Post/Marxismus

Schnitte setzen, um weitermachen und neu beginnen zu können.

Im Dezember 2013 lud mich die Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg ins Centro Sociale in der Sternstraße ein. Beworben wurde der Vortrag mit diesen Sätzen: „Jahrelang geschieht nichts, scheint die Ordnung der Dinge unverrückbar festzustehen, das Schlimme immer schlimmer zu werden. Plötzlich überstürzen sich die Geschehnisse, reißt der Horizont auf. (…) Die Chance, es besser zu machen als 1789, 1848, 1917 und 1968, haben wir immer noch: als Chance.“ Hier auch das Audio des Vortrags.

Mein Vortrag wird, der Anlage dieser Reihe entsprechend, ein theoretischer Vortrag sein, genauer: ein philosophischer. Da es sich um politische Philosophie handelt, werde ich mich immer wieder auf politische Prozesse und damit auf politische Praxis beziehen: was ich als Philosoph und Aktivist auch außerhalb dieser Vortragssituation tue.

Dabei soll die politische Praxis nicht als „Beispiel“ oder als „Kriterium“ für den Sinn oder Unsinn politischer Theorie herbeizitiert werden. Wird in linker politischer Theorie wie in linker politischer Praxis immer wieder neu die „Einheit von Theorie und Praxis“ eingefordert, dann deshalb, weil diese Einheit problematisch ist: wäre das nicht so, würde wir uns unproblematisch in ihr bewegen und nicht eigens von ihr sprechen.

Womit ich beim Thema der Veranstaltungsreihe bin: „Über den Verlust und die notwendige Rückgewinnung des Politischen im Marxismus.“ Ich beginne mit 5 Thesen:

1.)

Ja, es hat einen „Verlust des Politischen“ im Marxismus gegeben: und nicht nur im Marxismus, sondern, schlimmer noch, in der Welt selbst. Wir leben tendenziell in einer postpolitischen Welt.

Weil ich davon im Folgenden nicht ausdrücklich spreche, halte ich an dieser Stelle fest, dass ich die Welt des hochtechnologisierten und durchfinanzialisierten Kapitalismus meine, der noch nicht postpolitisch, doch schon biopolitisch genannt werden kann. Damit ist gesagt, dass seine Dynamik nicht mehr nur die Dynamik einer Subsumtion der Arbeit, sondern des ganzen Lebens unter das Kapital ist. Marx nahm das in einer unveröffentlichten Notiz zum ersten Band des Kapitals in den Blick, in der es heißt, dass der Kapitalismus von einem System der „Konsumtion von Arbeitskraft“ zu einem System werden könne, das die zu konsumierende Arbeitskraft allererst hervorbringt, indem es nicht nur die „Fähigkeiten“, sondern schon die „Bedürfnisse“ und „Wünsche“ seiner Arbeitskraft erzeugt.[1] Dieser Kapitalismus herrscht heute global und planetarisch: über alle menschlichen Gesellschaften und über alle gesellschaftlichen Naturverhältnisse; er kann deshalb imperial genannt werden. Tendenziell postpolitisch ist der biopolitisch-imperiale Kapitalismus, weil er die Bedingung von Politik, das freie Handeln in Bejahung der Gleichheit-und-Freiheit aller, Zug um Zug untergräbt und in der Tendenz löscht.

2.)

Was den Verlust des Politischen nur im Marxismus angeht, so hat der zum einen mit der Geschichte der politischen Formationen zu tun, die sich auf ihn berufen haben: mit der Geschichte ausnahmslos aller dieser Formationen. Er hat zum anderen damit zu tun, dass sich der Begriff, mit dem der Marxismus das Politische zu fassen suchte, zerschlissen hat. Es war dies der Begriff der Klasse, von dem her das Manifest der Kommunistischen Partei sagen konnte, dass die Geschichte überhaupt eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Allerdings sind zerschlissene Begriffe keine gleichgültigen oder gar überflüssigen Begriffe: Es kommt viel mehr darauf an, was heute durch sie hindurch sichtbar wird.

3.)

