken und Neuen Sozialen Bewegungen.[11] Benannt werden sie je nach ihren Subjekten, die deshalb als Wahrheitssubjekte bezeichnet werden. Ein solches Subjekt ist eine selbst erst durch sein Ereignis konstituierte, in sich vielgestaltige Figuration, zu der im exemplarischen Fall des bolschewistischen Subjekts das revolutionäre Proletariat der großen russischen Städte, die aufständischen Soldaten und Bäuer_innen, die Organe der Sowjetmacht, die Kommunistische Partei und zuletzt jede_r einzelne Militante gehören.

Wer aber entscheidet, was und wann ein Ereignis, was seine Wahrheit und wer sein Subjekt ist? Diese Frage führt in den Kern der Ereignisphilosophie Badious, an ihr hängen seine über die „Treue zum Ereignis“ und deren Unterschied zum Verrat, zur Täuschung und zur Hybris entfaltete Ethik sowie die später hinzugefügten Unterscheidungen der „treuen“ von den „reaktiven“ und den „obskuren“ Subjektivierungen („Faltungen“) eines Ereignisses.[12] Wenn die Frage selbst immer nur in „engagierter“ Perspektive zu beantworten ist, liegt das daran, dass die drei konstitutiven Kräfte einer jeden Sequenz – Ereignis, Wahrheit und Subjekt – zirkulär aufeinander verweisen, sofern sich die jeweilige Wahrheit ihrem Subjekt ereignishaft, d.h. in von ihm nicht intendierter und also zwingender Weise zuspricht, während umgekehrt das Ereignis und seine Wahrheit nur im Zeugnis ihres Subjekts zur Sprache kommen. Von dieser Korrespondenz wusste schon Heidegger: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hereinzukommen.“ (Heidegger 1984: 153)

Subjektivierung und Subjekt

Die sich unmittelbar aufdrängende Frage, wie man denn nun „in rechter Weise“ in den Zirkel einer Wahrheit hineinkommt, beantwortet Badiou mit dem Begriff der déliason, der Ent-Bindung, der direkt auf seine noch gegen Hardt/Negri gerichtete Kritik der Biopolitik führt. (Vgl. Badiou 2003a: 79ff, 2010b: 25ff., 2003c: 117) Die Ent-Bindung ist Effekt des Ereignisses und bezeichnet den Vorgang, in dem ein beliebiges menschliches Lebewesen überhaupt erst zum Subjekt wird. Im Modus der Ent-Bindung verstandene Subjektivierung ist dann ein Akt der Ab-Spaltung, in dem sich ein Individuum von seinem „animalischem Leben“ und seinen Pathologien trennt, um von nun an als das Subjekt zu existieren, das es zuvor nicht war.[13] Gilt das so auch und gerade für das politische Subjekt und die Bildung der Militanten, ist für Badiou kategorisch festzuhalten: Das Subjekt der Politik kann kein biopolitisches Subjekt sein, weil es sich einem Akt der Ent-Bindung aus dem bios verdankt und dieser Akt als Gabe eines Ereignisses im bios nicht intendiert werden kann. Damit trennt Badiou die wahrheitspolitische Militanz aber nicht nur von den in der Formel „Das Private ist politisch!“ verdichteten Biopolitiken der Neuen Sozialen Bewegungen, sondern letztlich von allen sozialen Kämpfen: finden diese die Anlässe ihres Aufbruchs doch stets in der alltäglich gelebten, deshalb pathologischen und insofern ebenfalls biopolitischen Erfahrung von Herrschaft, Ausbeutung und kategorisierender Subjektivierung. In den Logiken der Welten bringt Badiou den Unterschied von Wahrheits- und Biopolitik in der Unterscheidung ihrer impliziten Generalthesen auf den Punkt. Schreibt er dem Denken Deleuze/Guattari/Foucaults und Hardt/Negris dabei die These „Es gibt nur Körper und Sprachen“ zu, fasst er die These seines Denkens in dem Satz: „Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.“[14] Indem das Ereignis dieser Wahrheiten zu den Körpern und Sprachen aus einem radikalen Außen aller Körper und Sprachen und derart vermittlungslos hinzutritt, verfängt sich auch Badiou in der deterministisch-voluntaristischen Dublette, die er den von ihm kritisierten Philosophien zuschreibt: in seinem Fall in der Dublette eines Determinismus der Körper und Sprachen und eines Voluntarismus der Wahrheitssubjektivierungen, für den Körper und Sprachen zum bloßen Material herabsinken.

