Michel Foucaults „Ästhetik der Existenz“ und der emanzipatorische Diskurs der Sexualität
Foucaults „Ästhetik der Existenz“ steht nicht nur für Politiken erster Person, sondern auch für die Praxis politischen Philosophierens. Sie ist die politische Antwort, die Foucault mit seiner philosophischen Forschung zur Geschichte unserer Sexuierung und Subjektivierung verband. Mein Text erschien im Heft 22 der Texte zur Kunst, Mai 1996. Es liegt auf der Hand, dass ich heute mehr und anderes zur Existenzästhetik zu sagen hätte – was auch für den folgenden Text gilt. (Länger)
Daß die Sexualität seit der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft in historisch bis dahin ungekanntem Ausmaß unterdrückt und verdrängt wird, galt spätestens seit den 68er Mai-Revolten als Basisbanalität des aufgeklärten Bewußtseins. Auf dem Wege einfacher Ableitung führte die These von der Repression des Sexes zu der Schlußfolgerung, daß die sexuelle Emanzipation den Anfang und die Voraussetzung aller Emanzipation zu bilden habe. Den weithin ungebrochenen Konsens über die “Repressionshypothese” kündigte wohl zuerst Michel Foucault auf, als er den emanzipatorischen Diskurs der Sexualität der Komplizenschaft mit der spezifisch modernen Machtökonomie bezichtigte, die er im Begriff der “Bio-Macht” zu fassen suchte. Im Streit um Foucaults Dekonstruktion des Sex-Diskurses geriet außer Sicht, daß er sich dem Sex-Diskurs gar nicht von außen entgegengesetzt, sondern ihn gleichsam von innen her überdreht hatte: Gipfelte die Repressionshypothese in der vorgeblich subversiven Anrufung eines gesellschaftlich ausgegrenzten natürlichen Sexes, so überdrehte Foucault diese Basisbanalität der Emanzipation in der Anrufung einer gleichermaßen “naturwüchsigen” Spontaneität des Lebens, der Körper und der Lüste. Erst in der Überschreitung dieses Vitalismus gelang Foucault der Bruch mit dem Sex-Diskurs; dieser Bruch war nun aber auch ein Bruch mit seinen eigenen Anfängen.
Setzt man nun voraus, daß die von innen her ansetzende Überdrehung kein an sich vermeidbarer Irrtum, sondern vielmehr notwendig der erste Schritt der Dekonstruktion war, so läßt die Nachzeichnung ihrer eben nicht geradlinigen Entfaltung so etwas wie eine implizite Methodologie des Dekonstruktionsprozesses sichtbar werden; zugleich kann noch einmal präzisiert werden, worin ihr tatsächlicher Einsatz besteht und worauf sie führt.
I . Diskurs der Emanzipation und Analytik der Gegenwart
Für Michel Foucault ist die philosophische Tätigkeit vor allem eine diagnostische Aktivität, eine Ausgrabungsarbeit unter den eigenen Füßen. Die Diagnose untersucht die Dinge und die Ereignisse jenseits von Gut und Böse, sie enthält sich des moralischen Urteils. Statt dessen verfügt sie über einen geschärften Sinn dafür, daß alles gefährlich ist oder werden kann. Welchem Sachverhalt auch immer die Philosophie sich zuwendet, stets zielt die Diagnose auf die Gegenwart: was sind wir heute? Was ist dieses “Heute”, in dem wir leben? Worin besteht die Hauptgefahr, der wir uns jetzt zu wehren haben? Wer – wir?
