Democracy against Democracy: Politik der Wahrheit?

Thomas Seibert und Martin Saar pro und contra Alain Badiou

Am 17. und 18. Januar 2008, auf dem Höhepunkt der Kommunismus-Debatte, hielt Alain Badiou zwei Reden in Berlin: eine in der Humboldt-Universität, die andere in den Kunst-Werken in der Augustastraße. Die tageszeitung dokumentierte die Humboldt-Rede Badious und stellte ihr ein Pro und Contra voran, in dem Martin Saar und ich freundlich, aber bestimmt Position bezogen. Unseren jeweiligen Stellungnahmen folgt  die Rede Badious, als Probe aufs Exempel. (Zweimal kurz)

PRO: Thomas Seibert

Alain Badiou ist Philosoph und Mathematiker, schreibt Romane und Essays zu Literatur und Malerei. Und er deutet an, das Glück einer großen Liebe erfahren zu haben. Er war und ist linksradikaler Aktivist, nach dem Mai 68 in Frankreich Leitungskader der maoistischen UCF/ML, dann ihrer Nachfolgeformation L’Organisation politique (OP). Nach seiner Dialektik muss das auch so sein, sind Wissenschaft, Kunst, Liebe und Politik für ihn doch historische „Prozeduren“, die metahistorische Wahrheiten und Subjekte hervorbringen. Deren jeweilige „Kompossibilität“ bestimmt die Philosophie, die selbst keine Wahrheiten schafft.

Im „autobiographischen Geständnis eines Philosophen“ vermerkt er, seit Jahren von derselben Frage „heimgesucht“ zu werden und philosophisch im Grunde gar nichts anderes als die Antwort darauf finden zu wollen. Die Frage lautet: „Wie kann man aufhören, das Subjekt einer Wahrheit zu sein?“ Aufgedrängt wird sie ihm von der eigenen Generation. Von der wurden nicht nur prominente einzelne – Glucksmann, Levy, Courtois –, sondern ungezählte andere von Zeugen zu Verleugnern der politischen Wahrheit des „roten Jahrzehnts.“

Die eigene Treue zu dieser Wahrheit teilt er mit zwei anderen Philosophen, Gilles Deleuze und Toni Negri. Mit dem ersten verband ihn eine umfangreiche Korrespondenz, ihm hat er ein schönes, lesenswertes Buch gewidmet. Dem zweiten spricht er anerkennend die sokratische Tugend zu, ein erfolgreicher Verführer der Jugend zu sein. Mit beiden analysiert er die Gegenwart als durch einen imperialen Kapitalismus bestimmt, der sich durch eine aggressive Rhetorik der Demokratie und der Menschenrechte und durch „humanitäre“ Militärinterventionen absichert. Auch hier stößt er auf den Verfall einer Wahrheit, diesmal den der Wahrheit der Demokratie. Dem setzt er die Wiederherstellung der Philosophie entgegen, bestimmt aus der Treue zur Wahrheit und deshalb kompromisslos gegenüber dem heutigen gesellschaftlichen Konsens.

So wird er selbst zum Antidemokraten, und in der Hitze des Gefechts nimmt er diese Zuschreibung als Ehrentitel auf.

Damit nicht genug. Mit Deleuze und Negri teilt Badiou das Verfahren, die Philosophie methodisch der Antiphilosophie auszusetzen. Er nennt das „materialistische Dialektik“ und beruft sich dazu, wie Deleuze und Negri, nicht nur auf Marx, sondern auch auf Nietzsche und Heidegger. Ihnen entlehnt er zwei Unterscheidungen, mit denen er von der Antiphilosophie zur Philosophie kommen will. Den ersten Unterschied, den von Wissen und Denken, prägte Heidegger, der sagte: „die Wissenschaft denkt nicht“. Dem folgend schreibt Badiou dem Wissen die universale Enzyklopädie dessen zu, was „als Eins gezählt“, d. h. als Tatsache präsentiert und repräsentiert wird. Dem Denken obliege die Bergung dessen, was das System der Tatsachen als ereignishaft hervorbringt und stets als neue Wahrheit des Wissens, der Kunst, der Liebe oder der Politik „überschießt“ und „durchlöchert.“ Anders als bei Heidegger führt die Unterscheidung von Wissen und Denken aber nicht zur Entwertung des Wissens, sondern zur je eigensinnigen Anerkennung beider. Das ist der Kern materialistischer Dialektik und kehrt sie zugleich gegen Szientismus und Antiphilosophie. Und gegen die imperiale westliche Demokratie, die von beiden, vom Szientismus wie der Antiphilosophie, profitiere.