Die postpolitische Welt ist noch kein unabwendbares Schicksal. Deshalb ist der Titel, unter dem wir uns hier versammeln, ein guter Titel: das Politische kann zurück gewonnen werden, wir können versuchen, es zurück zu gewinnen. Was die Theorie des Politischen angeht, glaube ich allerdings, dass der Ort dazu nicht der Marxismus, sondern der Postmarxismus sein wird. Dies ist so, weil der Begriff, über den das Politische zurück gewonnen werden kann, der postmarxistische Begriff des Ereignisses sein wird. Nach dem jüngeren Stand der Debatte beziehe ich mich primär auf Michael Hardt, Toni Negri, Alain Badiou, Slavoj Žižek, Jacques Rancière, Étienne Balibar und Jacques Derrida; weiter zurück wären viele andere zu nennen. Natürlich kann ich hier nur eine Einführung in diese Debatte geben. Krise und Ereignis.

4.)

Wenn das Politische theoretisch im postmarxistischen Begriff des Ereignisses zurück gewonnen werden kann, ist damit gesagt, dass die praktische Rückgewinnung des Politischen selbst ein Ereignis sein wird.

5.)

In Umformulierung eines berühmten Satzes von Jean-Francois Lyotard ist dann allerdings zu sagen: „Ein Denken ist nur dann marxistisch, wenn es zuvor postmarxistisch war. So gesehen bedeutet der Postmarxismus nicht das Ende des Marxismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“[2] Marx selbst war diese Regel nicht fremd. In bestem postmarxistischen Sinn hat er deshalb, Engels zufolge, von sich selbst gesagt: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“[3]

I.

Im Folgenden möchte ich Begriff und Sache des Ereignisses in vier Schritten entfalten und dabei zugleich klären, was ich unter der Rückgewinnung des Politischen verstehe. Einleitend gebe ich dazu Hegel das Wort:

„Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, dass unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und itzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorgehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“[4]

Hegel bringt hier drei Dinge zusammen.

1.) die Diagnose einer Zeit des Umbruchs. Er schreibt die zitierte Stelle der Phänomenologie des Geistes rund und roh gesprochen zwischen der Französischen und der Revolution von 1848, ich zitiere sie im dritten Jahr nach dem Arabischen Frühling.

2.) den „subjektiven Faktor“ von Politik, der den bevorstehenden Umbruch zwar als seinen eigenen „Bruch“ mit „der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens“ und als die „Arbeit seiner Umgestaltung“ bejaht, doch nicht in der Lage ist, den Umbruch selbst willentlich oder gar planmäßig zu vollenden. Diese Schwäche ist kein korrigierbares Versagen, sondern gehört zur Bestimmung des subjektiven Faktors: und zwar gerade dann, wenn diese Bestimmung in der Freiheit erkannt wird. Hegel spricht diese Ambivalenz der Freiheit in den auch uns vertrauten „Symptomen“ des Leichtsinns und der Langeweile an; sie äußert sich auch, wovon er hier nicht spricht, im Phänomen der freiwilligen Knechtschaft, in dem das Grundproblem überhaupt des Politischen liegt.

3.) das Ereignis selbst als das, was das immer auch langweilige und leichtsinnige Zerbröckeln und Wanken der alten Welt in den plötzlich beginnenden, weil von niemandem planmäßig vollendeten und von niemandem planmäßig zu vollenden „Aufgang“ einer neuen Welt radikalisiert: „Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“ Die dem Ereignis zugeschriebene Macht der Trennung zweier Welten fasst Hegel im Begriff des „qualitativen Sprungs.“

II.

Natürlich ist im qualitativen Sprung des plötzlichen Weltaufgangs nur die erste Bestimmung eines Ereignisses angegeben. Sie reicht allerdings aus, um seine weitere Bestimmung im zweiten Schritt in einem für unsere aktuelle politische Praxis unmittelbar relevanten politischen Geschehen zu suchen. Ich meine den bereits angesprochenen Arabischen Frühling und die 2011/2012 weltweit auf ihn folgenden Aufstands- und Protestbewegungen. War der Arabische Frühling mitsamt der ihn wesentlich kennzeichnenden globalen Resonanz ein Ereignis?

Um mit einem Ausdruck Alain Badious zu antworten: Nein, der Arabische Frühling war kein Ereignis, sondern „nur“ eine „Ereignishaftigkeit“. Ich verwende diesen Ausdruck, um zwischen einem Ereignis einerseits und einer bloßen Begebenheit andererseits graduell differenzieren zu können.

Was ein Ereignis ist, habe ich mit Hegel angedeutet. Eine Begebenheit ist demgegenüber etwas, was insofern einfach nur der alten Welt angehört, als es ihren Bestand bestenfalls teilchenweise, nie aber im Ganzen verändert: Eine Begebenheit lässt keine andere Welt aufgehen. Wenn man die Mittel dazu hat und sich nicht verrechnet, kann man eine Begebenheit direkt herbeiführen und so vollenden, wie man sie geplant hat. Man kann, auf den Punkt gebracht, das Eintreten, den Ablauf und die Folgen einer Begebenheit mehr oder minder exakt berechnen. Politisch gehören dazu die allermeisten der Demonstrationen, an denen wir teilnehmen, weil es irgendwie besser ist, dass sie stattfinden als dass sie nicht stattfinden. Dasselbe gilt von vielen unserer Versammlungen und Veranstaltungen. Es gilt sogar, um das jetzt deutlich höher zu hängen, von sozialen Bewegungen und von politischen Organisationen: vielleicht nicht in der längsten Zeit ihres Bestehens, doch über lange Strecken ihres Daseins.

Der Arabische Frühling und die ihm folgenden Bewegungen waren weder bloße Begebenheiten noch ein Ereignis. Ihnen Ereignishaftigkeit zuzusprechen heißt, dass sie zu einem Ereignis, zum blitzartigen Aufgang einer neuen Welt hätten werden können. Sie ähneln darin den Demokratiebewegungen der 1980er Jahre in den damals realsozialistischen Staaten. Für sie hat Badiou den Begriff der Ereignishaftigkeit geprägt, ohne ihm den systematischen Rang zuzuschreiben, mit dem ich ihn verwende.

Ereignishaft war auch die Demonstration von Seattle 1999, die selbst wieder ereignishaft mit dem zapatistischen Aufstand in Chiapas und dem argentinischen Dezemberaufstand des Jahres 2001 verbunden war, dem wir die Losung „Que se vayan todos!“ verdanken: sie sollen alle gehen! Alle diese Ereignishaftigkeiten umschreiben heute unseren nächsten politischen Möglichkeitshorizont, sie sind Teil des Zerbröckelns und Wankens unserer alten Welt, noch einmal mit Hegel: sie waren und sind „Vorboten, dass etwas anderes im Anzuge ist.“

Was genau verdanken wir diesen Ereignishaftigkeiten? Wir verdanken ihnen eine neue Sequenz sozialer Bewegung, die Sequenz der sog. globalisierungskritischen oder altermondialistischen Bewegungen – ich selbst bin mir übrigens unsicher, ob die auf den Arabischen Frühling folgenden Bewegungen einen neuen Zyklus oder die zweite Phase der altermondialistischen Bewegungen bilden. In jedem Fall teilen sie mehrere Merkmale miteinander:

1.) ihren transnationalen, wenn nicht globalen Charakter – Derrida sprach von einer „Neuen Internationale.“

2.) beziehen sie sich stets auf die kapitalistische Globalisierung: auch wenn dieser Bezug immer durch lokale, regionale oder nationale Problematiken überlagert wird und in sich so unbestimmt ist, dass er noch heute nicht definitiv antikapitalistisch genannt werden kann.

3.) legen sie den Akzent ihres politischen Begehrens auf Demokratie, Transparenz, Partizipation – democracia real ya, „fragend schreiten wir voran“, Glasnost, Perestroika, „Wir sind das Volk!“.

4.) betonen alle diese Bewegungen eben deshalb den subjektiven Faktor des Politischen: ein Moment, das sie untergründig mit dem Mai 1968 verbindet, der die Losung von der „Politik in Erster Person“ prägte. Der Arabische Frühling und die ihm folgenden Bewegungen haben dazu den Begriff der „Würde“ aktualisiert und ihn trotz seiner radikalen Allgemeinheit stets mit besonderen, zum Teil bloß lokalen Missständen verbunden: dem Brotpreis, dem Mietpreis, dem Zugang zu Einkommen, der Höhe des Einkommens, dem Fahrpreis und sogar und warum nicht dem freien Zugang zu Fußballstadien.