In der Analytik der Gegenwart stellt nicht die Begründung, sondern die Überschreitung des Gegebenen den eigentlich philosophischen Akt dar. Die Überschreitung versucht, “in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeiten aufzufinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken”. (1) Mit der strategischen Bestimmung der jetzt gegebenen Möglichkeiten des Anders-Werdens erst gelangt die Gegenwartsanalytik an ihr Ziel; von ihnen her gesehen erschließt sie nicht einfach das, was wir sind, sondern eher das, was wir gerade eben zu werden beginnen. Von daher hat Foucault die philosophische Tätigkeit immer in einen unauflöslichen Bezug zur Politik und zur Ethik gestellt. Aus demselben Grund hat er im antiautoritären Aufbruch des Mai 1968 stets die entscheidende Inspiration seines Philosophierens gesehen. In der Perspektive des Mai aber stellt sich die Frage nach dem, was wir heute sind und was wir werden können, von dem scheinbar natürlichen Faktum aus, daß wir so oder so Subjekt unserer Sexualität sind. Der Mai setzt den Wunsch auf die Tagesordnung der Revolte und des Werdens, und er spricht vom Wunsch in einer Sprache, die uns im Sex unsere Wahrheit und unser Werden zusprechen will. Diese Sprache ist eine Sprache des Lebens, genauer noch: der Vermögen, der Kräfte und der Energien des Lebens. Die Sprache des Lebens ist affirmativ: sie fordert auf, stachelt an, sie lockt und verführt. In der Anrufung unseres vitalen Begehrens bildet sie den emanzipatorischen Diskurs der Sexualität aus, der uns den Sex als das Außen oder das Andere der Vernunft, der Ordnung und der Herrschaft entdeckt. (2) Dieser Anrufung folgend, wendet sich Foucault der Geschichte der sexuellen Praxen und des Wissens vom Sex zu. Dabei geht es ihm nicht um eine Sittengeschichte der Gegenwart. Es geht ihm vielmehr darum, in Erfahrung zu bringen, wie wir dazu gekommen sind, uns als Subjekte unserer Sexualität zu erkennen und zu verhalten. (3) Foucault wirft diese Frage auf, weil er ahnt, daß sie ihn auf die Gefahr führen wird, der wir uns jetzt zu wehren haben. Gefährlich ist oder könnte sein, daß die Revolution spätestens seit dem Mai als “sexuelle Revolution” gewünscht, gedacht und gelebt wird. Wie nun, wenn dies gerade eine Falle wäre? Wie, wenn gerade die Befreiung der Sexualität uns zu Opfern einer Unterwerfung werden ließe, die älter wäre als unser Wunsch nach Befreiung? In Überwachen und Strafen (1975) hält Foucault dem Humanismus und vor allem einer humanistischen Linken entgegen: “Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er” (S. 42). Wie, wenn dasselbe vom Sex und von unserem Wunsch zu sagen wäre, uns im Sex zu erkennen und uns zu dem zu machen, was dieser Sex uns werden läßt?
II. Die Revolution des Sex-Begehrens und das Dispositiv der Sexualität
Foucault beginnt seine Geschichte der sexuellen Praxen und des Wissens vom Sex mit einer spöttischen Zurückweisung des emanzipatorischen Diskurses der Sexualität. Dieser Diskurs tritt seit den fünfziger Jahren in den Brennpunkt einer neuartigen Theorie der Revolution. Inspiriert von Autoren wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, aufgeladen aus romantischen, frühsozialistischen und surrealistischen Quellen und ausgearbeitet in den Sprachen des Marxismus und der Psychoanalyse entdeckt dieser Diskurs im Sex das bestgehütetste Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich den verborgenen Ankerungspunkt künftiger Befreiung. Mit der Herausbildung der kapitalistischen Ökonomie, so lehrt der Emanzipationsdiskurs, wird der Sex immer nachhaltiger unterdrückt und zugleich nahezu vollständig aus der Sprache und damit aus dem Bewußtsein getilgt. Ausgegrenzt und verdrängt, kehrt der Sex gegen sich selbst gewendet im Faschismus zurück. Das gebrochene Begehren besetzt nun die Institutionen seiner Unterdrückung mit sexueller Energie und identifiziert sich mit der Repression. Dabei werden die eigenen abgespaltenen Wünsche den anderen zugeschrieben – den Niederen, den Verworfenen, den Fremden. Der im unwillkürlichen Auftauchen und erst recht im etwaigen Ausleben des Wunsches drohende Ausschluß aus der Gesellschaft wird dann konsequent an diesen anderen exekutiert: Im Terror der Lager kommen die bürgerlich Sozialisierten zu sich selbst.
Nach der Logik des emanzipatorischen Sex-Diskurses führt der Weg der Befreiung und der Revolution über die Enttabuierung des Sexes. Schließt die bürgerliche Herrschaft das Begehren mit der Hilfe des Verbots und der Zensur aus der Sprache und aus dem Bewußtsein aus, so bedarf es vor allem anderen eines Einbruchs der Wahrheit in das Dunkel der Macht. In freier Variation des ersten Glaubenssatzes aller Aufklärung besteht der grundlegende Akt der Emanzipation folglich darin, sich selbst als Subjekt des Sexes anzuerkennen und in ihm vor sich selbst und vor den anderen die eigenste Wahrheit zu bekennen. Der Sex ermöglicht die Selbsterkenntnis des Subjekts, weil er dessen sinnproduzierendes Prinzip darstellt; er eröffnet den Zugang zur Ganzheit des Körpers, weil er das innere Wesen und zugleich der symbolische Ausdruck dieser Ganzheit ist; und er stiftet die Identität des Subjekts mit sich, weil er die jeweils einzige Geschichte eines Lebens an die Kraft seines mächtigsten Begehrens knüpft.