Den zweiten Unterschied, den von Staat und Politik, entnimmt er Marx, Lenin und Mao, die den Staat und die Politik gegen den Staat und die Politik kehren wollten. Der Staat wird bei Badiou zur ontologischen Form der Regierung bzw. Verwaltung des Systems der Tatsachen. Weil das so ist, könne er nicht abgeschafft, wohl aber vom „Überschuss“ der Politik „durchlöchert“ werden. Politik aber unterliege, wieder im Gegensatz zur westlichen Demokratie, nicht dem parlamentarischen Konsens der Meinungen. Sie realisiert stattdessen Wahrheitsmaximen radikaler Gleichheit, ereignishaft hervorgebracht und situativ bewährt in „Prozeduren“ der Emanzipation. Es liegt auf der Hand, dass Badiou hier die zentrale strategische Frage der Linken des 21. Jahrhunderts anschneidet. Zugleich erschließt sich so die Dringlichkeit der Frage, wie man aufhören kann, Subjekt einer Wahrheit zu sein. Mit der Antwort darauf klärt sich auch, wie es umgekehrt möglich sein kann, Subjekt einer Wissenschaft, einer Kunst, einer Liebe und einer Politik der Emanzipation zu bleiben, jenseits und nötigenfalls gegen den Konsens.

Thomas Seibert ist Philosoph, Mitarbeiter von medico international in Frankfurt a. M. und Redakteur der Halbjahresschrift „Fantômas“

CONTRA: Martin Saar

Die Popularität, derer sich das philosophische Werk Alain Badious seit einigen Jahren auch in Deutschland erfreut, zeigt an, dass hier jemand einen Nerv getroffen hat. Denn einerseits tritt mit diesen Schriften ein Autor ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der mit seinen inzwischen verstorbenen Generationsgenossen Deleuze, Lyotard und Derrida zentrale theoretische Bezugspunkte teilt und eine auch hier lebhaft rezipierte Diskussion und einen Denkstil fortzusetzen verspricht, die allmählich zu verschwinden drohen.

Andererseits hat Badiou schon von früh an selbstbewusst markiert, dass er sich an zentralen Punkten von einer „Philosophie der Differenz“ distanziert, und einen theoretischen Neuanfang in Aussicht gestellt, dessen Anspruch auf nichts Geringeres als eine neue Ontologie zielt. Diese Kombination aus Anschlussfähigkeit und Originalitätsversprechen macht neugierig; und seit der Übersetzung des ersten Bandes seines monumentalen Hauptwerks „Das Sein und das Ereignis“ (frz. 1988, dt. 2005), das auf atemberaubende Weise zwischen Metaphysikgeschichte und moderner Mathematik hin und her schaltet, steht nun einer Überprüfung des Badiou-Effekts nichts mehr im Weg.

Großes Echo haben auch Badious kleine politische Schriften gefunden, in denen er sich als scharfer Polemiker gegen den liberalen Zeitgeist und das politische Denken seiner Zeitgenossen profiliert hat. Die Aura unnachgiebiger Radikalität, den diese Texte verbreiten und die von Badious maoistischer Vergangenheit und seinem Engagement in der unorthodoxen französischen Linken noch verstärkt werden, spiegelt den grundsätzlichen Gestus seines philosophischen Projekts, und er selbst beharrt auf der Kontinuität zwischen beiden Registern. Dennoch fällt es schwer, die Übertragung seiner Überlegungen zur Ontologie auf die Politik ohne Nachfragen zu akzeptieren. Mit denselben Grundkategorien wie in seiner „platonischen“ Theorie der Wahrheit charakterisiert Badiou in seinen Büchern zur „Ethik“ (frz. 1993, dt. 2003) und zur „Metapolitik“ (frz. 1998, dt. 2003) das Verhältnis von politischer Überzeugung und Subjektivität: Im Bereich der Politik gilt keine allgemein als verbindlich anerkannte Moral und kein Zwang des besseren öffentlichen Arguments, vielmehr entsteht das politische Subjekt erst durch eine Entscheidung zur überindividuellen Wahrheit, die von einem Ereignis ausgelöst wird. Erst in der „Treue zum Ereignis“ wird das an sich substanzlose Subjekt zum Ort einer „universalen Singularität“.