5.) war und ist die soziale Zusammensetzung all’ dieser Bewegungen wie schon die der Bewegungen nach Seattle 1999 außerordentlich komplex – so sehr, dass sie politisch noch viel weniger als die sozialen Bewegungen des Mai 1968 der Arbeiter_innenbewegung untergeordnet und deshalb auch nicht primär als Klassenbewegungen beschrieben werden können.

Diese fünf Merkmale haben in zwei für die Rückgewinnung des Politischen unverzichtbaren Begriffen ihren Niederschlag gefunden: dem von Hardt/Negri geprägten Begriff der „Multituden“ und dem Begriff der „Bewegung der Bewegungen“, der in diesen Bewegungen selbst entstanden ist. Beide sind Teil der aktuellen Theorie des Ereignisses, die ich jetzt im dritten Schritt näher bestimme. Ich orientiere mich dabei allerdings nicht an Hardt/Negri, sondern zunächst wieder an Alain Badiou: tue das aber, um schon in diesem und dann im vierten Schritt über ihn hinauszugehen.

III.

Badiou entfaltet den Begriff des Ereignisses in vier aufeinander verweisenden Kernbestimmungen.

1.) Ereignisse gibt es nur in den vier Dimensionen unserer gesellschaftlichen Existenz, in denen Welten voneinander geschieden werden können: der Politik, der Kunst, der Wissenschaft und der Liebe. In der Politik gibt es vier Ereignisse: die Französische Revolution 1789, die europaweiten Aufstände des Jahres 1848, den Roten Oktober des Jahres 1917 und den weltweiten Mai 1968. Sie waren Ereignis, weil sie je eine neue Welt aufgehen ließen, in ihnen verdichtet sich, was Badiou „das Politische“ nennt. Vor und nach solchen Weltaufgängen gibt es die politische Verwaltung solcher Welten, für die Badiou den vom Begriff des Politischen unterschiedenen Begriff der Politik reserviert. Diese sog. „politische Differenz“ findet sich in allen Theorien des Ereignisses: Rancière unterscheidet analog zwischen Politik und Polizei, Hardt/Negri zwischen konstituierender, d.h. verfassungsgebender und konstituierter, d.h. verfasster Macht, Balibar zwischen Aufstand und Verfassung.

2.) Alle Ereignisse diese Ereignisse waren natürlich mehr als nur ein plötzlicher Weltaufgang. So gehört zu jedem Ereignis eine Stätte, ein Ort, besser noch: eine Konstellation von materiellen und symbolischen Elementen und Elementanordnungen. Um das, Badiou folgend, am Beispiel des Ereignisses der Französischen Revolution zu erläutern: Zum Ereignis des Jahres 1789 gehört zunächst einmal das Frankreich der Jahre 1789 bis 1794 – mit allem, was empirisch-materiale Geschichtsschreibung zu seiner politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Verfassung aufzuschreiben weiß. Zur Konstellation des Ereignisses gehören dann, anschaulich-beispielhaft ausdifferenziert, die Wahlmänner der Generalstände, die Soldaten der Massenarmeen, die Mitglieder des Konvents, die Plebs von Paris und die Bauern auf dem Land, Dinge der täglichen Not wie die Lebensmittelpreise, neue Formen der politischen Organisation wie die jakobinischen Klubs, aufsehenerregende Begebenheiten wie die englische Spionage, der Betrieb der Pariser Theater, ein Lied wie die Marseillaise, schließlich eine technische Neuerung wie die Guillotine.

Was diese Elemente und Elementanordnungen zur Konstellation des Ereignisses 1789 vereinigt, ist nichts anderes als das Ereignis selbst: der qualitative Sprung im Prozess der unzähligen Begebenheiten, der sie plötzlich zu Elementen und Elementanordnung eines Weltaufgangs macht. Selbstverständlich, und das ist der Witz dieses Punktes, bleibt gerade diese Bestimmung umstritten: sie ist selbst Moment dessen, was zu ihrer Zeit ausgefochten wurde, und sie ist für uns heute ein eigens auszudeutendes Moment einer Rückgewinnung des Politischen.