Soll stattdessen zwischen den bio- und mikropolitischen Dynamiken des alltäglichen Lebens, Arbeitens und Sprechens und der wahrheitspolitischen Treue zu den seltenen Ereignissequenzen vermittelt werden können, wäre die Ent-Bindung nicht als ein Akt zu deuten, der einen vermittlungslosen Unterschied zwischen Lebewesen und Subjekt markiert. Sie wäre stattdessen als der Akt zu denken und zu vollziehen, in dem sich ein Lebewesen zwar nicht-intendiert, doch gleichwohl kraft eigenen Vermögens als das Subjekt bejaht, das es in Wahrheit immer schon war. Die in der Ent-Bindung vollzogene Spaltung trennt dann nicht zwischen der Subjektivität einerseits und dem animalischen, pathologischen oder privaten Leben andererseits, sondern zwischen diesem Leben und einem gespaltenen Subjekt, das in sich Subjektivität und Animalität und darin Subjekt im Leben ist. Der Irrtum Badious liegt folglich in der Verortung der Ent-Bindung, in der er Subjekt und bios in ein äußerliches Verhältnis setzt, statt die Spaltung beider als Spaltung innerhalb des bios und also innerhalb des Alltagslebens zu denken. Er liegt darüber hinaus darin, im Grunde gar nicht von Subjekten, sondern wie Deleuze/Guattari/Foucault eigentlich nur von Subjektivierungen zu sprechen. Die fasst er dann als bloß nachträglichen Effekt einer äußerlichen Determination, in seinem Fall der Determination durch ein Wahrheitsereignis: ein Fehlgriff, der schließlich auch ihn dazu nötigt, den subjektiven Faktor der Geschichtlichkeit voluntaristisch zu bestimmen.

Wird die Subjektivierung stattdessen als Performanz eines Lebewesens verstanden, das seiner inneren Möglichkeit nach immer schon Subjekt, also nie „nur“ Lebewesen war, vertieft sich darin auch der Begriff des eben schon eingeführten Zirkels von Subjekt, Ereignis und Wahrheit. Zwar hängt die Aktivierung dieses Subjekts auch jetzt am nicht-intendierten Einbruch eines Ereignisses. Doch kommt dieses Ereignis aus keinem vermittlungslos fernen Außen, sondern verdankt sich auch einer Subjektivität, die seiner Ankunft und damit seiner Wahrheit vorab schon offenstand. Die Veränderung im Verhältnis von Subjekt und Ereignis modifiziert dann das subjektive Verhalten zum Ereignis, das Badiou im Begriff der Treue fasst. Kann Badiou, für den es vor dem Ereignis nur Lebewesen, doch keine Subjekte gibt, die Treue immer nur als Verhalten zum gewesenen Ereignis denken, kann sie nun wie bei Heidegger und Derrida auch als ein Verhalten zum kommenden Ereignis gedacht werden: eine Erweiterung, in der sich die utopische Dimension von Subjektivität in ihrer „Messianizität“ als der Wahrheit ihres religiösen Atheismus bewährt.[15] Das im Lebewesen immer schon anwesende Subjekt ist dann ein seinen spezifischen historischen Subjektivierungen vorgängiges Subjekt, kantisch gesprochen: die Bedingung ihrer Möglichkeit. Es ist in diesem Sinn ein empirisch-transzendentales Subjekt: ein Subjekt also, in dem man – in den Worten Foucaults – „Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.“ (Vgl. hier, Fußnote 2)