In der Politik geht es damit, richtig verstanden, weder um die Interessen und Meinungen von Individuen noch um ihre verschiedenen Identitäten, sondern um „Wahrheit“. Diese Volte gegen Relativismus und Partikularismus mag zwar kritischen Biss gegenüber plumpen Versionen von Pluralismus und Multikulturalismus haben, sie leidet allerdings daran, dass relativ unbestimmt bleibt, was hier Ereignis und Universalität genau bedeuten.

Badious Lieblingsbeispiele wie das Bekehrungserlebnis des Paulus, dem er in seinem gleichnamigen Buch die „Begründung des Universalismus“ (frz. 1997, dt. 2002) zuschreibt, oder die Ursprungsimpulse der chinesischen Kulturrevolution sind plausible Fälle von radikalen Brüchen und der Etablierung einer neuen Ordnung auf den Trümmern einer alten. Aber können sie anzeigen, wieso politisches Engagement notwendigerweise eine „Affirmation des Allgemeinen“ ist?

Die rigorose Distanz, mit der Badiou den gegenwärtigen demokratischen Institutionen, dem „kapitalistischen Parlamentarismus“ gegenübersteht, verliert an Überzeugungskraft, wenn man sich fragt, ob sich mit seiner eigenen Vorstellung von Politik der Kompromiss- und Streitcharakter demokratischer Politik überhaupt artikulieren lässt. Denn was „Wahrheit“ heißt, ist hier doch gerade umstritten.

Die Verpflichtung der Politik auf das Universelle würde voraussetzen, was gerade noch nicht etabliert ist, nämlich die verbindliche Kenntnis des Allgemeinen. Dann erscheinen allerdings der emphatische Ton von Badious Texten und die unwiderstehliche rhetorische Souveränität seiner öffentlichen Auftritte in einem weniger vorteilhaften Licht. Denn womöglich ist die apodiktische Geste seiner politischen Interventionen die Kehrseite eines axiomatischen Stils des Philosophierens, der sich eher am mathematischen Beweis als am legitimen Konflikt von Perspektiven orientiert. Dieser Verdacht würde auch auf sein Publikum fallen. Sollte etwa das Bedürfnis, auf das die Schriften Badious antworten, der Wunsch nach klaren Ansagen, nach einem Meister sein?

Martin Saar ist Professor für Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt

O-Ton Alain Badiou: Democracy against Democracy

Alain Badiou gehört zu jenen Denkern, die versuchen, ihre Kapitalismustheorie mit aktuellen politischen Fragestellungen zu verbinden. Auch bei den Mosse Lectures in Berlin.

Jeder versucht, der beste Demokrat zu sein. Heutzutage finden alle politischen Widersprüche stets zwischen verschiedenen Demokratien statt. Selbst der Krieg ist eine demokratische Handlung gegen eine falsche Demokratie. George W. Bush rechtfertigte den Krieg gegen den Irak damit, dass er demokratischer sei als Saddam Hussein. Es scheint unmöglich geworden, kein Demokrat zu sein. Liegt dies vielleicht daran, dass wir uns kurz vor dem Ende der bekannten Form von Demokratie befinden? Das wird sich zeigen. Sicher ist aber, dass man den Begriff der Demokratie erklären muss.

Beginnen wir mit einem Widerspruch. Zum einen ist die Philosophie notwendig eine demokratische Handlung. Ich werde gleich erklären warum. Zum anderen teilt die Mehrheit der Philosophen, von Platon bis zu mir selbst, einschließlich Hegel, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger oder Deleuze, politische Überzeugungen, die im üblichen Sinne des Wortes absolut nicht demokratisch sind. Diesen Punkt sollte ich ebenfalls erklären.