3.) Zum Aufgang einer neuen Welt wird das Ereignis, weil es seiner Konstellation eine Wahrheit einschreibt, die es dort zuvor nicht gab, vom Moment ihrer Einschreibung an aber immer schon gegeben haben wird. Diese Wahrheit spricht sich in der Regel in einem markanten Satz aus, der als solcher – d.h. als Satz, der eine Wahrheit ausspricht – ebenso umkämpft bleibt wie die Konstellation und damit das Ereignis selbst. Darin liegt zugleich, dass in diesem Kampf stets auch andere Sätze ins Spiel gebracht werden: Sätze, die sich bestreiten, Sätze, die sich ergänzen. Im Fall der Französischen Revolution ist dies die Losung „Liberté, Égalité, Fraternité“, in der Dynamik der Aufstände von 1848 wird dies im Letzten der Satz „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ sein, der das Manifest der Kommunistischen Partei beschließt. Die Wahrheit des Roten Oktober spricht sich in der Direktive „Alle Macht den Räten!“ aus, die dann das ganze 20. Jahrhundert heimsucht, und die Wahrheit des Mai 1968 kommt in dem Satz „Das Private ist politisch!“ zur Geltung, mit dem die Grundlage jahrtausendelanger Herrschaft erstmals systematisch infrage gestellt wurde. Anzumerken bleibt, dass alle Wahrheitssätze politischer Ereignisse Ausdifferenzierungen des Satzes sind, der das Politische überhaupt zu einem Wahrheitsprozess macht. Seine elementare Formulierung fand er im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August des Jahres 1789: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“

4.) Zum Aufgang einer neuen Welt gehört schließlich das Subjekt, das die neue Welt und ihre Wahrheit zu seiner Welt und seiner Wahrheit macht. Wie die Wahrheit eines Ereignisses in einem markanten Satz, so lässt sich sein Subjekt durch einen markanten Namen benennen. Das Subjekt des Ereignisses von 1789 trägt den Namen der „Jakobiner_in“, das des Ereignisses von 1848 nennt sich „Demokrat_in“ und im Letzten „Kommunist_in“, das des Ereignisses von 1917 nennt sich „Bolschewist_in“ und das des Mai 68 „Neue Linke“. Diese Namen stehen nicht einfach für eine Person oder Personengruppe, sondern je für einen subjektiven Modus des Politischen: den jakobinischen, den demokratisch-kommunistischen, den bolschewistischen und den neu-linken. Das ihn tragende Subjekt ist eine offene, nicht zu vereinheitlichende, in sich umstrittene Figur, zu der im Beispiel des bolschewistischen Subjekts das revolutionäre Proletariat der großen russischen Städte, seine Verbindungen zu den aufständischen Soldaten und Bauern, zu den Organen und Versammlungen der Sowjetmacht und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) und zuletzt jede einzelne ihre Militanten gehören.

Jedes Ereignissubjekt artikuliert sich in einer spezifischen Form sozialer Bewegung. So bildeten sich im neu-linken Modus des Politischen die sog. „Neuen Sozialen Bewegungen“, mit deren Auftritt die Bewegungsform der vorangehenden Modi, die Arbeiter_innenbewegung, zur „Alten Sozialen Bewegung“ wurde. Die sich in den Ereignishaftigkeiten unserer Tage herausbildende „Bewegung der Bewegungen“ wird vielleicht als Antwort auf, d.h. als „Aufhebung “ der Differenz verstanden werden können, die die Alte Soziale Bewegung von den Neuen Sozialen Bewegungen getrennt hat.

Wie aber gehören, so ist jetzt zu fragen, der plötzliche Aufgang einer Welt, die materielle und symbolische Konstellation dieses Weltaufgangs, die in ihm verhandelte neue Wahrheit und das sie bezeugende Subjekt zusammen? Sie gehören so zusammen, dass sie alle je nur aus ihrem Bezug aufeinander verstanden werden können. Auf den Punkt gebracht: Die Wahrheit des Ereignisses wie das Ereignis selbst gibt es nicht „an sich“, sie sind nichts, was einfach objektiv gegeben wäre, sondern es gibt sie nur, sofern ein Subjekt diese Wahrheit als Wahrheit deutet und bezeugt: sie ist unaufhebbar hermeneutischer Natur, Moment einer subjektiven Deutung, einer subjektiven Interpretation der Welt. Schärfer noch: Außerhalb der Bejahung, d.h. der Deutung dieser Wahrheit durch ihr Subjekt gibt es weder diese Wahrheit, noch das Ereignis, noch seine Konstellation. Es gibt dann nur, um jetzt auf die Unterscheidung von Ereignis und Begebenheit zurückzukommen, eine Unendlichkeit objektiv registrierbarer Begebenheiten, die im Letzten gleichgültig, weil ohne Wahrheit sind.