Dialektische Schlussrunde aller Beteiligten

Ein solches Subjekts entkommt der deterministisch-voluntaristischen Dublette in zwei Zügen. Der erste, gegen den Determinismus gerichtete Zug liegt darin, dass menschliche Lebewesen, sofern sie ihrer Möglichkeit nach immer schon Subjekte sind, nie nur ein Effekt äußerlicher Determination sein können – egal, wie diese Determination bestimmt wäre. Der zweite, gegen den Voluntarismus gerichtete Zug liegt darin, dass ein seinen Determinationen immer auch vorgängiges Subjekt eben deshalb nie nur zur Reaktion auf diese Determinationen, sondern – wie Sartre treffend formulierte – immer schon „zur Freiheit verurteilt“ ist. Diese Freiheit ist zwar nicht der Grund des Lebens, der Arbeit und der Sprache, doch schon deshalb mehr als nur eine voluntaristische Freiheit des Willens, weil sie sich in ihrem Leben, Arbeiten und Sprechen frei den eingangs erinnerten Fragen aussetzen kann, die Foucault/Deleuze mit der These vom „Tod des Menschen“ als der Geburt des „Übermenschen“ beantworten. Dem Determinismus und dem Voluntarismus entkommen diese Freiheit und dieses Subjekt, weil Leben, Arbeit und Sprache ihrerseits nie ohne Freiheit und nie ohne Wahrheit und deshalb aber immer schon existenziell gefaltete Geschichte sind. Von der so verstandenen Freiheit her wird das Subjekt, analog zu Heideggers Bestimmung des menschlichen Daseins als „Da des Seins“, zum „Da“ des Lebens, Arbeitens und Sprechens.

Zuzugeben ist dann allerdings, dass sich die Philosophie damit weiter mit der „empirisch-transzendentalen Dublette“ und der „Analytik der Endlichkeit“ auseinandersetzen muss, die Foucault und Badiou ausdrücklich hinter sich lassen wollten. (Vgl. wiederum Fußnote 2) In der ausdrücklichen Anerkennung dieser Nötigung liegt der philosophische Einsatz Žižeks. Dem entspricht, dass Žižek den Wunsch, sich von der „Analytik der Endlichkeit“ zu befreien, auf eine „Seinsvergessenheit“ zurückführt, die in ihrem Kern Vergessen und darin Verdrängung der Endlichkeit ist. (Žižek 2001: 216 – 230)

Mit der Anerkennung einer spezifisch menschlichen Endlichkeit zielt Žižek allerdings nicht auf das blanke Faktum des Ablebenmüssens, auf das sich die liederlichsten Formen des Humanismus gründen. Stattdessen geht es ihm um eine „Wahrheit der Existenz“ (Heidegger 1984: 221, 291, 307f.), in der die Negativität des Seins zum Tode wie des Seins zur Geburt der menschlichen Endlichkeit die Möglichkeit eröffnet, sich von jedem Sicheinhausen und Dahinleben in bloß endlichen Befriedigungen und Beruhigungen zu ent-binden. Solches „Verweilen beim Negativen“ (Hegel) wäre dann die eigentümliche Möglichkeitsbedingung der Selbstbejahung, des „Sich-durch-sich-Affizierens“ eines Subjekts, das nicht mehr ein vom Leben abgespaltenes Subjekt wäre, sondern die Spaltung von Subjektivität und „Animalität“ vergeschichtlichen könnte: nach Maßgabe seiner Wahrheiten und also seines Vermögens, sich frei zu ent-binden und frei zu binden. Es flüchtete dann nicht mehr in ein Außerhalb des Lebens, Sprechens und Arbeitens: weder in das Jenseits der Religion oder der klassischen Metaphysik einschließlich des klassischen Humanismus, noch in das Jenseits eines a-subjektiven Positivismus und Antihumanismus.

