Das singulare Universale und sein Anderes

Versuch der Einführung in eine materialistische Dialektik des 21. Jahrhunderts

Dies ist einer meiner Lieblingstexte – und vielleicht der Muttertext meiner Bücher „Krise und Ereignis“ und „Zur Ökologie der Existenz“. Geschrieben für ein Buchprojekt des Kritischen Bewegungsdiskurses, wurde er nie veröffentlicht, weil das Projekt „KBD“ auseinander fiel. Ohne Kontrolle durch eine  Endredaktion macht dieser Text ungeschützter als andere lesbar, was mich philosophisch, politisch und in erster Person umtreibt. (Lang)

 Das wirkliche Leben ist abwesend. Jean-Arthur Rimbaud[1]

Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist theoretisch falsch gestellt, praktisch aber nicht abzuweisen und deshalb gut geeignet, einer Einführung in eine materialistische Dialektik des 21. Jahrhunderts den Weg zu öffnen. Sie ist falsch gestellt, weil sie Individuum und Gesellschaft äußerlich trennt, so als gäbe es auf der einen Seite für sich ein Individuum und auf der anderen Seite, ihm gegenüber, die Gesellschaft. Natürlich hat es, seit es menschliches Leben gibt, immer auch menschliche Einzelwesen gegeben. Doch wissen wir längst, dass die verschiedenen historischen Formen, in denen sich menschliche Einzelwesen zu sich, zu anderen und zur übrigen Welt verhalten, nichts „natürlich“ gegebenes, sondern immer nur das Resultat einer gesellschaftlich vermittelten Lebensweise, einer Performanz sind: eine Vereinzelung im Medium von Vergesellschaftung. Hinzukommt, dass der Begriff in-dividuum (lateinisch für „das Unteilbare“) den mit ihm gemeinten Lebensweisen schon deshalb unangemessen ist, weil menschliche Einzelwesen gar keinen unteilbaren „Kern“ bergen. Vielmehr ist jede/r von uns ein auf sich vereinzeltes Verhältnis von Verhältnissen, für das die neuere Philosophie deshalb den treffenderen Begriff der „Singularität“ eingeführt hat (von lat. singularis, in der Einzahl stehend).

Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft trotzdem gar nicht abzuweisen ist, liegt das daran, dass sich in ihr eine grundlegende Erfahrung ausspricht: die Erfahrung, dass Gesellschaft den oder die Einzelne/n immer auch als ein Macht-, Zwangs- und Gewaltverhältnis der Lenkung, Einschränkung, Missachtung, Verletzung, gar der systematischen Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung einschließt. Diese Erfahrung wurde und wird in allen gesellschaftlichen Verhältnissen gemacht und ist deshalb eine transhistorische und in diesem Sinn universale Grunderfahrung menschlicher Wesen überhaupt.

Die wortwörtlich lebensentscheidende Bedeutung dieser Erfahrung erschließt sich an dem Faktum, dass sich noch heute ungezählte Einzelne ihrer Einschließung in Gesellschaft nur durch die Selbsttötung zu entziehen wissen. Im Akt dieser letztendlichen Zurückweisung von Gesellschaft überhaupt werden wir Anderen zu denen, die der Selbstmörder/in keinen Grund mehr bieten konnten, weiter unter uns zu wohnen, weiter mit uns vergesellschaftet zu sein.

Auf diesen im wahrsten Sinn des Worts existenziellen „Punkt“[2] zurückgetrieben, ist die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft tatsächlich die unabweislichste aller Fragen: die Frage danach, ob ein Leben, das noch im Alleinsein mit sich immer und überall ein Leben mit anderen ist, das Weiterleben „lohnt“ oder nicht. Als absolut negative Antwort ist die Selbsttötung dann allerdings nur das Negativ aller anderen möglichen Antworten. Im Folgenden interessieren uns primär die Antworten, die als Akte der Revolte zwar auch negativ ausfallen, doch kein endgültiges Nein zur Gesellschaft aussprechen. Dabei wird zu zeigen sein, dass sie zugleich ein Nein zum unmittelbaren Dahinleben des Individuums und darin ein je unterschiedlich akzentuierter Vorgriff auf die besondere Singularität sind, die wir mit Sartre als „singulares Universales“ bezeichnen wollen.[3] In ihm vereinzelt sich, was ich die „Wahrheit der Existenz“ nennen und mit der Wahrheit des Politischen verbinden möchte; dem entspricht, dass die hier relevante Figur eines solchen singularen Universalen die der politischen Militanten ist.[4] Die Dialektik kommt dabei nicht erst an dem Punkt ins Spiel, an dem die Militante auf eine Singularität trifft, die ich ihr Anderes nennen möchte. Der begrifflichen Stimmigkeit wegen stelle ich die Frage nach dem Verhältnis Individuum-Gesellschaft im Folgenden stets als Frage nach dem Verhältnis von Vereinzelung und Vergesellschaftung.

Zwischenstück 1: Theatrum Philosophicum

Da ich diese Frage wie eingangs vermerkt im Blick auf das philosophische und ethisch-politische Potenzial einer materialistischen Dialektik stelle, will ich vorab die Namen der dazu maßgeblichen politischen Philosoph/innen nennen.[5] Natürlich kommen damit Voraussetzungen ins Spiel, die ich hier weder offen legen kann noch einholen will. Deshalb werde ich mich auf den für unsere Frage relevanten Punkt der jeweiligen Philosoph/in beschränken und ihn so einführen, dass er auch ohne weitere Textkenntnis nachvollziehbar wird.

Den Begriff einer materialistischen Dialektik entlehne ich Alain Badiou und Slavoj Žižek. Auch wenn Žižek in der für ihn typischen Überschätzung der Provokation vorschlägt, sich umstandslos des verrufenen Begriffs „Dialektischer Materialismus“ zu bedienen, weiß auch er, dass sich diese Dialektik grundlegend von der klassisch-marxistischen wie von der Hegelschen unterscheidet, sofern sie nur noch bedingt eine solche des Klassenbewusstseins oder des Geistes sein kann.[6] Philosophisch-politisch sind trotzdem zunächst die Gemeinsamkeiten zu unterstreichen, zu denen ein Hegel und Marx zumindest verwandter Begriff der Wahrheit gehört. Ihm zufolge ist unter einer Wahrheit weniger die wahre Aussage eines Sachverhalts als vielmehr der wirkliche Prozess dieses Sachverhalts selbst zu verstehen, d.h. seine als Entwicklung zu fassende Geschichte.[7] Dem entspricht, dass auch Badiou und Žižek die Wahrheit fundamental an die Wahrheit des Politischen und das Politische selbst an den Kampf von Herrschaft und Knechtschaft und zuletzt an den Kommunismus binden.

Die Differenz zur Hegelschen und Marxschen Dialektik bestimmt sich dann allerdings aus dem anti-dialektischen Erbe des Mai 1968, für das vor allem der Poststrukturalismus steht, der selbst weniger eine Philosophie für sich als eine vielstimmige philosophische Konstellation darstellt. Dem entspricht, dass die nähere Bestimmung dieser Differenz ihre methodische Regel niemand anderem als Michel Foucault verdankt, dem neben Gilles Deleuze und Jacques Derrida wichtigsten poststrukturalen Denker. „Um Hegel wirklich zu entrinnen“, schrieb Foucault, „muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; man muss wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist; auch was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muss ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.“[8] Ich füge hinzu: man muss klären, ob und wenn ja wo man im Versuch des Entrinnens hinter Hegel zurückbleibt und diesen Rückstand so ausgleichen, dass man Hegel, besser: dass man die Dialektik noch einmal auf die Probe stellt.

Diesem Anliegen folge ich jetzt in fünf Schritten. In einem ersten Schritt erinnere ich den Einsatz der Philosophie wie der Politiken des Mai 1968 und beziehe mich dazu auf Foucault, seinen Weggefährten Gilles Deleuze und die Neuen Sozialen Bewegungen (I). Im zweiten Schritt bestimme ich die historischen Grenzen dieser Bewegungen in einer knapp gehaltenen Bilanz der Durchsetzungsgeschichte des postfordistischen oder Bio-Kapitalismus bzw. der Postmoderne und einem Seitenblick auf den Streit, der im Feminismus seit längerem schon u.a. zwischen Judith Butler und Luce Irigaray geführt wird (II). Der dritte Schritt führt nach einem letzten Rückblick auf Foucault über den Horizont der Neuen Sozialen Bewegungen hinaus und kreuzt sich dort nicht nur mit Badiou und Žižek, sondern auch mit Michael Hardt und Toni Negri. Dabei konzentriere ich mich auf die Vereinzelung der Wahrheit des Politischen, die alle vier in der Figur der Militanten entwerfen (III). Im vierten Schritt gehe ich schließlich auf Hegels Dialektik der Anerkennung zurück, auf deren Unumgänglichkeit zuletzt vor allem Axel Honneth verwiesen hat. (IV) Im letzten Schritt werde ich die Korrespondenzen einholen, die zwischen der philosophischen Auseinandersetzung und den Kämpfen um Globale Soziale Rechte bestehen.[9] Das führt dann nicht zufällig auf die Frage nach dem Verhältnis von Vereinzelung und Vergesellschaftung zurück – und zu der Maxime, unter die Derrida dieses Verhältnis gestellt hat (V).[10]

I. Subjektivierung und Ent-Subjektivierung

Politisch mit dem Mai 1968 und philosophisch mit Foucault zu beginnen, rechtfertigt sich schon in dem Umstand, dass die Politiken des Mai Foucault dazu brachten, die hier leitende Frage philosophisch als Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen von „Subjektivierung“ zu fassen. Darunter versteht er machtdurchwirkte Verhältnisse, in denen menschliche Lebewesen und Lebensweisen „subjektiviert“ werden, indem ihnen eine „Praxis des Selbstes“ eingeschrieben wird.

