Für eine kommende Gerechtigkeit

Stephan Moebius, Alfred Schobert und Thomas Seibert: Gemeinsame Danksagung anlässlich des Todes von Jacques Derrida.

Alfred Schobert

Im November 2004 bat uns die Zeitung analyse und kritik  um die Gestaltung eines Schwerpunkts zum Tod Jacques Derridas. Unsere Texte des Dankes und der Treue ergänzten wir um eines der letzten Interviews, das der Philosoph gegeben hat. Ich publiziere sie hier nicht nur, weil ich Derrida nach wie vor für unumgänglich halte, sondern auch zum Gedenken an Alfred Schobert, der genau zwei Jahre später, am 18. November 2006, völlig überraschend verstorben ist. Sein Text findet sich hier nach dem von Stephan Moebius und vor meinem eigenen, den Abschluss bildet das Interview. 

Jacques Derrida ist tot. Das schreibt sich so leicht, wie es sich gleichzeitig nur schwer denken lässt. Nicht einfach, weil „einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts“ starb, wie es in vielen der vielen Nachrufe auf ihn hieß. Eher, weil einer starb, der in seinem Denken in und wider die Zeit, in der er lebte, an die Grenzen ging und sich von eben diesem Grenzort nicht vertreiben ließ – durch Denunziation und Ignoranz ebenso wenig wie dadurch, dass es zwischenzeitlich zu einer akademischen Mode geworden war, Derrida zu lesen. Einer, dessen Denken stets performativ, also intervenierend, also politisch war. Diesem zwar philosophisch schreibenden, die Philosophie jedoch überschreitenden und eben darin immer wieder neu politisch werdenden Derrida widmen wir unseren Schwerpunkt: Stephan Moebius rekapituliert wichtige Stationen in Derridas Biographie; im Gespräch mit Lieven de Cauter äußert sich Derrida selbst zu seiner Kritik plantearischer Hegemonie und seinem Verständnis des Politischen als „Messianismus ohne Religion“; dem Ereignis, dem Kommendem, der Zu-Kunft vor dem Horizont der von Derrida angerufenen „Neuen Internationale“ geht Thomas Seibert nach und Alfred Schobert skizziert, was (Marx) lesen lernen mit und nach Derrida heißen könnte.

 


Stephan Moebius

Jacques Derrida. Ein Leben, ein Überleben, der Tod.

In der Grabrede für seinen Freund Emmanuel Lévinas im Jahr 1995 bemerkte Jacques Derrida, der Tod sei zunächst einmal nicht so sehr Vernichtung, Nicht-Sein oder Nichts, sondern vielmehr für den Überlebenden eine gewisse Erfahrung der »Nicht-Antwort«. Nun ist es Derrida selbst, der uns nicht mehr antworten kann. Lange Zeit wußte man von seiner Krankheit, dennoch wagte man nicht an den Augenblick zu denken, Derrida adieu sagen zu müssen. Als am 8. Oktober 2004 die Nachricht von seinem Tod eintraf, war man darauf gefaßt, aber in diesem Augenblick selbst nichtsdestoweniger überrascht, betroffen und ohne Antwort.

Sein Denken vom „Tod als Möglichkeit des Unmöglichen“ ist bei ihm in den letzten Jahren mit einer rückhaltlosen „Bejahung des Lebens und des Überlebens“ verbunden gewesen. In seinem letzten Interview mit Le Monde offenbarte er, seine Praxis der Dekonstruktion stehe immer auf der Seite der Bejahung und der Behauptung des Lebens. Derrida zog das Leben und das Überleben, das Leben in seiner größtmöglichen Intensität, dem Tod vor. Leben ist Überleben. „Genießen und den lauernden Tod beklagen, daß ist für mich ein und dasselbe“.

Derrida selbst war ein Überlebender. Er drückte dies in zahlreichen Texten für seine verstorbenen Freunde aus: Roland Barthes, Paul de Man, Emmanuel Lévinas, Jean-François Lyotard, Hans-Georg Gadamer, Gilles Deleuze oder Maurice Blanchot. Seine Trauerreden bezeugen Derridas unendliche Aufmerksamkeit, seine tief empfundene Freundschaft und Generosität, die auch akademische Grabenkämpfe zu überbrücken wußte. Er hielt ihnen, mit denen er ein gemeinsames Erbe hütete, bis zuletzt die Treue. Dabei war er sich durchaus bewußt, daß er in dieser Treue und in der Gemeinsamkeit des Denkens mit Foucault, Deleuze oder etwa Althusser auch die absolute Einzigartigkeit des Anderen nicht verraten darf. Niemals nahm Derrida das Wort Gemeinschaft in den Mund, obwohl oder gerade weil er sich politisch einer neuen Internationalen verpflichtete. Die Schwierigkeiten, „Wir“ zu sagen und in einer gemeinschaftlichen Identifizierung aufzugehen, ergaben sich nicht nur wegen seiner an Lévinas’ Denken orientierten unendlichen Achtung vor der Singularität des Anderen. Diese Vorsicht rührte auch von Erfahrungen aus seiner Kindheit her.

Derrida wurde am 15. Juli 1930 im algerischen El-Biar geboren. Aufgrund von Erlassen des Vichy-Regimes verwies man ihn 1942 als „ortsansässigen Juden“ von der Schule. Derrida wurde daraufhin auf das Lycée Emile-Maupas geschickt, wo die der öffentlichen Ämter enthobenen jüdischen Lehrer weiter unterrichteten. Derrida fühlte sich jedoch auch hier fremd am Platz und schwänzte nahezu ein Jahr lang die Schule. Es ist diese Zeit, in der sich Derridas besonderes Gespür für Rassismen und seine Sensibilität für Antisemitismus herausbildete, aber auch seine Abneigung gegenüber jedem militanten Charakter von Identitätszugehörigkeit, sei es auch eine jüdische. Derridas gesamtes Werk drückt dieses Unbehagen an der Identifikation aus.

Derrida träumte in seiner Jugend davon, ein professioneller Fußballspieler zu werden. Im Juni 1947 fiel er durchs baccalauréat und veröffentlichte Gedichte in kleineren nordafrikanischen Zeitschriften. Ende der vierziger Jahre widmete er sich der Lektüre Heideggers und Kierkegaards. Seine erste Aufnahmeprüfung für die renommierte Ecole normale supérieure bestand er nicht. Er litt daraufhin an Nervenzusammenbrüchen und Schlafstörungen. Zu Beginn der fünfziger Jahre schaffte er die Aufnahme und befreundete sich gleich am ersten Tag mit Louis Althusser und einige Zeit später mit Michel Foucault. 1956/57 erhielt Derrida ein Stipendium, um an die Universität Havard zu gehen. In Boston heiratete er im Juni 1957 Marguerite Aucouturier, mit der er zusammen zwei Kinder, Pierre (geb. 1963) und Jean (geb. 1967), hat. Ende der fünfziger Jahre kam er zurück nach Algerien und leistete dort seinen Militärdienst ab: als Soldat in Zivil unterrichtete er junge Algerier in Französisch und Englisch. Er traf sich zu dieser Zeit in Algier  auch häufiger mit Pierre Bourdieu.