Foucault eröffnet die Dekonstruktion des emanzipatorischen Diskurses der Sexualität in zwei Zügen. In einem ersten Schritt wird das unterstellte Ausschließungs- und Unterwerfungsverhältnis von Sexualität und Macht zurückgewiesen. Die Macht und der Sex stehen nicht in einem Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses, und sie stehen auch nicht im Verhältnis der Affirmation der Herrschaft durch einen gegen sich selbst gerichteten Wunsch. Sie stehen vielmehr in einem Verhältnis konstitutiver Immanenz: Die Macht “lebt” vom Sex, und der Sex wird von der Macht nicht zensiert oder tabuiert, sondern angereizt und aufgestachelt. In einem zweiten Schritt zeigt Foucault dann, daß der emanzipatorische Diskurs der Sexualität eben nicht der bewiesene Feind der Herrschaft und Befreier des Wunsches ist. Er ist vielmehr lediglich die avancierteste und zugleich die perfideste Form, in der wir an das Gegebene gefesselt werden, indem wir an den Sex und an uns selbst als das Subjekt des Sexes gefesselt werden. Die Perfidie des Sex-Diskurses besteht darin, uns glauben zu machen, daß “der Sex, die Enthüllung der Wahrheit, die Umkehrung des Weltlaufs, die Ankündigung eines künftigen Tages und das Versprechen einer Glückseligkeit miteinander liiert sind.” (4)
Entgegen der Kernthese des Emanzipationsdiskurses, derzufolge der Sex mit der Machtergreifung des Bürgertums aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein ausgeschlossen wird, zeigt Foucault, daß und wie in der Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft eine “diskursive Explosion” (5) zündet, von der aus die Körper, die Lüste und das Leben überhaupt erst sexualisiert worden sind. Sexualisierung meint den Prozeß, in dem den Körpern, ihrem Leben und dem Gebrauch der Lüste eine Sexualitätssubstanz unterlegt wird, die von nun an ihr Daseins- und Erkenntnisgrund sein wird. Erst mit der Sexualisierung des Lebens werden die vielfältigen und unzähligen Lüste zum Teil und zum Ausdruck eines allumfassenden Sexes. Seither erst werden unsere Körper von einer Sexualität bewohnt, die ihr verborgener und mächtigster Antrieb ist, seither erst ist der Sex das Rätsel, um das unsere Subjektivität kreist und von dem sie beherrscht wird.
Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit (1976) verfolgt Foucault den Prozeß der Sexualisierung zuerst in einer kurzen Geschichte der “peripheren Sexualitäten”. Gemeint sind damit sämtliche sexuellen Praxen, die von der hegemonialen Grundform ehelicher Heterosexualität abweichen. So sind z.B. homosexuelle Praktiken in den vorbürgerlichen Gesellschaften verbotene Handlungen, deren Urheber von der Justiz als ein Rechtssubjekt behandelt wird, das der Gesetzesübertretung schuldig ist. Zwischen ihm und einem Dieb besteht kein grundlegender Unterschied: Das Gesetz wird ihn richten, weil er sich gegen das Gesetz erhoben hat. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts aber wird als Homosexueller identifiziert und individuiert. Alles, was er war, was er getan hat, was er jetzt tut und später tun wird, ist Moment und Indiz seiner Sexualität, die ihn überall und jederzeit beherrscht und in allen seinen Handlungen als untergründiges Prinzip wirksam ist: “schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät”. (6) Das aber heißt: Die Homosexualität wird nicht ausgeschlossen oder verdrängt, sie ist ein historisches Konstrukt, das genau dort erst produziert wird, wo der Emanzipationsdiskurs die Repression des natürlichen Sexes aufdecken und entlarven will. Analoges gilt für alle Sexualitäten, die abweichenden und die “artgerechten”. Wohlgemerkt: Foucault bestreitet nicht, daß die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert mit einer herrschaftlichen Zurichtung der Körper, des Lebens und der Lüste einhergeht, im Gegenteil. Aber er will zeigen, daß die Körper, das Leben und die Lüste von der Macht nicht einfach repressiv unterworfen werden, sondern daß die Macht sie allererst produziert, indem sie den Sex in das Leben einsenkt und die Subjekte so dazu bringt, sich affirmativ als Sex-Subjekte anzuerkennen. Foucault bezeichnet diese moderne Form der Macht als “Bio-Macht”, weil sie im Unterschied zur primär repressiven und abschöpfenden Machtform vorbürgerlicher Herrschaft “das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren”: “Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten”. (7) Historisch entfaltet sich die “Bio-Macht” auf zwei Strängen. Sie bildet sich zum einen als Bündel von disziplinierenden Techniken aus, deren Ziel der einzelne Körper ist. Diese Techniken kommen zuerst in den Klöstern und Schulen, in der Kranken- und Armenfürsorge, in der Strafjustiz, im Militärwesen und schließlich in den Werkstätten und Fabriken zur Anwendung. Die Prozeduren der Disziplinierung konstruieren den Körper als Maschine, sie zielen auf die Steigerung seiner Fähigkeiten und die größtmögliche Ausnutzung seiner Energien. Indem sie zugleich seine Nützlichkeit und seine Willfährigkeit intensivieren, passen sie ihn in die industrielle Arbeitsorganisation des Kapitalismus ein. Dessen eigentümliche Produktivität kann folglich nicht einfach nur nach der Logik der politischen Ökonomie, sondern muß dem voraus zuerst nach der Logik einer “politischen Anatomie des menschlichen Körpers” verstanden werden. Die “Bio-Macht” bildet sich zum andern über eine “Bio-Politik der Bevölkerungen”, deren Ziel nicht die Konstruktion des individuellen, sondern die Konstruktion eines Volks- und Gattungskörpers ist. In einem ganzen Netzwerk regulierender Kontrollen unterstellt sie die Probleme der Lebensart und -weise und der Wohlfahrt der Bevölkerung einer produktiven “Verwaltung des Lebens”, die das Biologische zum Politischen erhebt. Auch hier kann die Macht nicht in erster Linie nach dem Modell der Repression verstanden werden: “Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist.”(8) Dabei wird das der Biologie entstammende Vokabular des Vitalismus zur Metasprache nicht nur der Poltitik und der Ökonomie, sondern des sozialen Universums schlechthin: Die Welt der “Bio-Macht” ist Lebenswelt im weitesten Sinn des Wortes, alles, was ‘ist’, ist ein Phänomen des Lebens und seiner Physiologie der Kräfte und Energien.
Beide Stränge der “Lebens-Macht-Technologien” – politische Anatomie des Körpers und Bio-Politik der Bevölkerung – kommen in dem zusammen, was Foucault das “Dispositiv der Sexualität” nennt. (9) Das Dispositiv der Sexualität entsteht aus der strategischen Kombination all’ der diskursiven und nicht-diskursiven Verfahren und Einrichtungen, die seit dem 17. Jahrhundert die Sexualisierung der Körper, des Lebens und der Lüste bewirkt haben. Zum Scharnier zwischen den beiden Strängen der “Bio-Macht” wird es, weil es zugleich die Konstruktion des individuellen und des Volks- und Gattungskörpers ermöglicht. In der Sorge um den Sex geht die Disziplinierung der Körper in die Regulierung der Bevölkerungen über und umgekehrt, zwischen den Polen von Körperdisziplin und Bevölkerungsregulierung entfaltet sich eine Vielzahl von Strategien und Taktiken zur Erhaltung, Ertüchtigung und Nutzbarmachung gleichermaßen des individuellen wie des kollektiven Lebens. Auf der anatomischen Ebene wird der Sex zum Anlaß und Ankerungspunkt einer peinlichen Überwachung und Ausforschung noch der kleinsten Regungen des individuellen Körpers. Er erhellt die alltäglichsten Verhaltensweisen und erschließt die Rätsel der Träume, man folgt ihm in die ersten Tage der Kindheit und benutzt ihn als Schlüssel zur Erkenntnis der individuellen Existenz. Auf der biologischen Ebene wird der Sex Anlaß und Ankerungspunkt von großflächigen statistischen Forschungen über die Geburtenrate, die Lebensdauer, die allgemeine Gesundheit und vor allem das Bildungs- und Sittlichkeitsniveau bestimmter sozialer Gruppen, er steht im Mittelpunkt einer rechnerischen Planung und Verwaltung des Wanderungs- und Siedlungsverhaltens der Land- und Stadtbevölkerung, er ist das Leitthema politischer und moralischer Kampagnen, deren Ziel die Hebung des Pflicht- und Verantwortungsgefühls und die ökonomische Steuerung der Fortpflanzung ist.