Der Begriff erschließt sich im Französischen unmittelbarer als im Deutschen, weil das französische Wort sujet zunächst die Untertan/in meint und unter Subjektivierung (sujetissement) deshalb ein Vorgang der Unterwerfung verstanden wird. Von daher fasst Foucault die Eigenart der Mai-Kämpfe und der auf sie folgenden Neuen Sozialen Bewegungen darin, Kämpfe eines desassujetissement gewesen zu sein, d.h. der Ent-Subjektivierung als einer „Ent-Unterwerfung.“ Dazu erstellt er eine Typologie, die drei Arten von Kämpfen unterscheidet: solche gegen Formen von Herrschaft, gegen Formen von Ausbeutung und gegen Formen von Subjektivierung. Während Kämpfe gegen Herrschaft primär die Epoche der Feudalgesellschaften und Kämpfe gegen Ausbeutung das 19. Jahrhundert dominierten, gewinnen im 20. Jahrhundert die Kämpfe „gegen die Unterwerfung durch Subjektivität immer größere Bedeutung, auch wenn der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden ist, im Gegenteil.“ In der Epoche des Mai 1968 zeigt sich die Eigenart der Kämpfe gegen Subjektivierung Foucault zufolge besonders in den Revolten „gegen die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskranken, der Medizin über die Bevölkerung, der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen.“ Es sind diese Revolten, in denen sich die Neuen Sozialen Bewegungen bilden, die in diesem Namen ihren Unterschied zur Arbeiterbewegung als der „Alten Sozialen Bewegung“ anzeigen. Foucault führt seine These dann in fünf näheren Bestimmungen aus:

a) Die Kämpfe des Mai sind weder universale noch bloß partikulare, sondern „transversale“ Kämpfe, sofern sie von den verschiedensten Subjekten an ganz unterschiedlichen Orten geführt werden, sich als solche aber in sämtlichen modernen Gesellschaften finden.

b) Sie richten sich direkt gegen die alltägliche Ausübung von Macht bzw. die den betroffenen Individuen nächsten Machtinstanzen und entzünden sich eben deshalb nicht nur in den Arbeitsverhältnissen, sondern in Ehe und Familie, in Schule und Universität und in besonderer Schärfe in allen Fürsorge-, Besserungs- und Strafanstalten. Weil sie sich dabei der Einordnung in ein Gefüge von „Haupt-“ und „Nebenwiderspruch“ und in Strategien gesamtgesellschaftlicher Veränderungen entziehen, erscheinen sie traditionellem Verständnis oft als „vor-politische“ Kämpfe.

c) Sie stellen immer auch den Status des „Individuums“ in Frage, fordern einerseits ein Recht auf existenzielle Autonomie, auf Singularität und Differenz und greifen andererseits Verhältnisse an, in denen die Einzelnen voneinander getrennt werden. Genau besehen werden sie aber „nicht für oder gegen das ‚Individuum’ ausgetragen, sondern gegen die ‚Lenkung durch Individualisierung’.“

d) In besonderer Weise zielen die Kämpfe auf die an Wissen, Ausbildung und Befähigung gebundenen Weisen der Machtausübung. Sie wenden sich dabei nicht für oder gegen die Wissenschaft oder die modernen Kommunikationstechnologien, sondern gegen die Koalition von Wissenschaft, staatlicher Macht und kapitalistischen Verwertungsinteressen.

e) Allgemein gesprochen richten sich alle diese Kämpfe weniger gegen ein „System“ von Herrschaft und Ausbeutung als vielmehr gegen besondere Prozeduren oder Technologien von Macht wie gegen deren allgemeine Matrix, die Foucault „Biomacht“ nennt: „Diese Form von Macht gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben.“

Die im Primat der Kämpfe um Subjektivierung eröffnete historische Dynamik erläutert Foucault dann durch einen Vergleich der Neuen Sozialen Bewegungen mit den Bewegungen der Reformationsepoche: „Es ist nicht das erste Mal, dass unsere Gesellschaft sich mit Kämpfen dieses Typs konfrontiert sieht. All jene Bewegungen, die ihren Ausgang im 15. und 16. Jahrhundert nehmen und ihren Ausdruck wie auch ihre Rechtfertigung in der Reformation fanden, müssen als Anzeichen einer schweren Krise im westlichen Verständnis der Subjektivität und als Indiz einer Revolte gegen jene Form religiöser und moralischer Macht verstanden werden, welche dieser Subjektivität im Mittelalter Gestalt verliehen hatte. Das damals empfundene Bedürfnis nach einer direkten Beteiligung am spirituellen Leben, an der Heilsarbeit und an der Wahrheit der Bibel – all das zeugt von einem Kampf für eine neue Subjektivität.“[11] An anderer Stelle heißt es gleichen Sinnes: „Ich glaube, dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden.“[12]

Im weiteren Verlauf dieser „Krise der Regierung“ geraten dann allerdings auch die Neuen Sozialen Bewegungen und ihre philosophische Artikulation u.a. im Denken Foucaults in die Krise. Ursächlich dafür ist der historische Umbruch der kapitalistischen Gesellschaftsformation, für den sich mittlerweile die Rede vom Übergang des Fordismus in den Postfordismus und, weiter gefasst, vom Übergang der Moderne in die Postmoderne eingebürgert hat.

II.1. Disziplin und Kontrolle

Will man diese Übergänge verstehen, muss man zunächst den wesentlichen Punkt der Machtontologie Foucaults einführen, die sich ja einem zugleich philosophischen wie politischen Eingriff in diese Übergänge verdankt. Festzuhalten ist dann, dass Foucault in seiner Reduktion gesellschaftlicher Verhältnisse auf Machtverhältnisse nie behauptet hat, diese Verhältnisse seien ausweglos nichts als Machtverhältnisse. Stattdessen hat er immer wieder betont, dass Macht und Mächte ohne Gegenmacht und Gegenmächte gar nicht gedacht werden können: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. (…) Das hieße, den strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse verkennen. Diese können nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. (…) Die Widerstände (…) sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.“[13]

Die innere Relationalität von Macht und Gegenmacht lässt sich auch am Schicksal der Neuen Sozialen Bewegungen und der ihnen korrespondierenden Philosophie belegen. Im Widerstand gegen die Machtkonstellationen der fordistischen Moderne werden sie zunächst zur Basis einer Gesellschaftskritik, die in bis dahin ungekannter Präzision aufdeckt, dass und warum den industriell-kapitalistischen Wohlfahrtsdemokratien und den real existierenden Industrie-Sozialismen trotz ihres politischen Gegensatzes eine weithin verwandte Matrix der Macht – eben die Biomacht – zugrunde liegt. Die wiederum begegnet den vielfältigen Angriffen der Bewegungen mit Prozessen der „Liberalisierung“ und „Individualisierung“, in deren Bahnen die ursprünglich dysfunktionale Energie der anti-fordistischen Revolten einer neuen Matrix der Machtausübung funktional wird – derjenigen, die sich ab Mitte der 1980er Jahre in den „neoliberalen“ Ordnungen von Postfordismus und Postmoderne artikuliert. Da es hier nicht um eine umfassende Beschreibung dieser Transformationen gehen kann, will ich diese These an einigen zentralen Punkten festmachen:

a) Da die moderne Ordnung des Wissens und der Subjektivierung wesentlich über die Position eines den Praktiken der Vereinzelung und Vergesellschaftung einbeschriebenen autonomen Subjekts funktionierte, griffen die Gegenmächte des Mai gerade diese Position an. Sie beriefen sich dazu auf eine „wilde“ Ontologie der a-subjektiven Kräfte, Lüste und Begehren der Körper und der gleichermaßen a-subjektiven Mächte der Sprache, die im Poststrukturalismus ihre philosophische Reife fand. Im Maß der „Dekonstruktion“ dieses Subjekts verfingen sich die „Fluchten“ der Ent-Subjektivierung in den Machtspielen einer Wissens- und Subjektivierungsordnung, deren Logik Badiou in dem Satz „Es gibt nur Körper und Sprachen“ ausmacht.[14] So unscheinbar und geradezu selbstverständlich diese Logik heute erscheint, so unabsehbar waren und sind ihre Folgen. So unterhöhlte der ursprünglich subversive Pluralismus in der Politik jeden Anspruch auf eine Überschreitung der bestehenden Verhältnisse im Ganzen: weil in der uneinholbaren Vielheit der Körper und Sprachen so etwas wie ein Ganzes gar nicht mehr gedacht werden kann, weil es deshalb auch nichts und niemanden gibt, der diesen Anspruch erheben und begründen könnte, und weil es in der Vielheit der Körper und Sprachen keine Subjektposition mehr gibt, die sich auch gegen die eigenen Kräfte, Lüste und Begehren an einen solchen Anspruch binden könnte. Nur scheinbar paradox realisierte sich die im Namen der Lebensformen und Sprachspiele vorgenommene Ent-Subjektivierung in einem geradezu unerhörten Individualisierungsschub: „Unterm Strich zähl’ ich“ ist das Glaubensbekenntnis einer Epoche, die jenseits der Körper und Sprachen an nichts mehr zu glauben vermag.

b) Die Wirkungsmacht der postmodernen Wissens- und Subjektivierungsordnung korrespondiert dann im wortwörtlichen Sinn zwanglos dem postfordistischen Produktionsregime, dessen eigene Logik sich im Imperativ „Sei flexibel! Sei kreativ!“ ausspricht. Den subversiven Gegenmächten des Mai verdankt sich dieser Imperativ insoweit, als sie im Widerstand gegen die fordistische Disziplinierung des Lebens die Kräfte, Lüste und Begehren mobilisierten, auf deren Verwertung der Postfordismus konstitutiv angewiesen ist. Keineswegs zufällig findet sich das eindrucksvollste Beispiel dieser Verkehrung in den Revolten gegen das fordistische Normalarbeitsverhältnis, die im Maß der erfolgreichen Auflösung des Fabrikregimes wie des ihm verbundenen Reproduktionsregimes der fordistischen Kleinfamilie zum Wegbereiter der systematischen Prekarisierung der Arbeit und ihrer Ausdehnung auf die gesamte Raum-Zeit des Alltags wurden.

c) Ihren Begriff findet die Differenz von Fordismus und Moderne zu Postfordismus und Postmoderne in der Differenz von „Disziplin“ und „Kontrolle“, deren Bestimmung auf Foucault und Deleuze zurückgeht. Letzterer erläutert diesen Unterschied wiederum nicht zufällig am Übergang von der fordistischen „Fabrik“ zum postfordistischen „Unternehmen“: „Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, zum zweifachen Vorteil des Patronats, das jedes Element in der Masse überwachte, und der Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich spaltet. Das modulatorische Prinzip des ‚Lohns nach Verdienst’ verführt sogar die staatlichen Bildungseinrichtungen: denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. (…) In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule zur Kaserne, von der Kaserne zur Fabrik), während man in der Kontrollgesellschaft nie mit etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung, sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation. (…) Die Individuen sind ‚dividuell’ (teilbar, Th.S.) geworden.“[15] Kern des Unterschieds: wird die Disziplin den Einzelwesen wie den Massen „wie von außen“ und insofern objektiv auferlegt, funktioniert die Kontrolle „wie von innen“ und von daher subjektiv und intersubjektiv.