Zu Beginn der sechziger Jahre lehrte Derrida an der Sorbonne und war Assistent der Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard, Georges Canguilhem und der Philosophen Paul Ricœur und Jean Wahl. 1967 war ein entscheidendes Jahr für ihn: Er hielt er vor der Société française de philosophie seinen berühmten Vortrag „Die différance“ und veröffentlichte seine drei Hauptwerke „Die Grammatologie“, „Die Schrift und die Differenz“ und „Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls“. Alle drei Bücher enthalten bereits in Ansätzen die zentralen Aspekte seines Denkens.

Er pflegte in den siebziger Jahren enge Kontakte zur Gruppe um die Zeitschrift Tel Quel, die mit Hilfe der Derridaschen Dekonstruktion die überkommenen Traditionen der Literaturtheorie zu überwinden erhoffte. Zu dieser Zeit erfolgte vor allem im Ausland eine intensive Aufnahme seiner Schriften, Derrida lehrte in den USA und erhielt zahlreiche Preise und Ehrendoktortitel. Einzig in Frankreich wurde ihm die Anerkennung verweigert. In den folgenden Jahren verbreitete sich aber sein Ruf auch dort und wurde insbesondere bekannt durch das von seinen Freunden Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy 1980 organisierte Kolloquium „A partir du travail de Jacques Derrida“ in Cerisy.

1981 gründete Derrida mit Jean-Pierre Vernant die Gesellschaft Jan Hus, die sich für verfolgte tschechische Intellektuelle einsetzte. Als er in Prag ein geheimes Seminar anregte, wurde er mehrer Tage verfolgt und schließlich wegen angeblichen Drogenhandels verhaftet. Nach Interventionen von Mitterand und Foucault wurde er wieder freigelassen. Derrida gründete 1983 das Collège international de philosophie und eine kulturelle Stiftung gegen Apartheid. Dieses frühe Engagement wird zumeist übersehen. Deutlich erkennbar wurde sein politischer Einsatz schließlich in den neunziger Jahren, allen voran durch die Veröffentlichung von „Politiken der Freundschaft“ (2000) und „Marx’ Gespenster“ (1993), ein Buch, das sich streckenweise wie ein sozial-politisches Manifest ausnimmt. Sein Engagement galt den Dringlichkeiten einer Globalisierungskritik und einer „anderen Globalisierung“ („alter-mondialisation“). Ebenso wurden für Derrida immer mehr die Fragen der Demokratie, der Nation, der „Rasse“, der Gerechtigkeit, der Religion und der Verantwortung vor dem Anderen wichtiger. Einer seiner letzten Wortmeldungen geschah angesichts der Ereignisse vom 11. September und des Irak-Kriegs.

Derrida kritisierte die Reaktion der USA. Bezeugt ist diese Kritik vor allem in seiner Rede zur Verleihung des Adorno-Preises 2002 und in einem seiner neuesten Bücher mit dem Titel „Schurken“; in dem er gegen die Propagandamaschine des unendlichen Krieges gegen den Terrorismus und die „Schurkenstaaten“ angeht.

Derrida verkörperte einen der letzten großen Intellektuellen unserer Zeit, der versuchte, die offiziellen Diskurse zu dekonstruieren und sich nicht scheute, dafür auch mit ehemaligen Gegnern wie Jürgen Habermas Bündnisse einzugehen.

In seinem letzten Interview fragte sich Derrida, wie sein Werk nach seinem Tod rezipiert werde: Einerseits habe er das Gefühl, dass man noch gar nicht begonnen habe, ihn wirklich zu lesen, Andererseits könne es gut sein, so Derrida, dass zwei Wochen nach seinem Tod nichts mehr bleiben werde, außer dem, was an Pflichtexemplaren in Bibliotheken aufbewahrt werde. Nach Derridas Tod stellt sich die Frage: Wie wird sein Denken überleben? Wie sollen wir auf seinen Tod antworten?

„Gegen das Vergessen“, so scheint mir, hätten wir eine erste Pflicht: Denken wir an die Opfer, geben wir ihnen die Stimme zurück, die sie verloren haben. Denken wir zuerst an das Schicksal – jedes Mal einmalig und unersetzbar – derer, denen man das Recht auf Rede und Zeugnis abgesprochen hat und die in ihrem Leben Ungerechtigkeit zu erleiden hatten. Denken wir an die Maschine, die sie zerquetscht hat, an die Schande bestimmter Individuen, bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, bestimmter staatlicher und polizeilicher Apparate. Jedem der Opfer, immer als einzelnes, allen jenen „Verschwundenen“ müssen wir jene zusätzliche Gewalt ersparen, die in Unwürdigkeit, Verschüttetwerden des Namens oder Entstellung der Erinnerung besteht.Doch eine andere Pflicht ist, so glaube ich, mit der ersten untrennbar verbunden. Gleichzeitig mit der Wiedergutmachung des Unrechts und der Rettung des Andenkens stehen wir vor der Aufgabe, eine analytische und politische kritische Arbeit zu leisten. Im Allgemeinen und dieses Mal jenseits der beispielhaften Einzigartigkeiten. Die hier in Frage kommenden Verbrechen, die Fälle von Zensur, die Amnesien und Verdrängungen, die Manipulationen und Verdrehungen der Archive, all dies kennzeichnet einen bestimmten Zustand der Zivilgesellschaft, des Rechts und des Staates, in denen wir leben. Als Bürger (citoyens) dieses Staates oder Weltbürger (citoyens du monde) jenseits der Staatsbürgerschaft (citoyenneté) und des Nationalstaates müssen wir alles tun, um dem Unerträgliche ein Ende zu setzen. Dabei geht es nicht nur um die Vergangenheit, um Erinnerung und Vergessen. Wir werden nicht länger akzeptieren, in einer Welt zu leben, die nicht nur illegale Gewaltakte duldet sondern auch der Erinnerung Gewalt antut und die Amnesie ihrer Untaten organisiert. Unser kritisches Zeugnis muss den öffentlichen Raum, das Recht, die Polizei, die Politik des Archivs, der Medien und der lebendigen Erinnerung verändern. Und es muss dies tun, indem es zugleich die nationalen Grenzen passiert.(Unbetitelte „Erklärung“ Derridas beim Kolloquium „17. und 18. Oktober 1961: Angeordnete Massaker an Algeriern?“ am 21. Oktober 2000; Titel der Red.; Übersetzung: Alfred Schobert)

Alfred Schobert

Derridas Gespenster. Vom Lesen, vom Leben, von einem Traum in Europa

Ein Nachruf kann dies nicht sein, soll es nicht sein. Nur eine Einladung zur Lektüre. Nachdem Jacques Derrida so viele Grabreden gehalten und Nachrufe geschrieben hatte, die während seines letzten Lebensjahres gesammelt als Buch erschienen[1], verfügte er, dass bei seiner Beerdigung keine Reden gehalten werden sollten. Um so mehr Nachrufe erschienen weltweit in den Feuilletons. Darunter gehässige (so in der New York Times), die es durchaus mit den übelsten Polemiken aufnehmen konnten, deren Gegenstand und Opfer Derrida zu Lebzeiten war. Auch in Publikationen der deutschen Linken, die häufig über den Un/Kenntnisstand des Feuilletons der 80er Jahre nicht hinauskamen, deren Unfug aber noch übertrafen.