Dass dies nicht subjektivistisch gemeint ist, zeigt sich daran, dass es umgekehrt ohne den plötzlichen Aufgang einer Welt, ohne die Konstellation ihres Weltaufgangs und ohne die in ihm verhandelte Wahrheit auch kein Subjekt gibt, sondern nur ein vor-subjektives, von seinen nächsten Bedürfnissen getriebenes menschliches Dasein, das die Entscheidung über seine „Wahrheit der Existenz“ (Heidegger) noch nicht getroffen hat.

Vom Ereignisdenken Badious unterscheidet sich diese Bestimmung, sofern er die vor-subjektive Dimension des Daseins streicht und diesseits des Subjekts allein Exemplare der Gattung Mensch als einer Gattung von Lebewesen zulässt. Fällt der subjektive Faktor bei Badiou (aber auch bei allen anderen Ansätzen, die ihren Subjektbegriff auf lokale „Subjektivierungen“begrenzen) dergestalt in empirisches Lebewesen und (quasi-)transzendentales Subjekt auseinander, bezieht das zuletzt Heidegger entlehnte Doppel von Subjekt und vor-subjektivem Dasein Transzendentalität (Möglichkeit) und Empirizität (Wirklichkeit) so aufeinander, dass verständlich wird, wie die Möglichkeit eines Subjekts im Dasein immer schon begonnen hat, ihr wirkliches Dasein zu verwandeln: zum besonderen Allgemeinen werden làsst.

Ist das Geflecht von Ereigniskonstellation, Wahrheit und Wahrheitssubjekt offensichtlich ein Zirkel, so ist es doch kein logischer, sondern ein hermeneutischer Zirkel, den Heidegger, Stichwortgeber aller Theorien des Ereignisses, wie folgt bestimmt: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hereinzukommen.“[5] Damit bin ich bei meinem letzten Schritt.

IV.

Sofern ein Ereignis je zwei Welten trennt, markiert es eine Diskontinuität. Gibt es mehrere Ereignisse, stellt sich die Frage, ob diese Ereignisse nicht trotzdem ein Kontinuum bilden, das dann, um dies für uns auf den Punkt zu bringen, ein Kontinuum des Politischen wäre. Badiou hat den Akzent stets auf die Diskontinuität der Ereignisse gelegt und hat dies ausdrücklich in der Absicht getan, sich von Geschichtsphilosophien Hegelschen, Marxschen oder Heideggerschen Typs freizuhalten. Das erlaubt es ihm, die Rede von einem Scheitern ereignishaft begründeter Wahrheitspolitiken abzuweisen und den französischen Thermidor, die Zerschlagung des Paulskirchenparlaments, die Machtübernahme Stalins und die neoliberale Rekuperation des Mai 1968 schlicht als einen „Abbruch“ zu denken, der den Ereignissen selbst nichts nimmt und nichts hinzufügt: eine verführerische, im Ansatz auch richtige, zuletzt aber doch falsche Antwort.

Ich denke demgegenüber, dass die Frage nach einem Zusammenhang der Ereignisse eine zentrale Frage im Versuch der Rückgewinnung des Politischen ist: was zugleich heißt, dass diese Frage ohne Zugeständnisse an Geschichtsphilosophien Hegelschen, Marxschen und Heideggerschen Typs nicht beantwortet werden kann. Wichtig ist das deshalb, weil wir nur dann aus dem Scheitern historisch gewordener Wahrheitspolitiken lernen, d.h., Hegelisch gesprochen, ihr „Zu-Grunde-Gehen“ für uns „aufheben“ können.