Zwischenstück 2: Lady Gaga-Gender-Streit

Eine besondere Verwirbelung des Übergangs zur Postmoderne lässt sich exemplarisch im sog. „Gender-Streit“ nachzeichnen. Grob gesagt, entspringt dieser Streit der in der Differenz von sex und gender entfalteten Einsicht, dass das Geschlecht – so wie ich das hier für das Individuum behaupte – keine „natürliche“, sondern eine soziale Tatsache ist. Strittig ist dabei weniger das Faktum selbst als das, was ethisch-politisch aus ihm folgt. Denn während die prominent etwa durch Judith Butler vertretene queer-feministische Dekonstruktion ihren Einsatz in der subversiven Überdrehung des performativen Charakters der Vergeschlechtlichung sucht, halten Differenzfeminist/innen wie Luce Irigaray strategisch am Unterschied männlicher und weiblicher Vergeschlechtlichung fest.[16]

Dass es dabei nicht um ein Entweder-Oder gehen kann, zeigt der Seitenblick auf die unter dem Namen Lady Gaga bekannte Sängerin Stefani Germanotta, mit fünf Grammy Awards, über 15 Millionen verkauften Alben, 51 Millionen verkauften Singles und – von niemand anderem erreicht! – mehr als einer Milliarde Zugriffen auf ihre Videos der aktuell wohl erfolgreichste Star der globalen Pop-Kultur. Hier ist das insoweit relevant, als dieser Erfolg maßgeblich an ihrer zum Markenzeichen durchgestylten Queerness liegt und in wortwörtlich faszinierender Weise belegt, dass es in dieser Hinsicht nichts, aber auch gar nichts mehr zu „subvertieren“ gibt. Natürlich ist der Heteronormativität des Fordismus natürlich so wenig nachzutrauern ist wie seinem Fabrik- und Kleinfamilienregime, auch ist es zweifellos erfreulich, dass die Destabilisierung überkommener Geschlechterrollen offensichtlich „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ ist. Doch erhebt sich gerade deshalb die Frage, wie ein eben nicht nur trotz, sondern auch durch seine Postmodernisierung fortdauerndes Patriarchat bekämpft werden kann, wenn Strategien der Subversion keine Handhabe bieten, um von jeder „Identitätskonstruktion“ befreite „Dividuen“ von einem Kurs abzubringen, auf dem sie umso „marktgerechter“ werden, je besser sie ihre Performanz in flexibler Eigenregie kontrollieren: das Debütalbum von Lady Gaga trägt den Titel Fame.

An dieser Stelle wird der Einsatz interessant, den Luce Irigarays mimetische „Wiederholung“ der in diesem Punkt von Plato bis auf Heidegger ungebrochen fortwirkenden patriarchalen Subjektphilosophie ins Spiel bringt.[17] Ihr zufolge gründet die „phallogozentrische“ Matrix der Herrschaft wesentlich darin, dass sich hinter der vorgeblich ungeschlechtlichen Position des universalen Subjekts unserer Religionen, Philosophien und Politiken ein männliches Imaginäres verbirgt, in dem die Frauen von der Position sich universalisierender Subjektivität ausgeschlossen und auf den Status bloßer Naturwesen reduziert werden. Diese jahrhundertealte Perfidie unseres gesellschaftlichen Unbewussten wird von der queer-feministischen Dekonstruktion nicht erreicht, weil sie unterhalb der Rollenmodelle unserer Performanzen wirkt und von ihr in der Folge ihrer Verwerfung der fraglichen Subjektposition auch gar nicht ins Visier genommen wird. Irigaray setzt dem einen strategischen Essenzialismus des weiblichen Geschlechts entgegen, mit dem sie weniger auf eine Dekonstruktion als auf eine dezentrierende Vergeschlechtlichung des universalen Subjekts zielt: „Solange das Universelle nicht als zwei Universelle betrachtet wird und die Menschheit als ein Ort kulturell fruchtbarer Koexistenz zweier Geschlechter, die auf irreduzible Weise different sind, wird stets eine ihre Farben und ihre Werte der anderen auferlegen wollen, auch durch ihre Moral und Religion.“[18]

Zwischenstück 3: Ästhetik der Existenz

Auch Foucault hat sich einem drohenden Leerlauf der Subversion durch den Entwurf einer sich trotz und gerade in ihrer Dezentrierung universalisierenden Subjektposition erwehren wollen. Unter dem Titel einer „Ästhetik der Existenz“ war ihm Subjektivierung zuletzt nicht mehr nur der Effekt von Unterwerfung, sondern das Medium einer „Sorge um sich“, die er vier ethisch-politisch-philosophischen Orientierungen unterstellte. Die beiden ersten Orientierungen halten die Existenzästhetik in einer nach wie vor subjektkritischen Perspektive, in dem sie die Selbstsorge einerseits an den Aufbruch der Neuen Sozialen Bewegungen, andererseits an die künstlerischen Avantgarden der Moderne zurückbinden, die vieles von dem vorwegnahmen, was erst im Mai 1968 gesellschaftlich vermittelt wurde. Eine dritte Orientierung tritt in Foucaults immer intensiverer Auseinandersetzung mit Formen der religiösen Spiritualität hinzu, die in der begeisterten Aufnahme der Anfänge der Iranischen Revolution 1978 einsetzt, sich im Studium sowohl der antiken wie der christlichen Spiritualität ausweitet und in der streng formalisierenden Aneignung ursprünglich religiöser oder philosophischer Subjektivierungspraktiken an Nietzsche, Heidegger, Bataille und den Surrealismus erinnert. Die vierte Orientierung ergibt sich dann nur scheinbar paradox in einer Zuordnung der Existenzästhetik zum Prozess der Aufklärung, in der sich Foucault in auffällig unentschiedener Weise auf Kant bezieht.[19] Tatsächlich liegt hier die eigentliche Neuerung im existenzästhetischen Subjektentwurf: im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen und deshalb im Namen von Nicht-Identität und Differenz entfaltet, unterstellt Foucault die „Sorge um sich“ zugleich der Verpflichtung auf eine vernunftbestimmte Autonomie und nimmt damit unter der Hand die Problematik wieder auf, die Sartre im moralischen Begriff der singular-universalen Existenz gefasst hatte. Wohl auch deshalb kommen alle vier Orientierungen der Existenzästhetik in einer geradezu abrupt eingeführten Berufung auf eine den Machtbeziehungen vorausgehende „Intransitivität der Freiheit“ zusammen, von der es in Subjekt und Macht heißt: „Wenn man Machtausübung als ein auf Handeln gerichtetes Handeln definiert, wenn man sie als ‚Regierung’ von Menschen durch andere Menschen im weitesten Sinn des Wortes beschreibt, dann schließt man darin ein wichtiges Element ein, nämlich das der Freiheit. Macht kann nur über ‚freie’ Subjekte ausgeübt werden, insofern sie ‚frei’ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. (…) Machtbeziehung und Widerspenstigkeit der Freiheit lassen sich also nicht trennen. (…) Den Kern der Machtbeziehungen, der sie immer wieder ‚provoziert’, bilden die Relativität des Wollens und die Intransitivität der Freiheit.“[20]

II.2. Subsumtion des Lebens unter das Kapital

Direkt im Anschluss bindet Foucault diesen nicht nur in der Wortwahl an Sartre erinnernden Freiheitsbegriff dann aber an einen a-teleologischen „Agonismus“ der Macht zurück, den er dabei ausdrücklich von jedem Antagonismus und damit von jeder Dialektik absetzt.[21] Für uns markiert diese Stelle deshalb den Punkt des Übergangs zu Michael Hardt und Toni Negri wie zu Alain Badiou und Slavoj Žižek, die ihr Denken umgekehrt in der Perspektive eines Antagonismus entfalten, den erstere erklärtermaßen als dialektischen, letztere immerhin als teleologisch gerichteten verstehen.[22] Trotz deutlich unterschiedlicher Akzentuierung nehmen sie dabei ausdrücklich in den Blick, was bei Foucault, dem Poststrukturalismus und den Neuen Sozialen Bewegungen methodisch außer Acht blieb: Gesellschaft und Geschichte als ein Ganzes. Ich hebe davon wieder nur den Punkt ab, der auf die Frage des Verhältnisses von Vereinzelung und Vergesellschaft führt.

In einer marxistisch orientierten Durcharbeitung der poststrukturalen wie der feministischen Forschungen zur Biomacht fassen Hardt/Negri den Postfordismus begrifflich als „Biokapitalismus“ und verweisen so auf die systematische Entgrenzung der alle historischen Varianten des Kapitalverhältnisses übergreifenden „reellen Subsumtion“ der Arbeit zur „reellen Subsumtion“ des ganzen gesellschaftlichen Lebens und damit überhaupt der Produktion der Menschen durch die Menschen.[23] Mit ihr dehnt das deshalb auch so genannte „Biokapital“ seine produktive Verwertung über die fabrikmäßig organisierte Verarbeitung materieller Ressourcen auf sämtliche Lebensvollzüge und –bereiche und damit auf die Verarbeitung auch der „immateriellen“ Ressourcen der Sprache, des Wissens und der sozialen Beziehungen aus. In den Fokus der Verwertung treten deshalb die Dienstleistungen der Information im weitesten Sinn, der Bildung und Freizeit, der Gesundheits- und Altersfürsorge wie die Infrastrukturen des Wohnens und des Verkehrs, in der Tendenz schließlich das Ganze des Zusammenlebens menschlicher Wesen. Dem entspricht die tendenzielle Löschung der Trennung von Real- und Finanzökonomie wie, im nochmals erweiterten Sinn, der Trennung der Ökonomie von den Feldern der Politik wie der Ideologie, die bis dahin das dreigliedrige Ganze von Gesellschaft bestimmt hat. Überholt werden alle diese Tendenzen schließlich von der Subsumtion nicht nur des gesellschaftlichen, sondern auch des „natürlichen“ Lebens – vom Atom und Genom über die pflanzliche und tierische Reproduktion bis zur strategischen Planung einer Kolonisation des Weltraums. Wohlgemerkt: alle diese Entwicklungslinien sind einerseits noch immer Tendenzen und andererseits nicht erst im Biokapitalismus, sondern schon in den ihm vorausgehenden Produktionsweisen anzutreffen. Doch werden sie erst jetzt systematisch, strategisch und in ihrem Ganzen zum Medium einer einzigen Tätigkeit: der Verwertung von Kapital.