Posthumanistisch ist das so verstandene Subjekt, weil die Selbstbejahung der eigenen Endlichkeit die Anerkennung eines Lebens, Arbeitens und Sprechens einschließt, das ihm nie zur Gänze durchsichtig werden und dessen es sich deshalb nie zur Gänze bemächtigen kann. Politisch wird das dort relevant, wo sich das bloße Auf und Ab der sozialen Kämpfe zu der Universalgeschichte fügt, die Hegel im Kampf um Anerkennung philosophisch entworfen, Marx im Begriff einer Geschichte der Klassenkämpfe politisiert und die jüngeren sozialen Bewegungen in die nie voneinander zu trennenden Dimensionen der Kämpfe gegen Herrschaft, gegen Ausbeutung und um Subjektivierung ausdifferenziert haben. Von ihrer Geschichtlichkeit hat Hegel – deshalb ist auf ihn und die Dialektik der Anerkennung zurückzukommen – in noch heute gültiger Weise gezeigt, dass und wie sie im subjektiven Sich-Entbinden vom bloßen Überleben gründet: eine „Wahrheit der Existenz“, die die Aufständischen des Tahrirplatzes gerade eindringlich bestätigt haben.

Zu erproben bleibt dann, dass und wie diese Wahrheit in der Theorie und Praxis einer „Bewegung der Bewegungen“ aussteht, die ihre Kämpfe gegen Herrschaft, gegen Ausbeutung und um Subjektivierung zugleich als wahrheits- und als biopolitische und darin auch als religiös-atheistische Kämpfe um den „Übermenschen“ und das „menschliche Gattungswesen“ führen wird. Dazu ist der von Badiou im Prinzip ja zu Recht behauptete Primat des Politischen vor dem Leben nicht mehr als äußerlicher Einspruch gegen Biopolitik zu verstehen, sondern selbst und eigens im biopolitischen Feld zu erheben. Die bloß konstatierende Formel „Das Private ist politisch“ wäre dann so in die Direktive „Politisiert das Private!“ umzuschreiben, dass die Ent-Bindung politischer Militanz nicht als Wendung „gegen“ das Leben, sondern selbst als Lebensform und Lebensweise verstanden werden kann – mit Foucault gesprochen: als Ästhetik der Existenz. Die wäre dann allerdings, über Foucault wie Deleuze hinaus und mit Hardt/Negri, Badiou und Žižek, an die Subjektposition zu binden, die Marx im Manifest als zugleich philosophische und politische Subjektposition der Kommunist_innen fasst. Um die zuguterletzt bündig ins Gedächtnis zurückzurufen: Die Kommunist_innen bilden keine partikulare politische Formation neben den anderen Formationen der Multituden und haben keine von ihnen getrennten Interessen. Sie finden ihre Auszeichnung darin, in allen partikularen Kämpfen die Transversale (Foucault) oder das Gemeinsame (Hardt/Negri) aller Kämpfe und damit „in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ (Marx) zu artikulieren: ihre teleologische und utopische Ausrichtung auf einen Unterschied ums Ganze.[16] Den jüngsten Anhalt dieses Gemeinsamen, dieser Zukunft und dieses Unterschieds gibt uns das Geschichtszeichen, das wir dem Tahrirplatz und dem weltweit bezeugten Enthusiasmus verdanken, der uns darauf einstimmt, das Ereignis des Arabischen Frühlings „bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände“ zum praktischen Beispiel seiner Wiederholung zu nehmen.

Zusatz

Teleologie und Utopie der Universalgeschichte schließen Kontingenz nicht aus, im Gegenteil. Das beginnt mit der Kontingenz des „nackten Dass“ der Universalgeschichte selbst, die ihren Grund nur in sich selbst finden kann, d.h. erst hervorbringen muss. Das bestätigt sich in dem Umstand, dass die empirische Erfüllung von Teleologie und Utopie durch nichts garantiert wird und ihr Subjekt deshalb vielleicht, wie Žižek im Titel eines seiner Bücher festhält, auf einen „verlorenen Posten“ gestellt wurde. Es bestätigt sich schließlich in der auch logisch nicht auszuschließenden Vermutung, dass das heute angestrebte Ende der Geschichte, wenn es sich denn erfüllt, nur den Anfang ganz anderer, noch gänzlich unabsehbarer Werden bilden wird. Dem Begriff der Universalgeschichte widerspricht das nicht: Teleologie, Utopie und Messianizität bleiben die Probe der in ihr möglichen Freiheit.