Die letztlich entscheidende Leistung des Sexualitätsdispositivs besteht dann aber in der Ausbildung der besonderen Subjektivitätsform, in der sich die Individuen als Subjekt ihres Sexes erkennen und verhalten. Dabei spielt das aus dem Christentum übernommene Ritual der Beichte die wichtigste Rolle. Aus dem religiösen Kontext auf das weitere soziale Leben übertragen, wird die Beichtpraxis zum Modell einer Vielzahl von Formen des Geständnisses. Das Geständnis wird in sämtlichen sozialen Riten, in der Justiz, der Medizin, der Pädagogik, aber auch in den Familien- und Liebesbeziehungen und nicht zuletzt in den Selbstverhältnissen der Individuen zu “einer der höchstbewertesten Techniken der Wahrheitsproduktion”(10): Man gesteht seine Sünden und seine Verbrechen, seine Gedanken und Begehren, seine Stimmungen und Verstimmungen, seine Pläne und Träume, seine Krankheiten und Leiden, man gesteht seine Vergangenheit und seine Herkunft. Wenn das Geständnis nicht freiwillig oder unter dem Druck der Stimme des Gewissens erfolgt, dann wird es psychisch erpreßt oder physisch erzwungen. In jedem Fall aber bekennt man – öffentlich oder privat, vor der Polizei, den Eltern, dem Arzt, vor denen, die man liebt oder vor sich selbst – wer oder was man selbst ist. Im Geständnis der Wahrheit wird das Individuum zum Subjekt des Daseins, an das es von nun an gebunden und auf das es verpflichtet wird: Ich bin das, was ich in Wahrheit bin. An dieser Stelle wird die innere Zugehörigkeit des Emanzipationsdiskurses zum Sexualitätsdispositiv sichtbar. Weil der Sex auch für ihn den Wesenskern der Subjektivität darstellt und weil auch er alles darauf setzt, den Sex aus dem Dunkel ans Licht zu ziehen, deshalb hat der Emanzipationsdiskurs das Ritual der Beichte neu belebt und als Technik der Befreiung verbreiten wollen: “Man muß schon dieser inneren List des Geständnisses vollkommen auf den Leim gegangen sein, (…) um glauben zu können, daß von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt. Ein ungeheures Werk, zu dem das Abendland Generationen gebeugt hat, während andere Formen von Arbeit die Akkumulation des Kapitals bewerkstelligten: die Subjektivierung des Menschen, d. h. ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte”. (11) Zum strategischen Verbündeten der “Bio-Macht” wird der Emanzipationsdiskurs, sofern er in der “Aufdeckung” der Repression den Zensur- und Verbotscharakter der Herrschaft hervorhebt und so den eigentümlich produktiven Charakter der modernen Machtökonomie verdeckt. Der Produktivität der “Bio-Macht” aber entkommt man nicht, indem man ausgerechnet zur Offenbarung und Befreiung dessen aufruft, was ihr eigenstes Produkt ist. Den ethisch-politischen Einsatz seiner Dekonstruktion faßt Foucault am Ende des Willens zum Wissen des halb wie folgt zusammen: “Das Sexualitätsdispositiv hat ‘den Sex’ als begehrenswert konstituiert. Und dieser ‘Begehrens-Wert’ des Sexes bindet jeden von uns an den Befehl, ihn zu erkennen, sein Gesetz und seine Macht an den Tag zu bringen. Dieser Begehrens-Wert macht uns glauben, daß wir die Rechte unseres Sexes gegen alle Macht behaupten, während er uns in Wirklichkeit an das Sexualitätsdispositiv kettet (…) Glauben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt; man folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexualitätsdispositivs. Man muß sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste”. (12) Zu klären bleibt dann freilich, ob die Anrufung einer Revolte der Körper und der Lüste wirklich schon den Ausweg aus dem Sexdispositiv weist… .
III. Die Revolten der Lüste, die Metamorphosen des Lebens und die Künste der Existenz
Daß die von Foucault angerufene Revolte der Körper und der Lüste der vom emanzipatorischen Sex-Diskurs propagierten “sexuellen Revolution” enger verbunden ist, als Foucault dies offenbar angenommen hat, läßt sich deutlich etwa an der Position ablesen, die er kurz nach dem Ende der Mai-Bewegung in einer Diskussion mit einer Gruppe von Studenten bezieht. In grundlegender Übereinstimmung mit dem emanzipatorischen Diskurs der Sexualität integriert Foucault die Revolten der Lüste in den Klassenkampf als den weitesten Horizont aller Widerstände und Aufbrüche. Zugleich benennt er im “System des privaten Eigentums” den gemeinsamen Gegner, der in sämtlichen Kämpfen letztlich angegriffen wird. (13) Die Integration der revoltierenden Lüste in den Klassenkampf führt dann zu einer signifikanten Erweiterung der Kampfziele, die Foucault wie folgt benennt: “Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufhebung aller Verbote und Einschließungen, durch die sich die normative Individualität konstituiert und sichert. Ich denke dabei an alle Erfahrungen, die unsere Zivilisation verworfen hat oder nur in der Literatur zuläßt”. (14)