Der strategische Einsatz, mit dem Hardt/Negri diesem Prozess begegnen, liegt in einer zweiten Entgrenzungsbewegung: derjenigen des Klassenkampfs. Erhoben Marx/Engels den Klassenkampf zum dynamischen Moment der gesellschaftlichen Entwicklung, so entgrenzen Hardt/Negri ihn zum „anthropologischen Exodus“ aus allen überkommenen Weisen der Vereinzelung wie der Vergesellschaftung.[24] Dabei fallen Universalisierung (Alte Soziale Bewegung) und Pluralisierung (Neue Soziale Bewegungen) in einer „Bewegung der Bewegungen“ zusammen, in der die aus ungezählten Singularitäten gebildeten „Multituden“ (Mengen) ihre zugleich politische, ökonomische und ideologische Organisation finden.

III. …außer dass es Wahrheiten gibt.

Auch wenn Badiou und Žižek ihren Akzent eher auf die ideologische Problematik der Postmoderne als auf die politische Ökonomie des Postfordismus setzen, stimmen sie Hardt/Negris Analyse im Prinzip ebenso zu wie der sie reflektierenden Entgrenzung des Klassenkampfs. Der kommunistischen Tradition bleiben alle vier allerdings in der ausdrücklichen Hinwendung auf das Problem eines im eminenten Sinn des Worts politischen Subjekts verbunden, dessen Bildung sie wie Marx als Problem der Politisierung eines universalen Subjekts fassen. Marx selbst fand seine Antwort bekanntlich in der Subjektposition der Kommunist/innen, die er im Übergang von der Philosophie zur Politik und deshalb unverkennbar nach dem Selbstverständnis der junghegelianischen Philosoph/innen entwarf. Als deren materialistische Erbfolger/innen vertreten die Kommunist/innen keine „getrennten“, d.h. partikularen Interessen und bilden deshalb auch „keine besondere Partei neben den anderen Arbeiterparteien“, sondern verpflichten sich allein dem weltweit gemeinsamen Interesse der universalen Klasse und damit dem Interesse der „Gesamtbewegung“ von Geschichte. Deshalb stellen sie auch „keine besonderen Prinzipien“ auf, sondern entwerfen aus den „Bedingungen“, dem „Gang“ und den „allgemeinen Resultaten“ der Geschichte eine strategische Position, die es ihnen erlaubt, „in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ zu vertreten. Dieser die Gegenwart aus dem Entwurf ihrer eigenen Zukunft bestimmenden Bewegung und nicht einem nach bloß subjektivem „Ideal“ erst „herzustellenden Zustand“ schreibt Marx deshalb auch den Begriff des Kommunismus zu, dessen Wahrheit sich deshalb im dialektischen Prozess der „wirklichen Bewegung“ bewiesen haben wird, „welche den jetzigen Zustand aufhebt.“[25]

Wenn Hardt/Negri wie Badiou/Žižek ihre Subjektfrage wiederum als Frage nach der strategischen Position der kommunistischen Militanten stellen, geht es ihnen zwar nicht mehr um die historisch fortgeschrittenste Form des Klassenbewusstseins, doch nach wie vor um eine in „wirklicher Bewegung“ zu bewährende Subjektivierung der Wahrheit des Politischen: Bilden sich Multituden im Zug der postfordistisch-postmodernen Subsumtion allen Seins unter das Kapital und gleichursprünglich in den Widerständen gegen diese Subsumtion, dann finden diese Widerstände in der Figur der Militanten das Subjekt einer kommunistisch universalisierten „Politik in Erster Person.“ Dabei verorten alle vier das kommunistische Subjekts in einem Zirkel, in dem die Militanten eine ereignishaft prozessierende Wahrheit des Politischen bezeugen, die sich als solche erst im militanten Zeugnis ausweisen kann.[26] Auf die spezifisch postfordistisch-postmoderne Machtkonstellation ist die Militante insofern bezogen, als sie die Logik dieser Konstellation – „Es gibt nur Körper und Sprachen“ – zugleich bejaht und überschreitet. Bejahung und Überschreitung fasst Badiou in einem Zusatz, mit dem er seine „materialistischen Dialektik“ ebenso auf den Punkt bringt wie die „materialistische Teleologie“ Hardt/Negris: „Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.“[27]

III.2. Vitalität, Animalität und Subjektivität

In der Ausarbeitung dieser These nehmen Hardt/Negri, Badiou und Žižek dann allerdings unterschiedliche Positionen ein: erstere eine auf Spinoza zurückgehende vitalistische, Badiou eine auf Platon zurückgehende anti-vitalistische und Žižek eine auf Hegel, Heidegger und Lacan zurückgehende existenzialontologisch-psychoanalytische Position.[28] So ist das militante Subjekt bei Hardt/Negri vitales Subjekt der durch ihre biokapitalistische Entgrenzung freigesetzten und derart unendlichen „Arbeit des Dionysos“, deren Medium und Ziel die Produktion der Menschen durch die Menschen ist. Dabei bringt die Vitalität der im Marxschen Begriff des „general intellect“ gefassten Kooperation und Kommunikation aller mit allen auch die Ereignisse hervor, in denen die Wahrheit des Politischen zum gemeinsamen Prozess der Multituden wird. Letzteres verhält sich bei Badiou gerade andersherum: bei ihm produziert nicht das Subjekt das Ereignis, sondern bringt umgekehrt das revolutionäre Wahrheitsereignis das militante Subjekt hervor, das diese Wahrheit theoretisch und praktisch bezeugt. Deshalb ist das Subjekt bei Badiou nicht eine Subjektivierung der Produktivität des Lebens, sondern der Effekt einer „Ent-Bindung“ (de-liaison) aus der endlichen menschlichen Animalität in die „Ewigkeit“ seiner Wahrheit und die „Unsterblichkeit“ ihrer Subjektivität.[29]

Die innere Problematik beider Positionen gerät nicht zufällig in ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Vereinzelung und Vergesellschaftung in den Blick. Dabei werden Hardt/Negri durch ihre rückhaltlose Bejahung der unendlichen Produktivität des Lebens dazu geführt, noch die biotechnologische Manipulation des Unterschieds von Körper und Maschine kommunistisch wenden zu wollen. Problematisch wird ihre Feier des „anthropologischen Exodus“ in der Bedenkenlosigkeit, mit der die endliche Vereinzelung des Menschenwesens im maschinisierten Kollektiv des „Cyborg“ schlicht zu verschwinden droht: „Produktion lässt sich nicht mehr von Reproduktion unterscheiden; die Produktivkräfte verschmelzen mit den Produktionsverhältnissen; fixes Kapital findet sich zunehmend innerhalb des zirkulierenden Kapitals, in den Köpfen, Körpern und in der Kooperation der Produktionssubjekte. Die gesellschaftlichen Subjekte sind zugleich Produzenten und Produkte dieser Einheitsmaschine. In dieser neuen historischen Formation lassen sich kein Zeichen, kein Subjekt, kein Wert, keine Praxis mehr ausmachen, die ‚außerhalb’ liegen.“[30]

Dieselbe potenzielle Missachtung der menschlichen Endlichkeit und Vereinzelung findet sich umgekehrt aber auch bei Badiou: in seinem Fall in einer ebenso fahrlässigen, weil allzu unbedenklichen Bejahung des Terrors, zu dem das unsterbliche Wahrheitssubjekt gegen sein eigenes wie das sterbliche Leben der anderen zumindest bereit sein soll.[31]

Kenntlich wird die beiden Subjektentwürfen einwohnende Überdrehung über die dritte Position, die an dieser Stelle Žižek bezieht. Obwohl auch er ein offenes Verhältnis zur Biotechnologie einnimmt[32] und seine Bejahung revolutionärer Gewalt in bis zur Geschmacklosigkeit zugespitzten Provokationen vorträgt, setzt er der unendlichen Produktivität des Lebens wie der Unsterblichkeit des Wahrheitssubjekts in der vereinzelten endlichen Existenz genau die Grenze, die bei Hardt/Negri wie bei Badiou zu verwischen droht. Obwohl auch er in der Ent-Bindung des Einzelnen aus seinem/ihrem unmittelbaren Dahinleben die erste Voraussetzung autonomer Subjektivierung sieht, kritisiert er Badious abstrakte Unterscheidung „zwischen der Sterblichkeit (eines endlichen Wesens, das zum Zugrundegehen bestimmt ist) und dem Vermögen, an der Ewigkeit eines Wahrheits-Ereignisses zu partizipieren.“ Gegen Badiou wie gegen Hardt/Negri beharrt Žižek auf der allen anderen Wahrheiten einbeschriebenen „Wahrheit der Existenz“, nach der wir es auch und gerade im Politischen „mit einem endlichen/sterblichen Wesen zu tun haben“, das sich darin immer auch auf sich vereinzelt.[33] Wenn dieses Subjekt auf sein bloßes Leben und damit seine Sterblichkeit nicht reduziert werden kann, dann weil es sich gerade in und aus dieser Endlichkeit als „die negative Geste des Ausbruchs aus den Zwängen des Seins“ bestimmt, „die erst den Raum für eine mögliche Subjektivierung eröffnet.“[34]