In bestimmten Teilen der deutschen Linken, insbesondere der (verbal)radikalen, kursierte und kursiert Derrida vor allem als Gerüchte über einen maghrebinischen Juden. Doch sollen hier nicht allzu viele Worte verloren werden über diejenigen, die Derrida mal unter die Rubrik „Philosophie für Friedhofsschänder“ brachten.[2] Vom Lesen und vom Leben sei die Rede, von Marx und von Jerusalem, ausgehend von einem Buch Derridas (unter mehreren Dutzend zwischen 1961 und 2004 publizierten Büchern), von Marx‘ Gespenster, was bedeutet, von mehr als nur einem Buch, von mehr als nur einem Buch zu reden.

Lesen lernen

Derridas Spectres de Marx erschien zur Un-Zeit, 1993, also zur rechten Zeit. Diese Bekundung von respect (Anagramm von spectre) für Marx, diese Erklärung der Bewunderung für Marx (genauer: für einige seiner Geister), sie kam für viele überraschend. Wer bei der Arbeit Derridas in den Jahrzehnten zuvor etwas genauer hingesehen hatte, Texte gelesen hatte, konnte so überrascht nicht sein, ja konnte Erwartungen endlich erfüllt sehen. Denn Marx war zuvor abwesend anwesend in den Texten Derridas. Es gab etliche explizite Hinweise in den Texten und ein strategisch bestimmtes sprechendes Schweigen über Marx und Marxismus (nebst Leninismus), es gab schließlich die Kooperation mit der Zeitschrift Tel Quel um Philippe Sollers, die Derrida beendete, als die Sollers-Gruppe ideologisch und polit-touristisch nach China reiste. Wer von der Art daher mit Marx‘ Gespenster alte Erwartungen endlich erfüllt sah, konnte aber zugleich, wie sie erfüllt wurden, doch noch überrascht werden. Angefangen mit der Widmung an den ermordeten südafrikanischen Kommunisten Chris Hani war das Buch ein Aufschrei gegen die neoliberale Welt-Un-Ordnung, ein Schrei nach Gerechtigkeit (geschieden vom Recht), eine Anklage der hegemonialen Ideologie und eine Kritik ihrer selbstgefälligen Lautsprecher, in vorderster Front Francis Fukuyama mit seiner damals populären These vom „Ende der Geschichte“, ein Aufruf zu einer „Neuen Internationalen“ – und ein erster Aufriss (nicht mehr, nicht weniger) mikrologischer Arbeit am Marxschen Text, der Beginn einer feinen und so geduldigen wie Geduld erfordernden Lektüre des Marxschen Werkes.

Daher ist Marx‘ Gespenster kein leicht zu konsumierendes Buch. Vieles erschließt sich erst bei mehrmaliger Lektüre, in neuen Kontexten, begleitet von anderer Lektüre (aber gilt dies nicht für jeden Text, der der Lektüre wert ist?). Derrida erfüllt auf seine Weise Louis Althussers Ankündigung, dass „unsere Zeit in der geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Kultur einmal als die Zeit erscheinen könnte, die durch eine der dramatischsten und mühevollsten Anstrengungen bestimmt wurde: durch die Entdeckung und das bewußte Erlernen des Sinnes ‚einfachster’ existentieller Gesten wie Sehen, Hören, Sprechen, Lesen“.[3]

Hier nun einige der Motive, Themen und Fragen, die in Marx‘ Gespenster wie in einem Kunstwerk ineinander verwoben sind, als mögliche Zugänge in die Textur dieses Buches, dessen Schönheit, Witz und Einsichten sich erst in einem Prozess von Annäherung, ja mikrologischer Lektüre, und Abstandnahme, die wieder den Blick auf’s Ganze schafft, erkennen lassen.

Zu Leben lernen, zu leben lehren?

„Je voudrais apprendre à vivre enfin“, heißt es, gezielt doppeldeutig formuliert, im „Auftakt“ des Buches: „Ich möchte endlich zu leben lernen, zu leben lehren.“ Gegen Ende seines Lebens, in einem im März 2004 geführten Interview, ist Derrida darauf ein weiteres Mal[4] zurückgekommen, beinahe ungestüm, mit einer Empörung und Kraft, die man gemeinhin der Jugend zuschreibt. Das Leben wird so kurz gewesen, er wird so jung, 74jährig, gestorben sein:

„Nein, ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müsste heißen zu sterben lernen, zu lernen, der absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch Erlösung – weder für sich selbst noch für den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren. Seit Platon lautet die philosophische Verfügung: Philosophieren heißt sterben lernen.

Ich glaube an diese Wahrheit, ohne mich ihr zu ergeben. Immer weniger. Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren. […] Bezüglich der Weisheit des Zu-sterben-wissens (sagesse du savoir-mourir) bleibe ich unerziehbar. Ich habe diesbezüglich weder etwas gelernt noch erworben.“[5] Eingerückt in dieses Bekenntnis des Unerziehbaren, in einer seiner berühmten Klammern, nimmt Derrida eine aktuelle politische Verallgemeinerung vor: Wir seien alle „Überlebende mit einer Frist“. Vom in Marx‘ Gespenster entwickelten weltpolitischen Standpunkt aus liege der „Nachdruck vor allem auf den Milliarden von Lebenden […], denen außer den elementaren ‚Menschenrechten’, die 200 Jahre alt sind und beständig angereichert werden, zunächst einmal das Recht auf ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden, verweigert wird.“[6]

Im „Auftakt“ von Marx‘ Gespenster führt Derrida die Frage des Leben-Lernens zu Gespenstern und dem Gespenstigen. „Irrationalismus“, mag man da vielleicht schreien, „Obskurantismus“ schimpfen. Aber man sollte mindestens die folgenden Seiten dieser einleitenden Passage zu lesen, in denen das auf den ersten Blick arg befremdliche Reden vom „Mitsein mit den Gespenstern“ als eine „Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen“ präzisiert wird. Derrida spricht „von Gespenstern“ in Sinne von „gewissen anderen, die nicht gegenwärtig sind, nicht gegenwärtig lebend, weder für uns noch in uns, noch außer uns“, und er tut dies „im Namen der Gerechtigkeit“. Da geht es nicht um Gespenster aus Schauergeschichten, sondern um Gerechtigkeit zwischen den Generationen, Gerechtigkeit gegenüber den Vergangenen, Gerechtigkeit gegenüber den noch Kommenden. Gerade angesichts der öffentlichen Debatten in Deutschland bleibt zu erkennen, um welchen Einsatz es sich handelt: emphatisch gesprochen das Eingedenken der Opfer, im politischen Jargon „Vergangenheitsbewältigung“ und „Erinnerungskultur“.