Unterstellen wir ein Kontinuum, das die Ereignisse von 1789, 1848, 1917 und 1968 umfasst, dann heißt das nichts anderes, als ein Kontinuum der explizit 1789 eröffneten politischen Revolution, der explizit 1848 und 1917 eröffneten sozialen Revolution und der explizit 1968 eröffneten kulturellen Revolution zu unterstellen. Natürlich ist das so neu nicht und mehrfach schon getan worden: meist aber mit dem Versuch einer Hierarchisierung verbunden. Liberale Politiken haben stets den paradigmatischen Charakter der politischen Revolution behauptet und ihr die Problematiken des Sozialen und des Kulturellen definitiv untergeordnet. Der Marxismus hat den paradigmatischen Charakter der sozialen Revolution behauptet und die Problematiken des Politischen und des Kulturellen zu Nebenwidersprüchen herabgesetzt. Der Poststrukturalismus und manche Feminismen haben den paradigmatischen Charakter der kulturellen Revolution behauptet und die Problematiken des Politischen und des Sozialen zumindest tendenziell auf Fragen der Lebensweisen, d.h. auf kulturelle Fragen reduziert. Sieht man sich die Ereignishaftigkeiten der letzten Jahrzehnte und den in ihnen eröffneten Modus des Politischen näher an, zeigt sich, dass Fragen der politischen, der sozialen und der kulturellen Revolution dort oft gleichzeitig gestellt und ineinander übersetzt werden. Blickt man von dort auf die früheren Modi des Politischen zurück, zeigt sich, dass das auch dort schon der Fall war, doch nur unzureichend zur Sprache kam.

Im Versuch einer theoretischen Rückgewinnung des sowohl in der Welt wie im Marxismus verlorengegangenen Politischen führt mich das auf drei abschließende Punkte:

 

1.) Wenn Ereignisse und Ereignishaftigkeiten ein Subjekt brauchen, um Ereignisse einer Konstellation und Ereignisse einer Wahrheit sein zu können, und wenn Subjekte umgekehrt ihr Ereignis oder ihre Ereignishaftigkeit brauchen, um Subjekte einer Ereigniskonstellation und ihrer Wahrheit werden zu können, dann gibt es oder besser noch: dann muss es an den Rändern und Grenzen jeweils zweier Welten das geben, was in der Geschichte der Philosophie Freiheit bzw. „Kausalität aus Freiheit“ (Kant) genannt wird. Diese Freiheit kann zunächst ganz elementar gefasst werden als das, was in keiner Berechnung aufgeht, weil es unberechenbar und insoweit auch unbeherrschbar ist: Freiheit eines Wesens, dessen Bestimmung es ist, keine Bestimmung zu haben, zu der es sich nicht frei, d.h. in unvorhergesehener Weise verhalten kann.

Ich gehe mit dieser Bestimmung erneut über die von Foucault und Deleuze bis auf Badiou reichende Tradition hinaus, die die Leere zwischen zwei Welten primär als Leere der Kontingenz, nicht als Leere der Freiheit gefasst hat. Deren höchste Bestimmungen liegt dann aber darin, Freiheit zur Bejahung einer Wahrheit zu sein. Nach der Logik des Ereignisses teilt sich diese Freiheit in zwei Momente. Ihr erstes Moment ist das Sichergeben der Ereignisse und Ereignishaftigkeiten als einer Gabe von Wahrheit. Ihr zweites Moment ist das Subjekt, das diese Gabe annimmt, indem es auf sie antwortet und sie zu seiner Gabe macht: zu seiner ganz besonderen Begabung. Definitorisch heißt das: Ein Subjekt ist ein lebendiges, arbeitendes und sprechendes Wesen, das zur freien Bejahung einer Wahrheit begabt ist. Konsequenterweise schließt diese Freiheit ein, sich dieser Wahrheit verschließen zu können: sie verkennen, missachten, verleugnen, verraten zu können.

Als solches erst ist ein Subjekt ein Wesen, das zum Politischen begabt ist: Frei, die Grenzen zurückzuweisen, die ihm in und von seiner Welt auferlegt werden, frei aber auch, sich diesen Grenzen und damit freiwilliger Knechtschaft zu fügen.