Deutlicher kaum könnte belegt werden, wie eng Foucault zu diesem Zeitpunkt dem emanzipatorischen Diskurs der Sexualität noch verbunden ist. Diese Übrereinstimmung bezieht sich nicht nur auf die jeweils verfolgten Kampfziele selbst und nicht nur auf die Benennung desselben “Hauptfeinds”. Sie erstreckt sich vielmehr noch auf die Form, in der die Kampfziele der Revolte vorgetragen werden. Nicht anders als vor ihm Herbert Marcuse formuliert auch Foucault diese Ziele primär in negatorischer Weise, nicht anders als in der “sexuellen Revolution” geht es auch in den Revolten der Lüste vornehmlich um die Aufhebung von Verboten und um die Brechung der Zensur. Der Unterschied zwischen dem emanzipatorischen Sex-Diskurs und dem Diskurs der Lüste öffnet sich dann allerdings dort, wo Foucault des letzte Ziel des Klassenkampfs und der ihm angeschlossenen “kulturellen Attacken” benennt. Dieses letzte Ziel liegt für Foucault in der “Destruktion des Subjekts als eines Pseudo-Souveräns” und damit zugleich in der “Entunterwerfung des Willens zur Macht”. (15)
Destruktion des Subjekts und “Entunterwerfung” meinen dasselbe. Im französischen Originaltext steht hier der Ausdruck “désassujettissement”, der als “Aufhebung der Unterwerfung”, aber auch als “Aufhebung der Subjektivierung” übersetzt werden kann. Das Wortspiel reflektiert eine bezeichnende Bedeutungsdifferenz im Begriff des Subjekts (sujet) selbst, mit dem sowohl die logische Struktur des Selbstbewußtseins, die autonome Person im emphatischen Sinn des Wortes als auch der Untertan, der Staatsbürger und der Patient sowie allgemeiner der Gegenstand einer Repräsentation bezeichnet werden können. Die Revolte der Lüste richtet sich folglich nicht allein gegen das abstrakte System des Privateigentums und die von ihm installierten Zwänge und Verbote, sie richtet sich darüber hinaus gegen die im Sexualitätsdispositiv betriebene Subjektivierung der Körper und des Lebens selbst: dagegen also, daß die Vielheit der Lüste der Einheit des Sex-Subjekts unterworfen wird. Dabei bildet die Destruktion der Einheit des modernen Subjekts nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene das Ziel der Revolten. Emphatisch verwirft Foucault die den Emanzipationsdiskurs leitende Vorstellung, nach der die Revolten des Klassenkampfs und der Lüste auf eine neue, auf die endlich vollendete und wahre Gesellschaft führen werden: “Die ‘Gesamtgesellschaft’ ist dasjenige, dem nur insoweit Rechnung zu tragen ist, als es zerstört werden soll. Es ist zu hoffen, daß es nichts mehr geben wird, was der Gesamtgesellschaft gleicht”. (16)
Die gleichermaßen anti-individualistische wie gegen jede “gesamtgesellschaftliche” Totalisierung gerichteteSpitze der “kulturellen Attacken” zielt direkt auf die besondere Funktionsweise des bio-politischen Regimes. Als Bündel der Verfahren und Einrichtungen zur Disziplinierung der Körper und zur Regulierung der Bevölkerungen ist die “Bio-Macht” weder das Eigentum einer herrschenden Klasse noch der Besitz derjenigen, die den Staat kontrollieren. Sie breitet sich vielmehr aus einem Spiel ungleicher und beweglicher Machtbeziehungen von den unteren Ebenen der Produktions- und Staatsapparate, von den Familien, Gruppen und bürgerlichen Institutionen her aus und baut sich so inmitten des alltäglichen Lebens von überall her auf. Sie formt den lebendigen Leib der Individuen und den Gattungsleib der Gesellschaft und steigert deren Vermögen, Kräfte und Energien in einer umfassenden produktiven Funktionalisierung. Zugleich aber gilt: Macht gibt es nur da, wo es Widerstand gibt. Der Widerstand bezeichnet kein Außerhalb oder Jenseits der Macht, und er leitet sich nicht von irgendwelchen