„Keine Gerechtigkeit“, so Derrida, „scheint möglich oder denkbar ohne das Prinzip einiger Verantwortlichkeit jenseits der lebendigen Gegenwart, in dem, was die lebendige Gegenwart zerteilt, vor den Gespenstern jener, die noch nicht geboren oder schon gestorben sind, seien sie nun Opfer oder nicht von Kriegen, von politischer oder anderer Gewalt, von nationalistischer, rassistischer, kolonialistischer, sexistischer oder sonstiger Vernichtung, von Unterdrückungsmaßnahmen des imperialistischen Kapitalismus oder irgendeiner Form von Totalitarismus.“ Damit ist sowohl ein beständiges Thema Derridas seit den 60er Jahren angesprochen, nämlich Gegenwart nicht als Selbstpräsenz zu verstehen, die „Ungleichzeitigkeit der lebendigen Gegenwart mit sich selbst“ aufzuzeigen; hier wird diese philosophische Frage nach der Zeit allerdings ethisch artikuliert, mit der Frage nach Gerechtigkeit verknüpft. Mit wiederholten Aufnahmen von Hamlets Ausruf, die Zeit sei out of joint („aus den Fugen“) in diversen Übersetzungen, die auch die ethisch-politische Modulation dieses Ausdrucks, nämlich den moralischen Verfall und die Zerstörung des Gemeinwesens verdeutlichen, zieht sich dies als ein roter Faden unter mehreren durch die kunstvolle Textur des Buches.

Eine praktische Umsetzung dieser Reflexion im politischen Diskurs lieferte Derrida im Oktober 2000 mit seiner Erklärung beim Kolloquium 17 et 18 octobre 1961: massacres d’Algériens sur ordonnance? (siehe Kasten), die einen bis heute neuralgischen Punkt in der politischen Kultur Frankreichs trifft. Bis heute laboriert Frankreich am Algerienkrieg, dessen Beginn sich soeben zum 50. Mal jährte. Gerechtigkeit für die zahllosen im Oktober 1961 mitten in Paris von der Polizei unter der Verantwortung eines vormaligen Nazi-Kollaborateurs massakrierten Algerier aus den Vorstädten, die bei ihrer Demonstration von der französischen Linken allein gelassen worden waren, heißt erstens, jedes einzelnen Opfers als Opfer zu gedenken. Zweitens heißt es, die individuellen und institutionellen Verantwortlichkeiten zu benennen und die kritische Analyse des Ereignisses in den öffentlichen Raum einzubringen.

„Marx’ Gespenster“ meint nicht nur die „Gespenster“, die Marx in seinen Texten zu jagen und auszutreiben pflegte, sondern auch die gespenstige Anwesenheit von Marx in unserer Zeit. Der hegemoniale Diskurs ergeht sich weltweit in der Wiederholung des Dogmas, Marx sei tot. Doch in dem „Augenblick, wo eine neue, weltweite Unordnung ihren Neo-Kapitalismus und ihren Neo-Liberalismus zu installieren versucht, gelingt es keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen.“[7] Um so eifriger wird die Gespensterjagd auf Marx und den Marxismus betrieben, doch „es handelt sich oft darum, dort den Tod vorgeblich nur festzustellen, wo die Sterbeurkunde das Performativ einer Kriegserklärung ist oder die ohnmächtige Gebärde, der unruhige Traum einer Tötung.“[8] Dagegen will Derrida einen Teil des Marxschen Erbes bewahren und transformieren, einem Geist des Marxismus und dem Versprechen des Ereignis Marx treu bleiben. Am Versprechen Marx‘ festzuhalten bedeutet für Derrida, am Messianischen (zu unterscheiden vom Messianismus) festzuhalten, das von Geschichtsteleologie und Eschatologie zu trennen sei.[9] Dies unterscheidet sein Vorgehen vom Kreis um Althusser.[10]

Der Begriff des Messianischen verweist auf Fragen der Religion, ohne dass dies hieße, Derridas Diskurs sei ein religiöser oder theologischer.[11] Allerdings unterstellt Derrida einen untergründigen Zusammenhang von Politik und Religion, dessen aktuelle Explosivkraft in Fundamentalismen und Integrismen nicht erst seit dem 11. September 2001 offensichtlich ist. In Marx‘ Gespenster skizziert Derrida die „symptomatische Figur Jerusalems“[12] und diagnostiziert einen „Krieg um die ‚Aneignung von Jerusalem’“, in dem die drei Monotheismen des Judentums, des Islams und des Christentums „alle Kräfte der Welt und die ganze ‚Weltordnung’ für den gnadenlosen Krieg […] mobilisieren“.[13] Es gebe, so griff Derrida dies in Zeiten der Terror-Krieges auf, „heutzutage zwei Dinge, die nicht deterritorialisiert und virtualisiert werden können: Jerusalem (niemand will virtuelles Jerusalem, man will den wirklichen Grund und Boden) und Öl“.[14]

Jerusalem, der „Krieg um die ‚Aneignung von Jerusalem’“ magnetisiert auch Derridas quasi-testamentarischen Traum von Europa, den er beim Fest zum 50. Geburtstag von Le Monde diplomatique am 8. Mai 2004 skizzierte. Wovon er erst träumte, das mögen manche gerne als Gegebenheit missverstehen, um freie Bahn für ihren rabiaten Antizionismus zu haben. Derrida sprach aber nur von seiner Hoffnung: „Ein Europa, in dem man die legitimen Bestrebungen des palästinensischen Volkes, seine Rechte, sein Land und einen Staat zu erlangen, unterstützen könnte, ohne dabei die Selbstmordattentate und die antisemitische Propaganda gutzuheißen, die in der arabischen Welt so oft […] die mönströsen Protokolle der Weisen von Zion wiederbelebt. Ein Europa, in dem man gleichzeitig über den Anstieg des Antisemitismus und der Islamophobie beunruhigt sein könnte. […] Ein Europa schließlich, in dem man die Programme der Herren Bush, Cheney, Wolfowitz und Rumsfeld kritisieren könnte, ohne dabei Nachsicht gegenüber den Schrecken des Regimes Saddam Husseins zu zeigen. Ein Europa, wo man sich ohne Antiamerikanismus, ohne Antiisraelismus und ohne antipalästinensische Islamophobie mit denjenigen Amerikanern, Israelis und Palästinensern verbünden kann, die mutig und häufig viel wachsamer als wir ihre Regierungen oder herrschenden Kräfte ihrer eigenen Länder kritisieren“.[15]

Fußnoten

[1]Jacques Derrida: Chacque fois unique, la fin du monde. Textes présentés par Pascale-Anne Brault et Michael Naas. Paris: Galilée 2003.