Indem Žižek die Negativität der Ent-Bindung als einen selbst vitalen Akt der Konversion des Vitalen denkt, legt er in den Unendlichkeitsphantasmen Badious und Hardt/Negris ein „Nicht-Gedachtes“ frei, das er im „Thema der menschlichen Endlichkeit“ verortet. Dessen philosophischen Begriff findet er im „heideggerianischen ‚Sein-zum-Tode’“ und im „freudianischen ‚Todestrieb’“ und entwirft von dort her ein Subjekt, das die Spaltung von Subjektivität und Animalität existenzästhetisch zu sublimieren und politisch zu universalisieren vermag.[35] Dass die ins Subjekt selbst verlegte Spaltung von Subjektivität und Animalität immer nur im Einzelfall vollzogen werden kann, hat kürzlich Felix Ensslin auf den Punkt gebracht. Von zwei Redakteuren des SPIEGEL im Interview in die Opferrolle des von der Terroristin-Mutter verlassenen Sohnes gedrängt, antwortet er: „Ich sitze hier lebendig, nicht geopfert. Gudrun Ensslin hat ihre Mutterschaft aufgegeben. Ja. Darunter hatte auch ich zu leiden. Aber wenn jemand die Entscheidung trifft, einer einzigen Wahrheit, in diesem Fall der von Gudrun wahrgenommenen Wahrheit der Revolution, alles unterzuordnen, dann wird alles andere eben nur durch diese Linse gesehen. Dass wir das können – auch wenn es zu falschen Konsequenzen führt -, unterscheidet uns: Wir sind keine Tiere. Wir sind nicht dazu da, unser biologisches Fortkommen zu sichern.“[36] Davon war und ist hier die Rede, auch im Folgenden.

IV. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.

Mit dem freien Sichverhalten zur eigenen Endlichkeit hat Žižek zwar die die erste Bedingung des freien Sichverhaltens überhaupt, damit aber noch nicht die Bedingung seiner möglichen gesellschaftlichen Mitteilung und Verallgemeinerung benannt. Dazu aber ist es philosophisch wie politisch nach wie vor unumgänglich, sich die existenziale Ur-Szene der Mitteilung von Freiheit zu vergegenwärtigen, die Hegel im Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie freigelegt hat. Beginnt auch Hegel in der Selbsterfahrung der Freiheit als eines Seins, dass seine Wahrheit darin hat, sich von jeder unmittelbaren Bestimmtheit ent-binden zu können, geht er von dort schon im nächsten Schritt zur Notwendigkeit ihrer „Darstellung“ in der Begegnung mit dem anderen über. Die Darstellung von Freiheit schließt dann aber, das ist Hegels eigentlicher Punkt, die gegenseitige Bezeugung und darin die gegenseitige Anerkennung des Vermögens zur Ent-Bindung ein und ist insofern ein notwendig inter-subjektives oder ko-existenzielles, also ein „gedoppeltes Tun“: „Tun des Andern, und Tun durch sich selbst.“ Das Radikal des je „gedoppelten Tuns“ freier Wesen ist der „Kampf um Leben und Tod“: „Sie müssen in diesen Kampf gehen“, schreibt Hegel, „denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Andern und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, dass dem Selbstbewusstsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens – das Wesen, sondern dass an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, dass es nur reines Für-sich-sein ist. Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbstständigen Selbstbewusstseins nicht erreicht.“[37]

Der philosophisch-politische Gehalt der in der gegenseitigen Freiheitsmitteilung ausformulierten „Wahrheit der Existenz“ kann dann in drei Punkten festgehalten werden. Der erste liegt darin, im „gedoppelten Tun“ das zugleich materiale wie formale Kriterium und im „Kampf um Leben und Tod“ das Radikal zu entwerfen, um die Ent-Bindung aus dem „Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens“ nicht nur als moralisches Sollen zu verstehen.“ Stattdessen kann gezeigt werden, dass Ent-Bindung ein immer schon inter-subjektiver bzw. ko-existenzieller Akt ist und als solcher, wie Honneth zu Recht schreibt, eine ebenfalls immer schon wirksame „moralische Grammatik sozialer Kämpfe“ begründet. Dabei zeigen die aktuellen Ereignisse auf den Hauptplätzen von Tunis, Kairo, Damaskus, Sanaa und Bengazi, dass die Durchsetzungsperspektive dieser Kämpfe immer auch an der Bereitschaft hängt, sie im Letzten tatsächlich auf Leben und Tod zu führen.[38] Im zweiten Punkt ist in Konsequenz des ersten dann ausdrücklich festzuhalten, dass diese Grammatik der Kämpfe dem kontingenten Auf und Ab des gesellschaftlichen Werdens das Minimum an Vernunft einschreibt, mit dem im Werden so etwas wie „Weltgeschichte“ ausgemacht und als immerhin erreichter „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ auch verstanden werden kann. Dessen Wirksamkeit manifestiert sich in dem Maß, in dem es den vielfältigen Widerständen gegen Herrschaft, Ausbeutung und Subjektivierung gelingt, ihre Anerkennungsbeziehungen in wachsender Ausdehnung und auf Dauer zu institutionalisieren. In den Verhältnissen von Vereinzelung und Vergesellschaftung stufen sich diese Anerkennungsbeziehungen von der Sphäre der Liebes-, Freundschafts- und weiteren Alltagsbeziehungen über die in den Feldern der Ökonomie, Politik und Ideologie unausgesetzt umkämpften Rechtsbeziehungen bis zu den universellen Solidaritäten auf, in denen das alle drei Felder durchwirkende Politische zur prozessierenden Wahrheit wird. Der dritte Punkt nennt die mit diesem Vernunftbegriff gegebene Möglichkeit, ein Ende der Geschichte immerhin denken zu können – ein Ende als datierbares Aufhören der ja tatsächlich unerhörten Anstrengungen wie ein Ende als ihr dann hoffentlich verwirklichtes Ziel. Erreicht wäre dieses Ende dann, wenn sich der Satz Hegels universell realisiert hätte, mit dem dieser Abschnitt überschrieben ist: „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“[39]

Der materialistische, d.h. von jedem Unendlichkeitsphantasma abgelöste Charakter dieses Vorgriffs auf ein Ende der Geschichte liegt dann in wenigstens zwei definitiv nachhegelianischen Grundeinsichten: dass die „Vernunft in der Geschichte“ ein Projekt ohne jede transzendente Garantie ist und deshalb im schlimmsten Fall trotz allem „auf verlorenem Posten“ agiert, und dass ein Ende der Geschichte sozialer Kämpfe „nur“ den Ausgangspunkt von qualitativ neuen Werdensprozessen jenseits des uns bekannten Politischen bilden wird.[40] Dem so verstandenen Vorgriff auf ein Ende der Geschichte enthüllt sich das vorgeblich „antitotalitäre“ Bekenntnis des Liberalismus wie der Postmoderne zu einer prinzipiell unabschließbaren Geschichte als ideologische Verewigung der aktuellen Herrschafts-, Ausbeutungs- und Subjektivierungsverhältnisse und damit, mit Hegel zu reden, als Phantasma einer „schlechten Unendlichkeit.“

V. Die Militante und der „Strolch“

Eine materialistische Bestimmung der im Anerkennungsexistenzial begründeten „moralischen Grammatik sozialer Kämpfe“ schließt dann allerdings die Bestimmung ihrer Artikulation in deren tatsächlichem Prozess ein. Dass eine solche Bestimmung dann aber keine Sache allein der Philosophie sein darf, hebt Honneth hervor, wenn er im Schlusssatz seines Kampf um Anerkennung ausdrücklich offen lässt, ob die aktuellen Einsätze der Kämpfe „eher in die Richtung eines politischen Republikanismus, eines ökologischen Asketismus oder eines kollektiven Existenzialismus weisen, ob sie Veränderungen in den ökonomisch-sozialen Gegebenheiten voraussetzen oder mit den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft vereinbar bleiben.“ Dabei hält Honneth den inneren Zusammenhang dieser Optionen mit der hier leitenden Frage nach dem Verhältnis von Vereinzelung und Vergesellschaftung in der Bestimmung fest, nach der es dabei sowohl um die „Erzeugung einer posttraditionalen Solidarität“ in globaler Dimension als auch um den je von einer Einzelnen einzunehmenden „Ort des Partikularen im Beziehungsgefüge einer modernen Form von Sittlichkeit“ geht.[41] Indem ich im Folgenden aus der Perspektive der für die aktuellen sozialen Bewegungen strategisch wie programmatisch maßgeblichen Globalen Sozialen Rechte umreiße, wie sich die Optionen Honneths letztlich zu einem Gemeinsamen fügen, möchte ich zugleich den Punkt benennen, an dem sich die hier nachgezeichnete Dialektik der Anerkennung auf etwas stößt, das sich ihr nur in der Weise des Entzugs öffnet.

Eine prominente philosophische Erörterung haben die Globalen Sozialen Rechte nicht zufällig im Schlussteil von Hardt/Negris Empire gefunden, unmittelbar vor dem hier schon zitierten Kapitel zur Militanten. Hardt/Negri heben dabei drei Rechte hervor und verbinden sie zu einer politischen „Plattform“ der Multituden: das „Recht auf Weltbürgerschaft“, das „Recht auf einen sozialen Lohn“ und das „Recht auf Wiederaneignung“.[42] Wenn sie dem „Recht auf Wiederaneignung“ dabei insofern einen Vorrang verleihen, als sie ihm den Titel des „Telos“, also des letzten „Endes“ der ganzen Multitudenbewegung zuerkennen, liegt das daran, dass der Anspruch der Wiederaneignung dem Ganze der Produktionen der Menschen durch die Menschen gilt. Zur Auszeichnung dieses Rechts gehört, dass mit ihm Honneths Frage nach der Notwendigkeit umfassender „Veränderungen in den ökonomisch-sozialen Gegebenheiten“ positiv beantwortet wird – wenn auch nicht so, dass damit schon die genaue Form einer vom Kapital befreiten politischen Ökonomie bestimmt wäre.