Es besteht ein Widerspruch zwischen der wahren Natur der Philosophie, die gewiss einer demokratischen Auffassung der Diskussion und des Denkens entspricht, und den Auffassungen der Philosophie im politischen Feld, die häufig einen autoritären Rahmen für die kollektive Bestimmung der Menschen akzeptieren. Wir sind also mit einer paradoxen Beziehung zwischen drei Begriffen konfrontiert: Demokratie – Politik – Philosophie. Wir müssen von der Demokratie zur Philosophie gelangen. Denn die Geburt der Philosophie hängt bei den alten Griechen eindeutig von der Erfindung einer ersten Form von demokratischer Macht ab. Aber wir müssen auch von der Philosophie zur Politik gelangen. Denn die Politik war im geschichtlichen Werdegang der Philosophie immer ein sehr wichtiges Anliegen der Philosophen. Während aber die Politik einen reflexiven Gegenstand für die Philosophie darstellt, ist es im Allgemeinen sehr schwierig, von einer solchen Art von Politik zur Demokratie zu gelangen.

Wenn Sie so wollen: Demokratie ist vor der Philosophie eine Notwendigkeit und nach der Philosophie eine Unmöglichkeit. Unsere Frage lautet also: Was ändert sich in der Politik durch die philosophische Handlung, so dass die Demokratie einerseits etwas Notwendiges und andererseits etwas Unmögliches oder sehr Schwieriges ist? Und die Antwort lautet: Die Schwierigkeit liegt in der Beziehung zwischen dem demokratischen Begriff der Freiheit und dem philosophischen Begriff der Wahrheit. Wenn es so etwas wie eine politische Wahrheit gibt, dann ist diese Wahrheit eine Pflicht für jeden rational denkenden Geist. Das heißt aber, dass die Freiheit absolut begrenzt ist. Und umgekehrt, wenn es keine solche Begrenzung gibt, dann gibt es keine politische Wahrheit. Aber in diesem Fall lässt sich überhaupt kein Bezug zwischen der Philosophie und der Politik herstellen.

Die drei Begriffe Politik, Demokratie und Philosophie sind also durch die Frage der Wahrheit miteinander verknüpft. Somit stellt sich die Frage: Was ist ein demokratisches Konzept der Wahrheit? Was ist, gegen den Relativismus und den Skeptizismus, eine demokratische Universalität? Was ist ein demokratisches Gesetz, das ohne das Gebot einer Transzendenz auf uns alle applizierbar ist? Die Philosophie hat zwei grundlegende Eigenschaften. Einerseits ist sie ein Diskurs, der von der Stellung des Menschen, der ihn hervorbringt, unabhängig ist. Die Philosophie ist nicht der Diskurs eines Königs, eines Priesters, eines Propheten oder eines Gottes. Von Seiten der Transzendenz, der Macht oder der sakralen Funktionen gibt es keine Garantie für die philosophische Rede. Philosophie setzt voraus, dass die Suche nach der Wahrheit offen für alle ist. Das philosophische Denken kümmert sich nicht um die subjektive Aussage, sondern um den objektiven Wortlaut. Die Philosophie ist ein Diskurs, der sich allein aus sich selbst heraus legitimiert. Dies allerdings ist eindeutig eine demokratische Eigenschaft.