emanzipatorischen Prinzipien oder einer “Großen Weigerung” (H. Marcuse) ab. Wie die Machtbeziehungen sind auch die Aufbrüche des Widerstands intentional, nicht-subjektiv und vielfältig, sie verdichten sich zu lokalen “Widerstandspunkten, -knoten und -herden”, die sich unregelmäßig im individuellen und im gesellschaftlichen Leben verteilen und sich nur vorübergehend in einer besonderen sozialen Gruppe oder bestimmten Individuen “kristallisieren”. Wie die Machtbeziehungen sind auch die Widerstandsherde niemandes Besitz: Sie “stecken bestimmte Stellen des Körpers, bestimmte Augenblicke des Lebens, bestimmte Typen des Verhaltens an (…), die sich verschiebende Spaltungen in eine Gesellschaft einführen, Einheiten zerbrechen und Umgruppierungen hervorrufen, die Individuen selber durchkreuzen, zerschneiden und umgestalten, in ihrem Körper und in ihrer Seele abgeschlossene Bezirke abstecken”. (17)
Das intern unüberwindliche Problem der von Foucault jetzt erreichten Position liegt nun aber darin, daß die unentwirrbare kriegerische Vielheit der Mächte und der Widerstände die von der “Bio-Macht” geformten Individuen und Gruppen nur zerbricht und durchkreuzt, um sich “unterhalb” ihrer in der allumfassenden Einheit des Lebens wieder auszugleichen, die Foucault mit Nietzsche im Begriff des “Willens zur Macht” faßt. Gleichgültig, ob die Körper und die Lüste in den zweckrationalen Kalkülen der produktiven Disziplin funktionalisiert werden oder ob in einer plötzlichen Umkehrung eines gegebenen Machtverhältnisses das zweckrationale Kalkül der Disziplin von den subjektlosen Widerständen der Lüste überbordet wird -: In jedem Fall prallen in unaufhörlicher Konfrontation vor- und über-subjektive Kräfte und Energien aufeinander, die sich in einem Spiel anonymer “Metamorphosen des Lebens” (18) gegenseitig auflösen und ausgleichen. Die Metamorphosen des Lebens umschließen die Mächte und die Widerstände, die Formen des Wissens und die Formen der Subjektivität. Sie bilden, ganz wie Gilles Deleuze in seiner Foucault-Interpretation dies affirmativ unterstreicht, als das selbst ungeformte “Element der Käfte” das unvordenkliche “Außen” gleichermaßen der Macht, des Wissens und der Subjektivität (19). Subjektivität ist dann entweder der Effekt einer produktiven Funktionalisierung oder einer dysfunktionalen Verausgabung der Kräfte und Energien des Lebens: In beiden Fällen aber bleibt sie bloßes Oberflächenphänomen, ausgeliefert an das Auf und Ab einer insofern eben doch naturwüchsigen Energetik der Kraft.
Trotz der methodischen Abweisung jeglichen Totalitätsbegriffs verfällt die Foucault’sche Gegenwartsanalytik in der Anrufung einer un- oder vielgestaltigen Spontaneität der Kräfte und Energien der bio-politischen Ontologie, die durch den vitalistischen Lebensbegriff erschlossen wird. Wie in der Lebenswelt der “Bio-Macht” ist auch in der diskursiven Welt Foucaults alles, was ‘ist’, ein Phänomen des Lebens. Zwar überschreitet Foucault den emanzipatorischen Diskurs der Sexualität, indem er aufzeigen kann, daß die vorgeblich geschichtstranszendente und -transzendierende Instanz des natürlichen Sexes selbst nur das historische Produkt der “Bio-Macht” ist. Indem er dann aber der Einheit des Sexes und des sexualisierten Subjekts nichts als die ebenso natürliche Vielheit einer subjektlosen Revolte der Körper und der Lüste entgegensetzen kann, verbleibt er selbst noch innerhalb der Grenzen, die von der “Bio-Macht” gezogen werden. Bleibt der Emanzipationsdiskurs Gefangener des Sexualitätsdispositivs, so verharrt Foucault innerhalb des Dispositivs des Lebens als des umfassenden historischen Apriori der “Bio-Macht”.
In der Folge dieser Aporie gibt Foucault den ursprünglichen Plan von Sexualität und Wahrheit auf, nach dem die Diagnose der “Bio-Macht” in einer Analytik des Rassismus abgeschlossen werden sollte. Auch in Der Gebrauch der Lüste und in Die Sorge um sich (1984) bewegt sich Foucault im Dreieck “Macht-Wissen-Lust”. Jetzt aber ist in die vor- und über-subjektive “Bio-Geschichte” der Mächte, des Wissens und der Lüste die irreduzible Differenz einer Subjektivität eingelassen, die die eigenständige Dimension und das Resultat einer selbstbewußten und selbstbestimmten “Sorge um sich” ist.