Die beiden anderen Rechte haben demgegenüber einen eher reformistischen Charakter und sind als solche schon unter fortdauernder kapitalistischer Herrschaft zu verwirklichen. Nennt das von den Bewegungen der Migrant/innen vielerorts schon praktizierte Recht auf Weltbürgerschaft den konkreten Gehalt eines politischen Republikanismus unter den Bedingungen der Globalisierung, steckt der konkrete Gehalt des von Honneth so genannten kollektiven Existenzialismus im Recht auf einen sozialen Lohn, also auf ein bedingungslos allen auszuzahlendes „Existenzgeld.“[43] Zeigen lässt sich das im Durchgang durch die drei Begründungen, mit denen dieses Recht in den Bewegungen unterlegt wird. Die erste Begründung sieht im Existenzgeld eine Maßnahme der sozialstaatlichen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums unter den Bedingungen strukturell prekarisierter Arbeitsverhältnisse. Die zweite Begründung ist die von Hardt/Negri selbst und sieht im Existenzgeld zu Recht den ökonomischen Vermittlungsschritt zur Wiederaneignung, dem politisch die Weltbürgerschaft korrespondiert, die dann den universellen Zugang zum sozialen Lohn sichert. Dabei quittiert das Existenzgeld den Übergang von der Subsumtion der Arbeit zur Subsumtion des Lebens unter das Kapital und „entlohnt“ die Teilhabe überhaupt an der Produktion der Menschen durch die Menschen – egal, wie, wo und wodurch sie geleistet wird.[44]

Das dritte Argument für den sozialen Lohn begründet den sozialen Lohn dann aber nicht mit, sondern ganz ausdrücklich gegen das Hohelied der Arbeit, das Hardt/Negri trotz der dionysischen Intonation insgeheim mit Hegel verbindet. Stattdessen entwirft dieses Argument das Existenzgeld als einen das Verhältnis von Vereinzelung und Vergesellschaftung in radikal neuer Weise bestimmenden Akt der Anerkennung, der auf Gegenseitigkeit nicht rechnet und damit über das allen historischen Vergesellschaftungsweisen einbeschriebene Ressentiment gegen den anderen hinausgeht, der sich der Teilhabe am „Gattungswesen“ entzieht – sei es in einer im herrschenden „Reich evaluativer Gründe“[45] grundlosen und deshalb unverständlichen Weigerung, sei es in der noch weniger, eigentlich gar nicht fassbaren Form, in der er/sie/es überhaupt nicht „identifiziert“ werden kann, weil seine/ihre Andersheit radikal negativ bleibt.

Wer dafür ein Beispiel sucht, sei an die Literatur verwiesen: an die Figuren Samuel Becketts, an das „Ich möchte lieber nicht“ des Schreibers Bartleby bei Herman Melville oder, ihnen noch voraus, an die beiden für den Surrealismus maßgeblichen Dichter Isidore Ducasse und Jean-Arthur Rimbaud. Ersterer hinterließ in seinen pseudonym verfassten Gesängen des Maldoror ein Evangelium des Bösen und verhungerte im Alter von nur 24 Jahren im preußisch belagerten Paris. Letzterer nahm am Aufstand der Kommune teil, gab das Schreiben mit 21 Jahren auf, irrte lange Jahre durch Europa und Afrika, wo er sich u.a. als Waffenhändler durchschlug, und starb mit 37 Jahren kurz nach seiner Rückkehr an Krebs. „Priester, Professoren, Advokaten“, schrieb Rimbaud, „ihr irrt, wenn ihr mich dem Gericht ausliefert. Diesem Volk da habe ich nie angehört; ich bin niemals Christ gewesen; ich bin von der Rasse, die in der Folter sang; ich verstehe die Gesetze nicht; ich habe keinen Sinn für Moral, ich bin Barbar: ihr irrt euch… Ja, meine Augen sind eurem Licht verschlossen. Ich bin ein Tier, ein Neger.“[46] In seiner Biographie Rimbauds beschreibt ihn der Dichter Benjamin Fondane als einen „Strolch“ im übelsten Sinn des Wortes, als rückhaltlos Vereinzelten einer „Revolte gegen das Leben-müssen“, die zugleich eine „Revolte gegen den Tod“ war: „Seine Gefühllosigkeit in allen rein menschlichen Dingen muss wohl die Frucht einer übergroßen, ungeheuerlichen Empfindsamkeit sein, die sich auf etwas richtete, das er zwar nicht fand, doch das darum nicht abließ, ihn zu quälen.“[47] Im Versuch des Verstehens dieser Revolte liegt der entscheidende Punkt in einer letzten Unentscheidbarkeit: Ist seine/ihre „Gefühllosigkeit“ das Symptom einer Ent-Bindung aus allem Dahinleben in „guter Gesellschaft“, in der der „Strolch“ die Singularität einer in ihrer Radikalität faktisch un(an)erkennbaren Menschlichkeit ist, oder ist sie umgekehrt Symptom eines zu keiner Ent-Bindung und deshalb keiner Anerkennung fähigen „Versenktseins in die Ausbreitung des Lebens“? Ducasse hat ein zweites Buch, das zu einem Hymnus des Guten werden sollte, nicht mehr fertig gestellt, Rimbaud ergänzt die oben stehenden Verse durch den Satz „Aber ich kann gerettet werden.“ Bertolt Brecht hat die von beiden aufgeworfene Frage im Untergang des Egoisten Johann Fatzer zunächst zugunsten der ersten, dann zugunsten der zweiten Option entscheiden wollen, das Stück selbst aber trotz jahrelanger Arbeit nie zum Abschluss bringen können. Zurück blieb ein Fragment von 400 Seiten, in dem der „Strolch“ Fatzer im Anerkennungskampf mit dem Kommunisten Koch zwar das letzte Wort, doch so wenig Recht behält wie sein Gegenüber:

Fatzer: Koch, Du kannst nicht für dich sorgen und willst der ganzen Welt helfen. Euer Finger, mit dem ihr auf das Unrecht der Welt zeigt, ist schon faul: ein schwarzer Finger! Und euer klagender Arm fällt schon aus der Schulter!

Koch: So schlecht, Fatzer, ist eben unsere Lage, dass weniger als die ganze Welt uns nicht helfen kann. Also muss ein Plan, uns zu helfen der ganzen Welt helfen.

Fatzer: Alles, was nach uns geschieht ist, als geschäh es nicht.[48]

Aus dieser Unentscheidbarkeit heraus räumen die im Recht auf einen sozialen Lohn enthaltene Gabe ohne Gegengabe und die im Recht auf Weltbürgerschaft gewährte Gastfreundschaft ohne Identitätsnachweis dem „wirklichen Leben“, dessen Abwesenheit Brecht kaum weniger bezeugt als Rimbaud, eine im wahrsten Sinn weltgeschichtliche Bleibe ein: ein Verhältnis von Vereinzelung und Vergesellschaftung im Schritt hinaus über alle Ökonomie (alle Gegenseitigkeit) und im Schritt hinaus über alle Ideologie (alle Unendlichkeitsphantasmen), in dem bedingungslos allen eine Wahrheit des Politischen zugesprochen wird: „Man sollte geben, ohne zu wissen, ohne Kenntnis noch Anerkennung: ohne etwas, auf jeden Fall ohne Objekt.“[49] Von ihr aus wäre zuletzt die noch unbesprochene Option zu problematisieren, die vielleicht in der Form eines ökologischen Asketismus dem anderen zu gewähren ist, das wir als nicht-menschliches Leben und Sein zwar zu berechnen, doch offensichtlich so wenig anzuerkennen wissen, dass wir mit ihm längst auch unsere eigene Existenz der Gefahr endgültiger Zerstörung ausgesetzt haben.[50]

[1] Jean-Arthur Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle, Stuttgart 1970, S. 37.

[2] Die unscheinbare alltagssprachliche Wendung vom gemachten oder festzuhaltenden „Punkt“ gebrauche ich hier immer auch in der Bedeutung, die sie bei Alain Badiou gewonnen hat, vgl. Theorie der Punkte, in: Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis Bd. 2, Zürich-Berlin 2010, S. 423 – 475. Im angehängten Wörterbuch der Begriffe heißt es definitorisch: „Ein Punkt der Welt (eigentlich des Transzendentals einer Welt) ist die Vorladung der unendlichen Totalität der Welt (der Totalität der Grade) vor die Instanz der Entscheidung, also die Dualität von ‚ja’ und ‚nein’. ‚Einen Punkt festhalten’ heißt: diese Instanz gegenüber der Welt festhalten. Oder auch: die subjektiven – und also körperlichen und formalen – Mittel haben, die Situation dem Entscheidungsdruck der Zwei zu unterwerfen (ich sage ‚ja’ oder ‚nein’, ich finde und deklariere einen Punkt der Situation).“ Ebd., S. 617.

[3] In der Folge der Differenz Individuum-Singularität übernehme ich diesen Begriff Sartres (l’universel singulier) bewusst als Alternative zum im deutschen Sprachraum üblichen Begriff des „individuellen Allgemeinen“, vgl. Jean-Paul Sartre, Das singulare Universale, in: Mai 68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze Bd. 2, Hamburg 1975, S. 123 – 151.

[4] Ich verwende den Begriff der Militanten nach dem außerdeutschen Sprachgebrauch, wo er nicht notwendig eine politische Gewalttäter/in, sondern eine Aktivist/in nennt, die sich in ihrem ganzen Leben maßgeblich an ihre politische Wahrheit bindet. Der Begriff „Wahrheit der Existenz“ geht auf Heidegger zurück, vgl. Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 221, 297, 307f.

[5] Den Titel dieses Zwischenstücks entnehme ich einem Text Michel Foucaults aus dem Jahr 1970, vgl. Theatrum Philosophicum, in: Gilles Deleuze, Michel Foucault, Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, S. 21 – 59.

[6] Zum Begriff der materialistischen Dialektik bei Badiou vgl. Logiken der Welten, a.a.O., S. 17ff. Zu Žižeks Spiel mit dem „Dialektischen Materialismus“ vgl. On Alain Badiou and the Logiques des Mondes, http://www.lacan.com/zizbadman.htm.