Literaturverzeichnis (Endnoten folgen)

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Seibert, Thomas (2009): Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg

Žižek, Slavoj (2001): Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M

[1] Eine erste Fassung dieses hier gründlich überarbeiteten und sachlich erweiterten Textes erschien in der Zeitschrift Prokla 167/2012.

[2] Vgl. Foucault 1971: 384ff, wo Foucault der auf Kant zurückgespurten „Analytik der Endlichkeit“ eine „empirisch-transzendentale Dublette“ zuschreibt, in der der Mensch als das Wesen bestimmt wird, „in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht“ – eine Bestimmung, die für Foucault aporetisch bleibt.

[3] Unter „Positivitäten“ versteht Foucault alle Gegebenheiten, die in historisch-materialer Forschung auf die nicht-gegebenen und in diesem Sinn „dispositiven“ Bedingungen ihrer Hervorbringung aufgeklärt werden sollen, d.h. auf die Verhältnisse ihrer objektiven Determination. Da der Begriffsgebrauch Foucaults im deutschen Kontext nicht zuletzt infolge des von der Kritischen Theorie initiierten „Positivismus-Streits“ befremdlich erscheint, sei ausdrücklich festgehalten, dass sich Foucault damit keinesfalls an die Seite Karl Poppers stellt, sondern seinen spezifischen Unterschied zu allem „bisherigen“ Materialismus anzeigen will.

[4] Den Begriff des religiösen Atheismus“ prägte Georg Lukàcs mit Bezug auf Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger, vgl. im Kern Lukács 1984: 411; zur gesamten Problematik vgl. Seibert 2009. Einen Einblick in das nicht ungefährliche Spiel dieses Atheismus gewähren die Texte, in denen Foucault die Anfänge der Iranischen Revolution enthusiastisch begrüßt. (Foucault 2003: 850-906, 929-943, 949-953, 974-977, 987-992)

[5] Der 1976 erschienene erste Band Der Wille zum Wissen sollte der erste einer Reihe von acht Bänden werden. Band 2 (Der Gebrauch der Lüste) und Band 3 (Die Sorge um sich) erschienen 1984 und haben mit dem ursprünglichen Plan der Reihe nichts mehr zu tun.

[6] Ebd.: 131. Zur bis dahin allein möglichen Zurückweisung eines positiven Wahrheitsbezugs vgl. noch einmal die weiter oben zitierte Stelle aus Foucault 2005a: 273ff.

[7] Vgl. Foucault 2005b: 705f und Deleuze 1987: 161 – wobei Deleuze die auffällig passivische Fassung dieser Fragen bei Foucault konsequent in aktivische Formulierungen überführt. Der Verweis auf Kant meint natürlich die drei Fragen „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“, vgl. Kant 1996: 815f., denen Kant an anderer Stelle noch die vierte Frage „Was ist der Mensch?“ zugeordnet hat. Vgl. dazu auch die gleichermaßen zustimmende Wiederholung dieser vier Fragen in Heidegger 1965: 187.

[8] Zum Ereignisbegriff vgl. systematisch Negri 2003 und zuletzt Hardt/Negri 2010: 73ff., 190, 321ff., 352, 357, 368. Die politische Konkretion dieses Ereignisbegriffs in Negri 2009 unterliegt dem mehr als bedauerlichen Nachteil, nicht explizit Thema zu werden. Zur ethisch-politischen Bildung („Generation“) und dem immer möglichen Verfall („Korruption“) der Multituden vgl. Hardt/Negri 2000: 377 – 400 sowie 361 – 376; zur Subjektposition der Militanten ebd.: 418ff. Vgl. auch Hardt/Negri 2010: 173ff., 176ff., 185, 190f., 195f., 209f., 268, 271, 313ff., 376ff.