[2]Vgl. Joachim Bruhn: Philosophie für Friedhofschänder. Die Modernität des Kapitals, der Präfaschismus der Postmoderne: Über Heidegger, Derrida, Sloterdijk und Konsorten. In: Bahamas H. 30 (1999), S. 28-29.

[3]Louis Althusser: Einleitung: Vom ‚Kapital‘ zur Philosophie von Marx. In: ders./Etienne Balibar: Das Kapital lesen I. Reinbek: Rowohlt 1972, S. 11-93, hier S. 15.

[4]Vgl. Jacques Derrida: H.C. pour la vie, c’est à dire. Paris: Galilée 2002, S. 21 (Vortrag beim Kolloquium Hélène Cixous, croisées d’une oeuvre 1998 in Cerisy-la-Salle) u. den Schluss des Dialogs zwischen Hélène Cixous und Derrida im Magazine littéraire H. 430 (April 2004).

[5]Jacques Derrida: „Je suis en guerre contre moi-même“ [Interview mit Jean Birnbaum]. In: Le Monde 12.10.2004, Beilage S. VI-VII, hier S. VI.

[6]Ebd.

[7]Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale [frz. zuerst 1993]. Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 67.

[8]Marx‘ Gespenster, S. 83.

[9]Vgl. dazu auch Jacques Derrida: Marx & Sons. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 78-91. Messianismus: Glaube an einen verheißenen Messias. Geschichtsteleologie: Lehre, nach der die Geschichte von sich aus zweck- und zielgerichtet verlaufe, von grch. telos, Ziel, Zweck. Eschatologie: Lehre vom Ende der alten und dem Anbruch einer neuen Welt, von grch. eschaton, das Äußerste, das Letzte.

[10]Vgl. Marx‘ Gespenster, S. 145.

[11]Das behaupten auch nicht die zahlreichen Theologen, die sich Derridas Werk annehmen; vgl. einführend in die einschlägige deutschsprachige Debatte Peter Zeillinger/Matthias Fleischer (Hg.): Kreuzungen Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie. Wien: Turia + Kant 2004.

[12]Vgl. Marx‘ Gespenster, S. 263ff.

[13]Ebd., S. 99.

[14]The Three Ages of Jacques Derrida. An interview with the father of deconstruction by Kristine McKenna. In: Los Angeles Weekly 14.11.2002. Derrida legt dies einem nicht namentlich genannten Freund in den Mund.

[15]Jacques Derrida: Une Europe de l’espoir. In: Le Monde diplomatique H. 608 (Nov. 2004), S. 3.


Thomas Seibert

Derrida, die Dekonstruktion, der Marxismus

So kurz nach seinem Tod über Jacques Derrida zu schreiben, findet einen ersten Anhalt immerhin darin, dass sich Derrida selbst wiederholt zum Tod, zum Tod anderer und zu seinem eigenen, kommenden Tod geäußert hat, zuletzt im August dieses Jahres, im Interview mit Le Monde: „Ich lasse ein Stück Papier da, ich gehe, ich sterbe.“

Er hat über den Tod seiner engsten Weggefährten gesprochen, die alle vor ihm starben, ihn als ihren Letzten zurückließen, er hat zum Tod immer auch als Philosoph und immer wieder als politischer Intellektueller gesprochen. In besonders ergreifender Weise anlässlich der Ermordung des südafrikanischen Kommunisten Chris Hani, 1993, auf einer Konferenz, die unter dem zweideutigen Titel „Whither Marxism?“ stand, was mit „wohin geht der Marxismus?“, aber auch mit „verschwindet der Marxismus?“ übersetzt werden kann. In diesem Nachruf besteht Derrida darauf, dass das Leben wie der Tod eines jeden Menschen zu „einzig“ sind, um darüber in „einer Rhetorik der Fahne oder des Martyriums“ sprechen zu dürfen, auch wenn das schon hunderte, ja tausende Male getan worden ist und immer wieder getan wird. Dann aber schreibt er: „Und dennoch. Und dennoch, dies im Gedächtnis behaltend (…) erinnere ich daran, dass es ein Kommunist als solcher gewesen ist, ein Kommunist als Kommunist, der von einem polnischen Emigranten und seinem Komplizen – sie alle die Mörder Chris Hanis – vor wenigen Tagen, am 10. April, getötet wurde. Die Mörder haben selbst erklärt, dass sie es auf einen Kommunisten abgesehen haben (…), genau in dem Moment, in dem er beschloss, sich von neuem einer kommunistischen Minderheitspartei voller innerer Widersprüche zu widmen und auf hohe Ämter im ANC zu verzichten.“ (1) Derrida bittet seine ZuhörerInnen deshalb um die Erlaubnis, seinen Vortrag trotz der eigenen Vorbehalte dem ermordeten Kommunisten Chris Hani als einem Kommunisten widmen zu dürfen.

Den Marxismus radikalisieren?

Als erste Fassung seines noch im selben Jahr veröffentlichten Buchs Marx‘ Gespenster gedenkt dieser Vortrag nicht nur Chris Hanis, sondern der historischen kommunistischen Bewegung und mit ihr des Marxismus. Das Buch bezeugt, was Derrida unter Denken verstand: der Spur von etwas zu folgen, das einem jetzt, wie man so sagt, „zu denken gibt“, obwohl es im Augenblick dieses Denkens nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig, also kein Objekt ist, dessen sich ein denkendes Subjekt in zweifelsfreier Gegenwart vergewissern könnte. Die derart flüchtige Gabe des Zu-Denkenden anzunehmen heißt dann, ihr, der abwesenden, verschwundenen, verschwindenden Sache des Denkens, die Treue zu halten, ihr einen Ort der Ankunft zu bereiten. Derrida hat sein Denken der „Dekonstruktion“ deshalb als Denken der Gastfreundschaft bezeichnet und diese Gastfreundschaft ausdrücklich und gerade dem Marxismus gewährt: „Die Dekonstruktion hat, zumindest in meinen Augen, immer nur Sinn und Interesse gehabt als eine (…) versuchte Radikalisierung des Marxismus.“ Präzisierend schränkt er an derselben Stelle ein: „in der Tradition eines gewissen Marxismus, in einem gewissen Geist des Marxismus.“ Der Einschränkung in Bezug auf den Marxismus folgt per Fußnote die Einschränkung in Bezug auf die Radikalisierung: den Marxismus zu radikalisieren, bedeutet nicht, „noch weiter in die Tiefe der Radikalität, des Fundamentalen oder des Ursprünglichen (Ursache, Prinzip, Arche) fortzuschreiten, noch einen Weg in dieselbe Richtung zu tun.“ Statt dessen will die Dekonstruktion, will Derrida den Marxismus dort radikalisieren, wo sein „Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen (…) Fragen erfordert, (…) die in dem, was die sich marxistisch nennenden Diskurse beherrscht, nicht oder nicht hinreichend ins Werk gesetzt werden.“ (2)