[7] Zumindest im Ansatz folgen Badiou und Žižek dabei Hegels berühmter Formulierung: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 4, Frankfurt/M 1970, S. 24. Wenn eine Rekonstruktion dieses Wahrheitsbegriffs heute notwendig durch Adornos Einspruch „Das Ganze ist das Unwahre“ führt, ist damit einer der Gründe genannt, warum die hier entfaltete Dialektik eine materialistische, d.h. eine nachmetaphysische sein muss. Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M 1951, S. 57.

[8] Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M 1977, S. 50

[9] Zum Begriff der Globalen Sozialen Rechte vgl. den Sammelband Roland Klautke, Brigitte Oehrlein (Hg.), Globale Soziale Rechte. Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte, Hamburg 2008, darin meinen Aufsatz Die Bürgerrechte der Menge. Über einige Konvergenzen der sozialen Kämpfe und der Philosophie, S. 38 – 56.

[10] Der Kampf um Anerkennung markiert den Punkt, über den sich Hegels Dialektik in den Marxismus, die Kritische Theorie, die Psychoanalyse, die existenziale Ontologie, den Feminismus und eben auch in den Poststrukturalismus eingeschrieben hat. Begrifflich vermittle ich diesen fragilen Zusammenhang in der Erhebung des Anerkennungskampfs zum „Existenzial“, d.h. zu einer transhistorischen Form des menschlichen Lebens, von der nicht abgesehen werden kann, soll dieses Leben in seinem Vollzug verstanden werden. Damit folge ich Herbert Marcuse und natürlich Alexandre Kojève, der darin zum Lehrer u.a. Georges Batailles, Jean-Paul Sartres, Simone de Beauvoirs und Jacques Lacans wurde. Zugleich arbeite ich damit den Vorbehalt aus, unter den ich meine eigene Kritik der Anerkennungsdialektik in der fünfzehnten meiner Kommunismus-Thesen gestellt habe, vgl. Thomas Seibert, Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009, S. 12, S. 71 – 78. Ich nehme diesen Punkt ganz am Schluss noch einmal auf.

[11] Foucault, Subjekt und Macht, in: Schriften Bd. 4, Frankfurt/M 2005, S. 273 – 276.

[12] Foucault, Gespräch mit Ducio Trombadori, in Schriften Bd. 4, a.a.O., S. 117.

[13] Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt/M 1977, S. 116f.

[14] Vgl. Alain Badiou, Logiken der Welten, a.a.O., S. 17ff. Zum Begriff der „Flucht“ vgl. in dichter Darstellung Gilles Deleuze, Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/M 1980, S. 133 – 159.

[15] Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M 1993, S. 257, im Zusammenhang S. 254 – 262; vgl. voran stehend auch Kontrolle und Werden, S. 243ff. Für eine marxistische Beschreibung des Transits von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft vgl. Joachim Hirsch, Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus, Hamburg 1986.

 

[16] Für eine erste Übersicht vgl. das Dossier der linken Wochenzeitung, http://www.woz.ch/dossier/gender.html. Zur grundsätzlichen Einführung sind nach wie vor zu empfehlen einerseits Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, Frankfurt/M 1991 und andererseits Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz, ebenfalls Frankfurt/M 1991. Dass die eine nicht gegen die andere Position, sondern beide gemeinsam auszuspielen wären, zeigt bündig Getrude Postl: Weder Eine noch Zwei. Zur feministischen Kritik einer dualen Konstruktion von Sexualität und Geschlecht, e-Journal Philosophie der Psychologie, www.jp.philo.at/PostlG1.pdf, März 2007. Für eine großangelegte, den „Gender-Streit“ allerdings in parteilich differenzfeministischer Weise einholende Arbeit aus jüngster Zeit vgl. Tove Soiland, Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz, Wien 2010.

[17] Vgl. dazu ihr wesentlich Plato gewidmetes erstes Hauptwerk Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, speziell zu Heidegger vgl. The Forgetting of Air in Martin Heidegger, Austin/Texas 1999.

[18] Luce Irigaray, Welt teilen, Freiburg 2010, S. 152.

[19] Material ausgearbeitet hat Foucault diese Wende in den drei Bänden der Studie Sexualität und Wahrheit, ihr krisenhafter Charakter zeigt sich in dem achtjährigen Abstand zwischen dem Erscheinen des ersten (1976) und des zweiten (1984) Bandes; die deutschen Ausgaben erschienen zeitgleich 1986 in Frankfurt/M. In programmatisch dichter Form entwickelt Foucault seine existenzästhetische Wende in den Aufsätzen Subjekt und Macht und Was ist Aufklärung?, beide in Schriften Bd. 4, a.a.O., S. 269 – 294 bzw. 687-706; in letzterem nimmt er ausdrücklich und in einem Zug Baudelaire und Kant zum Zeugen. Von ähnlich programmatischer Bedeutung ist zweifellos seine letzte Vorlesung Hermeneutik des Subjekts (Frankfurt/M 2004), in der der ethisch-politisch formalisierte Begriff der Spiritualität ausdrücklich zum Leitbegriff der Existenzästhetik wird. Zu Foucaults Auseinandersetzung mit den Anfängen der Iranischen Revolution vgl. Schriften Bd. 4, S. 850-906, 929-943, 949-953, 974-977, 987-992. Im selben Jahr reiste Foucault nach Japan und setzt sich dort mit den spirituellen Selbstpraktiken des Zen-Buddhismus auseinander, vgl. Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel, in: Schriften Bd. 3, Frankfurt/M 2003, S. 776 – 782.

[20] A.a.O., S. 287.

[21] Wenn die Unentschiedenheit der letzten Position Foucaults gerade an dieser Stelle offenkundig wird, so deshalb, weil die Klärung des Verhältnisses zwischen einer a-subjektiven Kräfteökonomie von Macht und Gegenmacht und einer Ontologie menschlicher Freiheit jetzt geradezu unausweichlich wird. Das schließt eine Durcharbeitung auch des Foucaultschen Historismus ein, der als solcher nur eine abstrakte Verneinung geschichtsmetaphysischer Positionen ist. Wie gesagt: Schritte, die zu gehen sich Foucault in seiner letzten Wende schon entschlossen hat.

[22] Vgl. Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M 2002, 61, 65, 76 – 79, 98, 139, 214, 375f., S. 412. Auf S. 403 wird die materialistische sogar als „theurgische“ Teleologie bezeichnet. Vgl. auch Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/M 2010, S. 73, 385 sowie programmatisch schon in ihrem ersten gemeinsamen Buch Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1977, S. 149 – 153.

[23] Der Begriff der „Produktion des Menschen durch den Menschen“ leitet die Debatten und Forschungen des Netzwerks UniNomade, zu dem Hardt/Negri gehören. Vgl. dazu http://uninomade.org/ sowie auf Deutsch den Sammelband Sandro Mezzadra, Andrea Fumagalli (Hg.), Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien, Münster 2010, S. 21, 44, 93, 107f. Vgl. allerdings auch den in feministischer Perspektive vorgebrachten Vorbehalt der Übersetzer/innen der deutschen Ausgabe, nach dem ich den Ausdruck in den Plural gesetzt habe, vgl. ebd., S 8.

[24] Im Begriff des „Exodus“ markieren Hardt/Negri ihre Differenz zur Dialektik, derzufolge es nicht um eine Dynamik der Aufhebung, sondern der „Trennung“ geht: im „proletarischen Exodus“ um eine Trennung der Arbeit vom Kapital, im „anthropologischen Exodus“ um eine Trennung der Singularitäten von der Menschen-Form. Stammt die erste Bestimmung aus der Tradition des italienischen Operaismo, reflektiert die zweite Hardt/Negris Auseinandersetzung mit der poststrukturalen Nietzscherezeption und Deleuzes Begriff der „Flucht“, vgl. Empire, a.a.O. S. 227 bzw. 225 sowie hier Fußnote 14.

[25] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke Bd. 4, Berlin/DDR 1959, S. 474ff. bzw. 492, sowie Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke Bd. 1, Berlin/DDR 1976.

[26] Um der Verwechselung des Zirkels von Subjekt, Wahrheit und Ereignis mit einem logischen Zirkel vorzubeugen, sei er knapp am Beispiel des Russischen Oktober erläutert. Unter dessen „Wahrheit“ versteht Badiou nicht eine sachlich richtige Aussage, sondern das auf das Ereignis „1917“ folgende und bis zu seinem Abbruch unter Stalin fortdauernde Prozessganze der Oktoberrevolution einschließlich der internen Auseinandersetzungen seiner Militanten. Hinzuzunehmen ist dazu das nie vollständig einzuholende Ganze der materiellen und symbolischen Bedingungen des Ereignisses, das Badiou im Begriff der „Ereignisstätte“ fasst. Badiou entfaltet diesen Zirkel schon in seinem ersten großen Werk, der deshalb auch so genannten Théorie du Sujet, Paris 1982, Žižek unter ebenfalls beredtem Titel im Hauptwerk Tücke des Subjekts, Frankfurt/M 2001, Hardt/Negri entwerfen ihren Militanzbegriff nicht zufällig im Schlusskapitel von Empire, S. 418 – 421

[27] Logiken der Welten, a.a.O., S. 20.

[28] Unterschiede wie Gemeinsamkeiten habe ich in mehreren Aufsätzen entfaltet: Die Abenteuer der Ontologie. Zwischenbilanz einer laufenden Auseinandersetzung um das biopolitische Sein, in: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos, Biopolitik in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 163 – 181; Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik, in: Isabelle Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg.) Inventionen, Zürich 2011, S. 110 – 128; Figurationen der Ent-Bindung, in: Jens Knipp, Frank Meier, Treue zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious, Münster 2010, S. 41 – 63.

[29] Zum Begriff der Ent-Bindung vgl. u.a. Badiou, Über Metapolitik, a.a.O., S. 79ff.; Ist Politik denkbar?, Berlin 2010, S. 25ff.; Deleuze, Zürich 2003, S. 117. Am dichtesten hat Badiou seinen natürlich nicht wortwörtlich zu verstehenden Unsterblichkeitsbegriff im Buch Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen (Wien 2003) ausgeführt, vgl. S. 23 u. pass.

[30] Vgl. in nuce Empire, a.a.O., S. 392.