Andererseits ist die Philosophie unmittelbar der Beurteilung durch andere ausgesetzt. Der philosophische Diskurs wird durch das Vorhersehen von Einwänden und die Anerkennung der Diskussion hergestellt. Sein Axiom ist die Gleichheit aller Gedanken. Diese Gleichheit stellt das Gericht für den philosophischen Diskurs dar. Und es ist ein Gericht im demokratischen Sinne des Wortes. Die soziale, kulturelle oder religiöse Position einer sprechenden oder denkenden Person ist der Philosophie vollkommen gleichgültig. Die Philosophie akzeptiert, von allen zu sein. Zugleich ist die Philosophie der Zustimmung oder der Kritik ausgesetzt, und zwar ohne Vorentscheidung über die Person, die zustimmt oder kritisiert. Die Philosophie akzeptiert, für alle zu sein. So können wir schlussfolgern, dass das eigentliche Wesen der Philosophie demokratisch ist.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Philosophie, die akzeptiert, sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrer Zuschreibung (Adresse) absolut universell zu sein, nicht akzeptieren kann, in ihrer Bestimmung oder ihrem Ziel gleichermaßen demokratisch zu sein. Jeder kann ein Philosoph oder der Gesprächspartner eines Philosophen sein. Aber es wäre falsch zu behaupten, dass jede Meinung gleichwertig ist. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken ist weit davon entfernt, ein Axiom der Gleichheit der Meinungen zu sein. Seit den Anfängen der Philosophie bei Platon ist zuerst zwischen falschen und richtigen Meinungen und sodann zwischen Meinungen und der Wahrheit zu unterscheiden. Aus diesem Grund kann die Philosophie das große demokratische Prinzip der Freiheit der Meinungen offenkundig nicht akzeptieren. Wenn die Meinung das genaue Gegenteil einer Wahrheit darstellt, dann kann für sie diese Art der Freiheit nicht gelten. Auch in den westlichen Demokratien werden nicht alle Meinungen akzeptiert. In Frankreich zum Beispiel unterliegt die Leugnung der Ermordung der Juden durch die Nazis nicht der Meinungsfreiheit. Es gibt ein Gesetz, das es verbietet, eine solche Meinung öffentlich zu verkünden. Allgemeiner gesprochen: Die Philosophie stellt die Einheit und die Universalität der Wahrheit der Pluralität und der Relativität der Meinungen entgegen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, der die demokratische Hinwendung der Philosophie begrenzt. Die Philosophie ist der kritischen Beurteilung durch andere ausgesetzt. Dieses Ausgesetztsein beruht aber auf einer allgemeinen Anerkennung einer Regel für die Diskussion. Wir müssen die Gültigkeit von Argumenten anerkennen. Und schließlich müssen wir die Existenz einer universellen Logik als formale Bedingung für das Axiom der Gleichheit der Gedanken anerkennen. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken befindet sich mit Sicherheit und notwendig im Feld der allgemeinen Logik. Dies ist – im metaphorischen Sinne – die „mathematische“ Dimension der Philosophie. Es besteht eine Freiheit in der Zuschreibung oder Adressierung, aber es besteht zugleich die Notwendigkeit einer strengen, für alle gültigen Regel der Diskussion.

Wie die Mathematik ist die Philosophie von allen und für alle: Sie hat keine besondere Sprache, aber es gilt eine strenge Regel für die Schlussfolgerungen. Wenn also die Philosophie die Politik untersucht, so kann sie dies nicht nach Maßgabe der reinen Freiheit tun und erst recht nicht nach Maßgabe der Freiheit der Meinungen. Die Philosophie beschäftigt sich vielmehr mit der Frage: Was kann eine politische Wahrheit sein?

Gleichheit und Universalität sind die Charakteristika einer gültigen Politik im Feld der Philosophie. Der klassische Name dafür lautet Gerechtigkeit. Für die Gerechtigkeit ist Gleichheit wichtiger als Freiheit. Und Universalität ist wichtiger als Partikularität, Identität oder Individualität. Aus diesem Grund ist die allgemeine Definition der Demokratie als Freiheit der Individuen problematisch.

Richard Rorty hat erklärt: „Demokratie ist wichtiger als Philosophie.“ Mit diesem politischen Prinzip bereitet Rorty faktisch den Boden für die Auflösung der Philosophie im kulturellen Relativismus. Doch Platon sagt zu Beginn der Philosophie genau das Gegenteil: Philosophie ist weit wichtiger als Demokratie. Und wenn die Gerechtigkeit der philosophische Name für die Politik als kollektive Wahrheit ist, dann ist Gerechtigkeit wichtiger als Freiheit. Die große Kritik der demokratischen Politik bei Platon ist allerdings ambivalent. Einerseits stellt sie die persönliche Meinung eines Aristokraten dar. Aber andererseits zeigt sie ein wirkliches Problem auf, nämlich den grundlegenden Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Letztlich ist dies unsere heutige Situation: Der Preis für unsere Freiheit, hier in der westlichen Welt, ist eine monströse Ungleichheit, innerhalb unserer Länder, vor allem aber außerhalb. Philosophisch gesprochen gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit in der zeitgenössischen Welt.