Radikal sein, so Marx selbst, „ist die Sache an der Wurzel (lat. radix, T.S.) fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ (3) Bald schon war sich Marx da nicht mehr ganz so sicher, schien sich ihm „der Mensch“ doch theoretisch wie praktisch im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verlieren. Die Gesellschaft sollte dann aber über ihr eigenes „Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen“, also über das Schema der Wurzel (radix) verfügen – das Schema, man weiß es, von Basis und Überbau. „Basis“ ist ein griechisches Wort und meint den „Ausgangspunkt“ als den im Schritt, im Voranschreiten, im Fortschritt betretenen Boden, also einen Sockel, ein Fundament. Dem Marxismus war die Basis allerdings kein Unbewegtes, in sich Ruhendes, im Gegenteil, sie war der Ausgangspunkt des prozessierenden Widerspruchs, der weltgeschichtlichen Dialektik. Radikal zu sein, an die Wurzel zu gehen hieß, dieser Dialektik zu folgen, sich ihr zu fügen, um sie voranzutreiben. Beides, den Menschen als Wurzel des Menschen und die Basis (und mit ihr den Überbau) als Ausgangspunkt der historischen Dialektik, setzt Derrida einer Befragung, d.h. einer Dekonstruktion aus, um den Marxismus über sich hinauszutreiben, nicht durch eine tiefere Verwurzelung, sondern umgekehrt durch seine Entwurzelung.

Widerspruch und Ereignis, neue Internationale

Etwas einer Befragung auszusetzen kann dazu führen, denken, sagen, schreiben zu müssen, dass es das Befragte gar nicht gibt, jedenfalls so nie gegeben hat oder wenigstens jetzt so nicht mehr gibt, dass es vielleicht „nur“ ein Spuk, ein Gespenst war. Ernst wird das nicht nur, aber doch besonders im Feld der Politik, der politischen Praxis wie der politischen Theorie. Immer wieder hat Derrida unterstrichen, dass die dekonstruktiv-radikalisierende auch eine politische Bewegung ist, eine Bewegung, die zum Bruch mit dem verpflichtet, was in den alten, jetzt hinfälligen Fundamenten des Marxismus verwurzelt war und mit ihnen hinfällig wurde: Klasse, Partei, Staat, Internationale. In seiner den Marxismus radikalisierenden Befragung des Schemas von Basis und Überbau ist Derrida sehr weit gegangen, und er hat dabei – trotz und wegen der „Einzigkeit“ seines Denkens – seine Weggefährten gefunden, die man wie ihn selbst des „Postmodernismus“ oder „Poststrukturalismus“ gerühmt oder verklagt hat: Gilles Deleuze, Michel Foucault, Felix Guattari, Jean-François Lyotard. Mit der Ausnahme Lyotards haben sie alle diesen Ruhm oder diese Klage zurückgewiesen und sich statt dessen, Lyotard eingeschlossen, zu Marx bekannt, mit Derrida wohl präziser: zu einer gewissen Tradition, einem gewissen Geist des Marxismus. Einem Marxismus, der ohne Basis oder jedenfalls ohne einen alles bestimmenden „Grund-“ oder „Hauptwiderspruch“ auszukommen suchte, und der gerade darin – doch wieder ein Wurzel-Wort, ein radikales Wort – seinem „ursprünglichen“ Interesse treu blieb: dem an der radikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Derrida, Deleuze, Foucault, Guattari, Lyotard haben je in ihrer einzigen Weise zu denken versucht, dass und wie radikal umwälzende Praxis sich am „Ereignis“, besser: in einem Gewimmel, einem Würfelspiel von Ereignissen orientieren, zurechtfinden muss, wenn sie nicht länger nur einen ihr vorgegebenen Widerspruch austragen, wenn sie ohne Basis, ohne Wurzel, ohne eine „letzte Instanz“ gewagt werden muss.

Für Derrida ist ein Ereignis das, was jetzt „im Kommen“ ist, dem jetzt die Ankunft zu bereiten, Gastfreundschaft zu gewähren ist: die kommende Demokratie, der kommende Kommunismus. Damit meinte er nicht eine Demokratie oder einen Kommunismus der Zukunft: Utopien haben ihn, wie jede MarxistIn, die sich ernst nimmt, nie interessiert. Denn „im Kommen“ ist nicht, was einst sein könnte, sondern was uns jetzt für sich verpflichtet, uns schon in Verantwortung genommen hat, uns das Versprechen der Gastfreundschaft abverlangt: „Es ist eher eine gewisse emanzipatorische oder messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder metaphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu befreien versuchen kann. Und ein Versprechen muss versprechen, dass es gehalten wird, d.h. es muss versprechen, nicht ,spirituell` oder ,abstrakt` zu bleiben, sondern Ereignisse zu zeitigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation.“ Auch das hat Derrida im praktischen Sinn des Worts politisch gemeint: „Mit der ,Parteiform` oder mit dieser oder jener Form des Staats oder der Internationale zu brechen heißt nicht, auf jede praktische oder effektive Form von Organisation zu verzichten. Genau das Gegenteil ist es, was uns hier am Herzen liegt.“ (4)

Das Ereignis, dem Derrida sich verpflichtet wusste, hat er in Marx‘ Gespenster „neue Internationale“ genannt und seit Seattle gehofft, in den Bewegungen der „Altermondialisation“, den Bewegungen für eine alternative Globalisierung, ihren ersten, vorläufigen Aufbruch erfahren zu dürfen: „ohne Organisation, ohne Partei, ohne Nation, ohne Staat, ohne Eigentum. Der Kommunismus, dem wir später den Beinamen ,die neue Internationale` geben werden.“ (5) Nach Derridas Tod ist dieses „später“ die Zeit unseres Versprechens geworden, zugleich das, was uns jetzt versprochen ist und was wir jetzt zu versprechen genötigt sind. Wem, „uns“, und wer, „wir“?

Anmerkungen:

1) Jacques Derrida, Marx‘ Gespenster, Frankfurt 1996, 7f.

2) ebd., 149, im Zusammenhang 143ff.

3) MEW 1, 337.

4) Marx‘ Gespenster, 144f.

5) ebd., 56.

Literatur

Bücher von Jacques Derrida:

  • Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität’. Frankfurt, 1991
  • Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt, 1992
  • Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-ismen, Post-ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. Berlin, 1997
  • Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. München, 1999
  • Politik der Freundschaft. Frankfurt, 2000
  • Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt, 2003
  • Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung! Berlin, 2003
  • Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt, 1995 (Neuauflage Frankfurt, 2004)
  • Marx & Sons. Frankfurt, 2004-11-12

Über Jacques Derrida:

  • Geoffrey Bennington, Jacques Derrida. Ein Portrait, kommentiert von J. Derrida. Frankfurt, 1994
  • Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Frankfurt, 1997
  • Stephan Moebius, Die Soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Jacques Derrida. Frankfurt/New York, 2003

Das letzte Interview mit Derrida erschien auf deutsch unter dem Titel Das, das Überleben in Lettre International 66, Herbst 2004

Jacques Derrida: Zwei Pflichten „gegen das Vergessen“


Für eine kommende Gerechtigkeit. Derrida über die Krise der Souveränität und Messianismus ohne Religion.