[31] Vgl. dazu in nuce den Passus zum „Staatsrevolutionär“ in den Logiken der Welten, a.a.O., S. 37 – 44. Gerechterweise ist zu erinnern, dass Badiou den Terror zugleich als eine der Weisen des Bösen denkt (vgl. Ethik, a.a.O., S. 95 – 102) und den „Staatsrevolutionär“ (Robespierre, Lenin, Mao) als mittlerweile historisch gewordene Figur bejaht.

[32] Dem entspricht Žižeks entschiedene Zurückweisung der Ideologie eines vorgeblich natürlichen „Reichs der ausgewogenen Reproduktion und der organischen Entfaltung, in die der Mensch in seiner Hybris eingreift und deren Kreislauf er brutal aus der Bahn wirft“, in: Auf verlorenem Posten, Frankfurt/M 2009, S. 290, im Zusammenhang S. 278 – 319.

[33] Žižek, Tücke des Subjekts, a.a.O., S. 225.

[34] Ebd., S. 219.

[35] Ebd., 224. Sieht man einmal davon ab, dass der im deutschen Wort Ent-Bindung nicht zu überhörende Anklang an die Geburt im Französischen so gar nicht gegeben ist (Badiou spricht von de-liaison, nicht von accouchement), ergibt sich hier sachlich zwingend der Anschluss auch zu Luce Irigarays feministischer Mimesis des de facto stets männlichen Universalismus klassischer Subjekttheorie. Dabei stößt auch sie auf ein ursprünglich Nicht-Gedachtes, diesmal auf die dem Phallogozentrismus konstitutive Abwehr der zweiten Grundbestimmung menschlicher Endlichkeit, die analog zum Sein-zum-Tod als Sein-zur-Geburt zu fassen wäre. Vgl. dazu Ethik der sexuellen Differenz, a.a.O., S. 11, 100, 150ff., 198f., 203, 205, 217ff., 221ff., 236, 250ff..

[36] „Ihr spinnt, Mutter ist in der Küche.“ Spiegelgespräch mit Felix Ensslin, DER SPIEGEL 13/2011, S. 139; im Zusammenhang S. 136 – 140.

[37] Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 148f, im Zusammenhang S. 145 – 155. Ich überspringe hier den natürlich allesentscheidenden Punkt, dass Hegel die im „Daransetzen des Lebens“ bewährte Ent-Bindung als Ablösung überhaupt aus der Endlichkeit des Lebens in den absoluten Geist entwirft und damit auch seinerseits ein in Unendlichkeitsphantasma, d.h. eine Metaphysik einfügt. Heidegger stellt die Sache der Ent-Bindung deshalb an den „Kreuzweg“ einer „Absolvenz“ in die Unendlichkeit des Geistes oder einer „Transzendenz“ über das Seiende in die Endlichkeit des Seins. Der Begriff des „Kreuzwegs“ zeigt an, dass es dabei um eine Grundentscheidung der Subjektivierung und nicht um ein „Gegeneinanderhalten von zwei Standpunkten“ geht, vgl. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M 1980, S. 92. Meine eigene Wahl wird daran kenntlich, dass ich den Kampf um Anerkennung als „Existenzial“ fasse, d.h. als transhistorische Bestimmung des endlichen menschlichen Lebens, vgl. hier Fußnote 10.

[38] Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Kämpfe, Frankfurt/M 1992; Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt/M 2010.

[39] Ebd., S. 147.

[40] Zur ersten nachhegelianischen Grundeinsicht vgl. das mit dem Titel Auf verlorenem Posten versehene jüngste Buch Žižeks, Frankfurt/M 2009. Die zweite Grundeinsicht bildet den Ausgangspunkt der nachhegelianischen Geschichtsphilosophien des späten Heidegger und Batailles, vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, Frankfurt/M 1989 bzw. Bataille, Die Souveränität, München 1978. Dabei liegt die Bedeutung des nur vierzig Seiten umfassenden Manifests Batailles darin, als nietzscheanisch inspirierte und dennoch dialektisch angelegte Überbietung der Geschichtsphilosophien Hegels, Marx’ und vor allem Kojèves angelegt zu sein und deshalb ein Werden zu umreißen, das mit dem Abschluss der kommunistischen Bewegung und damit mit dem Ende der Geschichte erst beginnt. Eine aktuelle Ausformulierung der zweiten Grundeinsicht findet sich in der Geschichtsphilosophie Badious, in der die Wahrheitsprozesse der Politik nur eine Werdenslinie neben denen der Wissenschaft, der Kunst und der Liebe bilden. In diesem „Geviert“ bedeutet ein Ende des Politischen nicht nur nicht das Ende der drei anderen Werdenslinien, sondern schließt auch nicht aus, dass aus ihm ein neuer, in seinem Charakter jetzt gar nicht zu bestimmender Wahrheitsprozess hervorgeht. Vgl. Badious ebenfalls am Marx-Engels’schen Manifest orientiertes Manifest für die Philosophie, Wien 1998.

[41]A..a.O., S. 287.

[42] Empire, a.a.O., S. 403 – 413. Den Begriff der „Plattform“ führen Hardt/Negri in ihrem letzten Buch Common Wealth ein, in dem sie die drei genannten  Rechte weiter ausdifferenzieren und einerseits unter den Titel eines Reformprogramms für das Kapital, a.a.O., S. 315 – 321, andererseits unter die Losung Das Glück instituieren stellen, a.a.O., S. 383 – 390. Vor dem letztgenannten Abschnitt erörtern sie konsequenterweise das Problem der revolutionären Gewalt und einer politischen „Steuerung“ der Revolution, a.a.O., S. 374 – 382; die Durchsetzungsperspektive der „Plattform“ selbst hängt dann am Doppel von „konstituierender“ und „konstituierter Macht“. Denken Hardt/Negri dieses Doppel als politisches Medium der Produktivität des Lebens und wird es von Badiou als konkretes Prozessieren einer „Sequenz“ oder „Prozedur“ der Wahrheit gedacht, zielt mein Vorschlag darauf, beides als Fortschritt von Anerkennung zu begreifen.

[43] Indem Hardt/Negri in Common Wealth ausdrücklich festhalten, dass dem Recht auf einen sozialen Lohn ein Recht auf eine allen im gleichen Maß und in gleicher Bedingungslosigkeit zustehende Bereitstellung öffentlicher Güter (Wohnung, Gesundheit, Verkehr, Bildung) korrespondiert, nehmen sie ausdrücklich auf, was in den Bewegungen weltweit unter dem Begriff der „Commons“ diskutiert wird. Aus deutscher Perspektive vgl. http://www.links-netz.de/rubriken/R_infrastruktur.html

[44] Im Sammelband Die Krise denken wird das mit Bezug auf die Kategorien der Politischen Ökonomie als Rente-Werden des Lohnes gefasst, dem ein Rente-Werden der Profite vorausgeht, vgl. a.a.O. Carlo Vercellone, Die Krise des Wertgesetzes. Der Profit wird Rente, S. 85 – 115 sowie das Resümee Negris, ebd., S. 167 – 174.

[45] Honneth, Das Ich im Wir, a.a.O., S. 130.

[46] Eine Zeit in der Hölle, a.a.O., S. 19. Comte de Lautréamont (Isidore Ducasse), Die Gesänge des Maldoror, München 1976.

[47] Benjamin Fondane, Rimbaud der Strolch, München 1991, S. 37, 43, 124. Fondane wurde am 2. oder 3. Oktober 1944 im Alter von 46 Jahren im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

[48] Bertolt Brecht, Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer. Bühnenfassung von Heiner Müller, Frankfurt/M 1994, S. 86. Unverkennbar vom Fatzer-Thema inspiriert ist Peter Weiss’ Drama Die Verfolgung und Ermodung Jean Paul Marat dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (Frankfurt/M 1964), in dem die von Brecht zwischen Koch und Fatzer inszenierte Begegnung des singularen Universalen mit seinem anderen zwischen dem Revolutionär Marat und der zweideutige Reaktionär de Sade ausgespielt wird. Für eine philosophische Variation dieser Dialektik nicht im Horizont Hegels, sondern Kants vgl. Jacques Lacans Text Kant mit Sade, in: Schriften Bd. 2, Olten 1975, S. 133 – 165..

[49] Jacques Derrida, Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp, Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt/M 1994, S. 1994, S. 437.

[50] Im Punkt einer Anerkennung des nicht-menschlichen Seins wie im vorangestellten Punkt einer nicht-gegenseitigen Anerkennung menschlichen Seins kommt Honneths Studie Verdinglichung (Frankfurt/M 2005) eine entscheidende Stellung zu. Im Rückgang auf Georg Lukács, John Dewey und vor allem auf Adorno und Heidegger legt Honneth hier einen „existenziellen“ Modus von Anerkennung frei, der zumindest in abgeleiteter Weise auch Pflanzen, Tieren und Dingen offensteht (a.a.O., S. 73 – 77) und im ko-existenziellen Verhältnis „unterhalb der Schwelle“ liegt, „auf der die wechselseitige Anerkennung bereits die Bejahung spezifischer Eigenschaften des jeweiligen Gegenübers impliziert.“ (S. 60). Indem Honneth diese „existenzielle“ Anerkennung dann auf eine Anerkennung zurückspurt, „die das Subjekt sich selbst vorweg entgegengebracht haben muss“ (S. 89), räumt er zumindest im Ansatz den zentralen Vorbehalt der Anerkennungskritik Nietzsches und des Poststrukturalismus aus. Die hat der auf der Negation des anderen gründenden Herr-Knecht-Dialektik Hegels ihre (nicht notwendig an eine soziale Hierarchie gebundene) Unterscheidung der „Starken“ und der „Schwachen“ entgegengesetzt, deren Maßgabe eine aller Negativität vorausgehende und insoweit der Anerkennung durch andere unbedürftige Selbstbejahung der „Starken“ ist. Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe Bd. 5, München 1980 und deren poststrukturale Aktualisierung bei Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt/M 1985. Sofern Nietzsche und Deleuze eine solche Selbstanerkennung einer zukünftigen „übermenschlichen“ Lebensweise vorbehalten, sind die bleibenden Differenzen beider Positionen nicht nur eine „Sache der Theorie“, sondern dem voraus „eine der Zukunft von sozialen Kämpfen.“ (Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 287).