Das beste Paradigma für die Gerechtigkeit ist wahrscheinlich, wie schon Platon ausgeführt hat, die Mathematik. In der Mathematik finden wir eine ursprüngliche Freiheit, welche die Freiheit des Auswahlaxioms ist. Danach herrscht allerdings eine vollkommene Bestimmtheit, die einigen logischen Regeln folgt. Wir müssen die Konsequenzen unserer ersten Wahl akzeptieren. Und dieses Akzeptieren ist keine Freiheit, sondern ein Zwang, die Notwendigkeit und die harte intellektuelle Arbeit, den korrekten Beweis zu finden. In der Mathematik finden wir eine strenge universelle Gleichheit in einem präzisen Sinn: Ein Beweis ist ein Beweis, und zwar ausnahmslos für alle, die die ursprüngliche Wahl und die logischen Regeln akzeptieren. Wahl – Konsequenzen – Gleichheit – Universalität. Diese vier Begriffe beschreiben, in dieser Reihenfolge, das Paradigma des politischen Begriffs der Gerechtigkeit.

Im Übrigen haben wir es hier auch mit dem Paradigma der klassischen revolutionären Politik zu tun, deren Ziel die Gerechtigkeit ist. Man muss zunächst eine grundlegende Auswahl akzeptieren. Hier ist es die Wahl zwischen zwei Wegen, wie die chinesischen Revolutionäre gesagt haben: dem revolutionären Weg oder dem konservativen Weg, Arbeiterklasse oder Bourgeoisie, kollektiver Handlung oder privatem Leben. Und man muss die Konsequenzen dieser Wahl annehmen: Opfer und erbitterter Kampf, keine Freiheit der Meinungen oder Lebensstile, sondern Disziplin und harte Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden. Und das Resultat ist kein demokratischer Staat im landläufigen Sinne des Wortes, sondern eine Diktatur des Proletariats, die dazu dient, die Feinde niederzuschlagen. Zudem präsentiert sich dieses Paradigma als absolut universell, weil das Ziel nicht die Macht einer bestimmten Klasse oder Gruppe ist, sondern die Aufhebung aller Klassen und Ungleichheiten und schließlich das Ende des Staates selbst.

Allerdings bezeichnet „Demokratie“ in dieser Auffassung zwei völlig verschiedene Dinge: einerseits die Form eines Staates im Sinne von Lenin und andererseits eine Volksbewegung im Sinne Maos. Im ersten Sinne hat die Demokratie keinen Bezug zur revolutionären Politik oder zur Gerechtigkeit. Im zweiten Sinne ist die Demokratie weder eine Norm noch ein Ziel. Sie ist ein Mittel für die aktive Präsenz des Volkes im politischen Feld.

Demokratie ist nicht die politische Wahrheit, sondern ein Mittel, um die politische Wahrheit zu finden und zu realisieren.

Allerdings müssen wir heute, da diese klassische Sequenz der revolutionären Politik für immer verloren ist, neue Wege gehen, um die Demokratie als eine Möglichkeit zur Befreiung des Volkes zu begreifen. Insofern hat meine Vorlesung auch den Sinn, die Demokratie als philosophische Bedingung für ein neues Lernen, einen neuen Status des Diskurses zu fassen. Denn die wahre Politik zu erlernen, heißt neue Orte für die Gerechtigkeit zu beschreiben. Diese Orte dürfen aber nicht vorherbestimmt sein. Sie können dem Staat nicht gehören. Es sind Stätten, an denen man aus der bestehenden subjektiven Welt heraustreten kann.

So gilt es, den rechten Weg zu erlernen, eine politische Wahrheit zu erkennen und von ihr erfasst zu werden.

Wir können sagen, dass die Demokratie ein Ereignis mit politischen Folgen ist. Oder mit den Worten des Dichters Wallace Stevens: Demokratie ist ein „Vorzeichen“, etwas, „das von der Zukunft gesagt wird“. Wir können die Demokratie nicht auf die demokratische Macht eines Staates reduzieren. Demokratie ist, sofern sie sich ereignet, für den Philosophen das Versprechen einer Neuheit im politischen Feld. Aus dem Englischen von Gernot Kamecke