Im April fand in Brüssel das sog. „Brussells Tribunal zur Neuen Imperialen Ordnung” statt. Zur Verhandlung stand der neo-konservative US-Think Tank „Project for A New American Century” (PNAC), dessen Grundsatzerklärung u.a. von Dick Cheney, Donald Rumsfeld and Paul Wolfowitz unterzeichnet wurde. PNAC erstrebt eine planetarische Hegemonie der USA, die u.a. durch die militärische Ausschaltung jeder möglichen Gegenmacht gesichert werden soll. Weil Derrida am Tribunal nicht teilnehmen konnte, lud er dessen Initiator Lieuven de Cauter zum Interview. Wir publizieren Auszüge, in denen Derridas Überlegungen zur Krise der Souveränität ebenso zur Sprache kommen wie die zu einer „messianischen“ Politik der Gerechtigkeit. Wir tun das auch, um zu klären, warum sich Derrida an der von Jürgen Habermas initiierten Aktion europäischer Intellektueller gegen den Irakkrieg beteiligt hat. Derrida wollte einen eigenen Beitrag schreiben, unterzeichnete wegen seiner Erkrankung dann aber nur den Beitrag Habermas’. Anzumerken bleibt, dass das Interview vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen geführt wurde…

Wir haben die Auslassungen nicht gekennzeichnet, der Originaltext findet sich unter http://www.indymedia.be/news/2004/04/83123.php

JD: Weil es gerade heute von außerordentlicher symbolischer Bedeutung und Notwendigkeit ist, die Tradition des Russell Tribunals wiederzubeleben, möchte ich Sie zunächst einmal zum Prinzip Ihrer Initiative beglückwünschen. Ich bin von ihm umso mehr überzeugt, als wir nun schon seit einigen Jahren ein wachsendes Interesse für die Arbeit und Verfassung von Institutionen des internationalen Rechts feststellen, die jenseits nationalstaatlicher Souveränität Urteile über Staatsoberhäupter fällen. Nicht über Staaten als solche, sondern über Staatsoberhäupter, denen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt werden.

Ihr Vorhaben ist ein anderes, doch ist es vom selben Geist belebt. Es geht Ihnen nicht um Verurteilungen und Sanktionen, sondern darum, die Wachsamkeit der BürgerInnen der Welt zu schärfen. Das hat einen hohen symbolischen Wert.

Wichtig ist, zu unterstreichen, dass der Fall, den sie untersuchen werden, nur einer unter vielen ist. Ich stehe dem Projekt der Bush-Administration kritisch gegenüber, dem Angriff auf den Irak und den Umständen, in denen er unilateral zustande kam, trotz der offiziellen Proteste europäischer Staaten und in Verletzung der Regeln der UN und des Sicherheitsrats. Doch trotz meiner Kritik wünsche ich nicht, dass die USA als solche vor Ihrem Tribunal erscheinen müssten. Ich möchte ausdrücklich all’ die Kräfte in den USA hervorheben, die sich der Irakpolitik ebenso entschieden widersetzt haben wie viele hier in Europa. Die Politik Bushs ist nicht die der AmerikanerInnen im allgemeinen, ist nicht einmal die des amerikanischen Staates, sondern ein Phase amerikanischer Politik, die in den nächsten Präsidentschaftswahlen wieder in Frage steht.

Doch kann Anklage erhoben werden gegen ein politisches Projekt, das seinen hegemonialen Zweck offen bekennt und alles unternimmt, ihn zu erreichen. Anklage im Namen des internationalen Rechts und seiner Institutionen, in seinem Geist wie nach seinem Buchstaben. Ich denke an die UN und den Sicherheitsrat, die respektable Institutionen sind, doch deren Strukturen, deren Charta und Verfahren reformiert werden müssen. Und hier plädiere ich für eine radikale Transformation, die auch die UN-Charta in Frage stellt, wegen ihrer Anerkennung der Souveränität der Nationalstaaten und der Unteilbarkeit dieser Souveränität. Denn es gibt einen Widerspruch zwischen dem allgemeinen Respekt für die Menschenrechte, die Teil der Charta sind, und dem Respekt für die Souveränität der Nationalstaaten. Allerdings bestehe ich darauf, dass es um eine Verwandlung, nicht um eine Zerstörung geht, weil ich an den Geist der UN glaube.

LDC: Ja, das ist einer der Gründe, warum wir die juristische Form vermeiden wollen: Es geht uns nicht um Personen, sondern um ein System, um eine systemische Logik. Wir klagen Cheney, Wolfowitz und Rumsfeld an, um den Leuten zu zeigen, dass wir nicht über ein Phantom reden, aber es geht uns um das PNAC. Wir wollen öffentlich machen, dass es das PNAC gibt und dass es wichtig ist, dieses Wissen zu verbreiten.

JD: Eben deshalb werden Sie von der Souveränität, der Krise der Souveränität und der notwendigen Begrenzung und Teilung der Souveränität reden müssen. Ich glaube an die Notwendigkeit einer Dekonstruktion der politischen Theologie der Souveränität durch eine historische philosophische Analyse. Gleichzeitig denke ich nicht, dass Sie für die Beseitigung jeder Souveränität kämpfen müssen, das wäre weder realistisch noch wünschenswert. Es gibt Effekte der Souveränität, die im Kampf gegen bestimmte Mächte oder internationale Machtkonzentrationen politisch nach wie vor nützlich sind. Das hängt von der Situation ab.

LDC: Stellt die Neue Imperiale Ordnung, die sich herausnimmt, „Schurkenstaaten“ zu benennen, nicht einen Ausnahmezustand dar? In Schurken sprechen Sie vom Begriff der Auto-Immunität der Demokratie, davon, dass die Demokratie in kritischen Augenblicken glaubt, sich selbst aufheben zu müssen, um sich schützen zu können. Das ist es, was in den USA geschieht, in ihrer inneren wie der äußeren Politik.

JD: Wie Carl Schmitt – dem ich äußerst kritisch gegenüberstehe – gesagt hat, ist souverän, wer den Ausnahmezustand entscheidet. In der selben Weise wie sich die Demokratie zeitweilig selbst bedroht und aufhebt, besteht Souveränität darin, sich das Recht zu geben, das Recht aufzuheben. Der Souverän macht das Recht, steht über dem Recht und kann das Recht aufheben. Das ist es, was die USA getan haben, als sie ihre Verpflichtungen einerseits gegenüber der UN und dem Sicherheitsrat und andererseits im eigenen Land verletzt haben, indem sie außerordentliche polizeiliche und richterliche Verfahren eingeführt haben.