[9] Umfänglicher wird deren Zahl dann allerdings in zwei wesentlichen Hinsichten. Zum einen sind zur Menge der politischen Ereignisse noch die Ereignismengen der Wissenschaft, der Kunst und der Liebe hinzuzunehmen. Wichtig ist das deshalb, weil die Wahrheiten der Kunst, der Wissenschaft und der Liebe der Unbedingtheit der politischen Wahrheit gleichermaßen unbedingte Grenzen setzen. Zum anderen führt Badiou in seinem zweiten Hauptwerk anstelle der für sein Denken bis dahin kennzeichnenden „rigiden Opposition“ zwischen bloß innerweltlicher „Situation“ und welterschließendem Ereignis eine Gradualisierung ein. Können in der konkreten Untersuchung konkreter historischer Vorgänge damit unendlich viele „Nuancen der Transformation“ eingeräumt werden, wird in der Beantwortung der Frage „Wie kommt es, dass sich Welten wirklich verändern?“ dennoch an der Prominenz des Unterschieds ums Ganze festgehalten, dem allein der Rang eines Ereignisses zukommt. Vgl. Alain Badiou 2010a: 385; im Zusammenhang ebd. 379 – 422.

[10] Unter dem „Ereignisort“ versteht Badiou das Ganze jeder historischen Situation, die sich der historischen Erkenntnis nur noch im Licht (Heidegger hätte gesagt: in der „Lichtung“) des Ereignisses darstellt, das in ihr stattfand – im Fall des Ereignisses „1789“ also das Ensemble des vor-revolutionären Frankreich in der Vielheit seiner möglichen Thematisierungen.

[11] Vgl. Badiou 2003a: 109ff. Zu den Neuen Sozialen Bewegungen zählt der Postmaoist Badiou allerdings auch die Roten Garden des kulturrevolutionären China und die antikolonialen Befreiungsfronten.

[12] Badiou 2003b. Zu den drei möglichen Subjektivierungen eines Ereignisses vgl. 2010a: 61 – 110. Um die Unterscheidung des treuen, des reaktiven und des obskuren Subjekts wenigstens grob verständlich zu machen, kann sie im aufgerufenen Beispiel der bolschewistischen Sequenz im Unterschied des bolschewistischen (Treue), des sozialdemokratischen und liberalen (Reaktion) und des faschistischen (Obskuranz) Subjekts erläutert werden, wobei alle drei Subjektivierungen des Ereignisses „Oktoberrevolution“ sind.

[13] Der Begriff des Pathologischen wird hier nicht im Sinn eines wie immer auch „Krankhaften“, sondern im Sinn Kants verwendet, nach dem er Handlungen umfasst, die sich primär einem „Gefühl der Lust und Unlust“ und damit dem bios verdanken, im Unterschied zu Handlungen, die vom moralischen Gesetz und damit rein aus der Subjektivität erwirkt werden; vgl. Kant 1966: 582ff, 812ff. In den Begriff der „Animalität” schließt Badiou auch das menschliche Leben ein.

[14] Badiou 2010a: 17 bzw. 20. Das Doppel Körper/Sprachen kann umstandslos in die Trias Leben, Arbeit, Sprache differenziert werden, wobei der von Badiou kritisierte „Punkt“ die Absenz der Wahrheit ist.

[15] Der Begriff der Messianizität ist für das politische Denken Jacques Derridas zentral und gilt dort Sich-Verhalten zum kommenden Ereignis, vgl. Derrida 1995.

[16] Marx/Engels 1959: 474ff. bzw. 492. Für eine systematische Entfaltung dieses „Punkts“ vgl. wiederum Seibert 2009.