2.) Die Bedeutung des von Hardt/Negri ins Spiel gebrachten Begriffs der „Multitude“ liegt dann darin, das Subjekt des Politischen zugleich als Subjekt einer politischen, einer sozialen und einer kulturellen Revolution zu verstehen. Deshalb sagen Hardt/Negri immer wieder, dass der Begriff der Multitude ein Klassenbegriff sei, der notwendig mehr als nur ein Klassenbegriff sei. Deshalb sagen sie immer wieder, dass die Multituden stets Multituden von Singularitäten, die Singularitäten aber stets Singularitäten einer Multitude seien.

Mit einer Politik der Freiheit hat das insoweit zu tun, als Hardt/Negri genau besehen nicht von Multituden und Singularitäten, sondern von den Prozessen ihrer Generation und Korruption sprechen, von ihrer Bildung und ihrem Zerfall: Prozesse, die man ohne die Geschichte der politischen Ökonomie, der Staaten und der Lebensweisen ebenso wenig verstehen kann wie ohne eine Phänomenologie des subjektiven Faktors im Widerstreit seiner Wirklichkeiten und Möglichkeiten.

3.) Étienne Balibar hat seine Fassung der politischen Differenz als Differenz von Aufstand und Verfassung immer an den Problembegriff der Staatsbürger_innenschaft gebunden, die von beiden gezeichnet ist: von ereignishaften Aufständen wie von ihrem Niederschlag und ihrer Stillstellung in verfassungsmäßiger Ordnung. Er hat dies stets im Bezug auf die aktuellen Kämpfe um eine transnationale, europäische, in der Tendenz globale Staatsbürger_innenschaft getan: Kämpfe, die offensichtlich zugleich politische, soziale und kulturelle Kämpfe sind. Den subjektiven Kern dieser Kämpfe macht er in der Figur des Menschen-und-Bürgers aus, die schon im Ereignis ihrer Proklamation 1789 eine unvollständige Figur war und auf immer eine unvollständige Figur bleiben wird. Im Augenblick der Proklamation allein den französischen Männern bürgerlichen Standes zugesprochen, wurde sie im selben Moment schon von den Frauen, den Arbeiter_innen und den Kolonialisierten für sich beansprucht: so wie dies aktuell die Migrant_innen tun. Wer seinen Anteil an der Staatsbürger_innenschaft einklagt, der klagt, so Balibar, seinen Anteil an der Gleichheit-und-Freiheit als der Wahrheit ein, um die es im Politischen geht.

Der Marxismus hat solche Überlegungen meist zu überflüssigen Spekulationen unüberwundenen Idealismus herabgesetzt. Politik war für ihn selten eine Sache der Freiheit zur Wahrheit, meist eine solche der Interessen und der Ideologien. Es ist ihm deshalb auch nie gelungen, den hermeneutisch-transzendentalen Entwurf des Proletariats als der Klasse, die ihrer eigensten Wahrheit, d.h. Möglichkeit nach mit allen Klassen Schluss macht, mit der real existierenden Arbeiter_innenklasse zusammenzubringen, die diese Wahrheit und Möglichkeit nie zu der ihren machen wollte.

Marx selbst war da deutlich vorsichtiger: nicht immer, aber doch an zentralen Stellen. Eine dieser Stellen findet sich in den Thesen über Feuerbach, präzise: in der ersten dieser Thesen. Sie handelt bekanntlich vom „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus“ und macht ihn daran fest, dass im bisherigen Materialismus „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.“ Im nächsten Satz hält Marx dann ausdrücklich fest, dass die „tätige Seite“ deshalb „im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus (…) entwickelt“ worden sei: wenn auch nur in „abstrakter“ Weise, weil der Idealismus „natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt.“ Heute neu gelesen, erweist sich dieser Satz als ein postmarxistischer Satz – als ein Satz, der immer wieder neu zu lesen bleibt, soll das Politische zurück gewonnen werden. Das schlie§t dann allerdings ein, über Marx hinaus, die Veränderung der Welt nicht mehr von ihrer Interpretation zu trennen.

[1] Karl Marx, Das Kapital 1.1, Berlin: 2009

[2] Jean-Francois Lyotard 1996: 26

[3] Brief Engels an Lafargue, August 1898, MEW 37: 450

[4] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes: 18f.

[5] Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 153.