Um gerecht zu sein muss man aber erinnern, dass die USA trotz allem eine Demokratie sind. Bush riskiert, die nächsten Wahlen zu verlieren: er ist nur auf vier Jahre Souverän. Es handelt sich um ein sehr legalistisches Land, reich an politischen Freiheiten, die in vielen anderen Ländern nicht toleriert würden, nicht nur in nichtdemokratischen, sondern auch in unseren westeuropäischen Demokratien. Um gerecht zu sein muss dieser Widerspruch in der amerikanischen Demokratie in Rechnung gestellt werden – auf der einen Seite die Auto-Immunität: die Demokratie zerstört sich, um sich zu schützen; auf der anderen Seite die Tatsache, dass diese hegemoniale Tendenz zugleich die Krise der Hegemonie ist. Es handelt sich um eine extrem komplexe Situation, und deshalb sage ich, dass es nicht einfach darum geht, Anklage gegen die USA zu erheben, sondern darum, zu inventarisieren, was im amerikanischen politischen Leben kritisch ist. Dazu gehört das ungeheure Problem der Medien, der Kontrolle der Medien, der Medienmacht, die in ganz besonderer Weise die jüngste Geschichte bestimmt hat, vom 11. September bis zur Invasion des Irak, eine Invasion, die nach meiner Auffassung lange vor dem 11. September angesetzt war.

LDC: Welche Rolle kommt dabei Israel zu?

JD: Viele haben gesagt, dass die Unterstützung der USA für Israel nicht ohne Bezug zu dieser Invasion ist. Ich glaube, dass das bis zu einem gewissen Grad stimmt. Aber auch hier sind die Dinge sehr kompliziert. Selbst wenn die gegenwärtige israelische Regierung die Aggression gegen den Irak offiziell und öffentlich begrüßt hat, ist die Freiheit doch sehr zweideutig, die ihr dadurch anscheinend in ihren offensiven Initiativen der Kolonisation und Repression gegeben wurde. Übrigens melde ich hier den selben Vorbehalt wie im Fall der USA an: Es gibt Israelis, die Sharon in Israel bekämpfen. Auch hier ist die Auto-Immunität sehr widersprüchlich, weil sie den palästinensischen Terrorismus anwachsen ließ, Symptome des Antisemitismus in Europa intensiviert oder wiedererweckt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Form der Aggression gegen den Irak sich für Israel wirklich als Vorteil erweist. Die Schwierigkeit eines Projekts wie des Ihren liegt darin, in aller Vorsicht dessen ganze Komplexität in Rechnung stellen zu müssen, versuchen zu müssen, nicht ungerecht gegen eine der Parteien zu sein.

LDC: Lassen Sie uns vom Messianismus sprechen. Erlauben Sie mir zu zitieren, was Sie in den Schurken schreiben: „Diese verletzliche, kraftlose Kraft setzt sich dem Kommenden, der (das) sie affiziert, bedingungslos aus. (…) Diese Behauptung ähnelt einem messianischen Glaubensakt – freilich einem irreligiösen Glauben ohne Messianismus, (…) keinem festen Boden und keinem Fundament, (…) sondern dem Ruf nach einem Denken des kommenden Ereignisses, der kommenden Demokratie. Gewiss liegen auf diesem Ruf alle Hoffnungen, aber als solcher bleibt er ohne Hoffnung. Nicht verzweifelt, doch jeder Teleologie, jeder Hoffnung und jedem Erlösungsheil fremd. Nicht fremd hingegen dem Gruß an den anderen, dem Lebewohl (‚komm’ und ‚geh’ in Frieden) und der Gerechtigkeit, doch heterogen, widerspenstig und irreduzibel auf das Recht, die Macht und die Ökonomie der Erlösung“ (2) Das ist sehr schön, fast ein Gebet, das dem Alltagsleben, aber auch unserem Projekt zu widmen wäre. Was ist dieser Messianismus ohne Religion?

JD: Das, was ich Messianizität ohne Messianismus nenne. Ich würde sagen, dass eine der Verkörperungen, der Umsetzungen dieser Messianizität, dieses Messianismus ohne Religion heute in den Alter-Globalisierungsbewegungen (1) zu finden ist. Bewegungen, die noch sehr heterogen sind, noch immer irgendwie unformiert, voller Widersprüche, die die Schwachen dieser Erde sammeln, alle, die sich von den ökonomischen Hegemonien, vom liberalen Markt, vom Souveränismus bedrängt fühlen. Ich glaube, dass diese Schwachen sich zuletzt als die Starken erweisen werden und dass sie die Zukunft repräsentieren. Obwohl ich nicht als Militanter in diese Bewegungen verwickelt bin, wette ich doch auf die schwache Kraft dieser Alter-Globalisierungsbewegungen, die sich noch zu erklären haben, die ihre Widersprüche zu lösen haben und sich doch gegen sämtliche hegemonialen Organisationen der Welt stellen. Nicht nur gegen die USA, sondern gegen den IWF, gegen die G8, gegen alle organisierten Hegemonien der reichen Länder, zu denen auch Europa gehört.

Der Konflikt mit dem Irak schloss zahlreiche religiöse Elemente ein, auf allen Seiten, der christlichen wie der muslimischen. Messianizität ohne Messianismus ist dagegen ein Aufruf, ein Versprechen einer unabhängigen Zu-Kunft dessen, was im Kommen ist und wie jeder Messias in Gestalt des Friedens und der Gerechtigkeit kommt. Ein Versprechen unabhängig von jeder Religion, also ein universales Versprechen, unabhängig von den drei Religionen, sofern sie in Opposition zueinander stehen, denn es handelt sich tatsächlich um einen Krieg zwischen den drei abrahamitischen Religionen. Ein Versprechen jenseits der abrahamitischen Religionen, universal, ohne Beziehung zu den Wiederauferstehungen oder zur Geschichte von Religionen. Meine Absicht ist nicht anti-religiös, es geht nicht darum, dem religiösen, genauer dem jüdischen, christlichen, islamischen Messianismus den Krieg zu erklären. Es geht darum, einen Ort zu markieren, an dem diese Messianismen von einer Messianizität überschritten werden, von einem Warten ohne Erwartung, ohne Horizont für das kommende Ereignis, für die kommende Demokratie in all’ ihren Widersprüchen. Und ich glaube, dass wir heute in aller Vorsicht versuchen müssen, dieser Messianizität Kraft und Form zu geben, ohne auf die alten Begriffe der Politik zu setzen (Souveränismus, territorialisierter Nationalstaat), ohne auf Kirchen oder religiöse Mächte zu setzen, theologisch-politische oder theokratische jeder Art, seien es Theokratien des islamischen Mittleren Osten oder die maskierten Theokratien des Westens. Messianizität ohne Messianismus, das ist: Unabhängigkeit von der Religion im allgemeinen. Eine Art Glauben ohne Religion.

Anmerkungen

(1) Dem im Deutschen gebräuchlichen Ausdruck globalisierungskritisch entspricht im Französischen der Ausdruck altermondialiste, der den Akzent von der Kritik der Globalisierung auf eine andere, alternative Globalisierung verschiebt.

(2) Jacques Derrida, Schurken, Frankfurt 2003, 12ff. Veränderte Übersetzg.

Deutsch von Thomas Seibert

Original article is at http://www.indymedia.be/news/2004/04/83123.php