Die Sorge um sich entspringt dem durchaus kontingenten “Reflexivwerden der Macht” (20), dessen Anfänge Foucault im Dispositiv der antiken Stadtstaaten nachzeichnet. Genauer: Sie entspringt dem historisch frühesten Diskurs der Lüste, in dem die griechischen Kriegeraristokratien das ethische Paradox zu lösen suchen, in das sie durch die Lust an der Knabenliebe gestellt wurden. Obwohl die Griechen die Lüste nicht als “Ausdruck” einer substantiellen Sexualität sondern als einzelne intentionale Handlung oder Geste eines Inidividuums entwerfen, vereinheitlichen sie sie dennoch nach dem Modell der Penetration. In diesem Modell differenzieren sich alle möglichen Lusthandlungen nach dem männlich-aktiven Pol des Penetrierens und dem weiblich-passiven Pol des Penetriertwerdens; innerhalb dieser polaren Spannung werden sie dann noch einmal nach dem Maß unterschieden, in dem sie die Selbst- und Eigenmächtigkeit des freien Individuums fördern oder beeinträchtigen. Die Krise dieses Schemas ergibt sich daraus, daß im homosexuellen Akt die im weiteren gesellschaftlichen Leben formell geltende Gleichheit freier Männer verletzt wird, wenn einer der Partner wie eine Frau, ein Sklave oder ein Tier penetriert wird. Aufgrund dieses Problems werden die Lusthandlungen unter Männern entgegen landläufiger Ansicht einer strengen Maßregelung unterworfen, die von Anfang an auf ein Gebot nahezu vollständiger Enthaltsamkeit tendiert. In den Mittelpunkt der Sorge um die Lust an der männlichen Lust gerät schließlich die Knabenliebe: Wie kann der penetrierte Knabe als künftiger freier Bürger der Polis und also als Gleicher unter Gleichen geachtet werden, der ein Anrecht auf Ausgleich der ihm zugefügten Demütigung besitzt? Aus diesem Dilemma entspringt eine ethisch-politische Reflexion, deren Ziel in der bewußten Schaffung nicht mehr unmittelbar herrschafts- und gewaltförmiger Beziehungen besteht. Dabei wird die Richtung des Begehrens umgekehrt: Zum Objekt der Begierde wird nicht mehr der schöne Jüngling (Alkibiades), sondern der sich selbst den Akt versagende Liebhaber der Weisheit (Sokrates). Die ethische Reflexion führt schließlich zu einer umfassenden Intellektualisierung der Lüste, in der die sexuellen Praxen mit der Frage nach der Wahrheit und Gerechtigkeit einer bewußten Lebensführung des Individuums verkoppelt werden. Dies wiederum führt zur Ausbildung einer sowohl im familialen Haushalt wie in der Öffentlichkeit der Polis auszuübenden “Ästhetik der Existenz”, in der je ein einzelner “sich selber als ethisches Subjekt zu gestalten” sucht. (21)
Foucault zufolge liegt die historische Besonderheit der antiken Existenzästhetik darin, daß sie ohne institutionelle und normative Zurüstung allein der freiwilligen Tugend bestimmter Individuen in die Hand gegeben war: “Ich glaube nicht, daß man z.B. in der stoischen Ethik irgendeine Normalisierung finden kann. Der Grund (…) liegt darin, daß das Hauptziel (…) dieser Art von Ethik ästhetischer Art war. Erstens war diese Ethik nur Sache der persönlichen Entscheidung. Zweitens war sie auf einige Leute innerhalb der Bevölkerung beschränkt; es ging nicht darum, ein Verhaltensmuster für jedermann zu liefern. (…) Der Grund für diese Entscheidung lag im Willen, ein schönes Leben zu leben und anderen das Gedächtnis an eine schöne Existenz zu hinterlassen”. (22)
Die “Künste der Existenz” (23) lösen sich dann Zug um Zug vom engeren sexuellen Kontext ab und bilden schließlich – historisch nachgezeichnet – den Anfang der gesamten europäischen Subjektivitätsgeschichte. Obwohl diese Geschichte zu keinem Zeitpunkt unabhängig von den Dispositiven der Mächte und der Wissensformen ist, ist sie trotzdem niemals einfach auf sie zu reduzieren: Die Macht, das Wissen und die Subjektivität sind gleichermaßen ineinander verschränkt und voneinander unableitbar. Als Phänomene eigenen Ursprungs sind sie nun auch nicht mehr vom “Außen” des Lebens und seiner Kräfteenergetik umschlossen. Die asketische Modifikation der Lüste in der Sorge um sich erzeugt eine Lust an der Eigenmacht der individuellen Existenz, die schon in der späten römischen Stoa zur Ausbildung eines ersten moralischen Universalismus führt. Die von den Stoikern betriebene moralische Überhöhung der Selbstsorge liefert dann die Ankerungspunkte, von denen her die antike Ethik der Autonomie durch die christliche Seelsorge in einem weiteren Intellektualisierungsschub umgekehrt und gegen sich selbst gewendet wird. Die Christen überdrehen die freiwillige Asketik der Lüste zur vollständigen Verwerfung des sündhaften “Fleisches” in der Unterwerfung des Gläubigen unter das göttliche Gesetz. Diese “Umwertung aller Werte” bildet dann die Voraussetzungen aus, die in der Moderne die Konstruktion des Sexes möglich werden lassen. In der Ersetzung des göttlichen Gesetzes durch die Normen der “Bio-Macht” bauen die Disziplinartechniken der Moderne auch pragmatisch auf der christlichen Pastoralmacht auf, die die Subjektivierung des Lebens zentral über die Rituale der Beichte gesteuert hatte.
IV. Die Künste der Existenz, die Metamorphosen des Lebens und die Revolten der Lüste
Weil Foucault schon im Tonfall der Darstellung keinen Zweifel daran gelassen hat, daß er die existenzästhetische Individualethik der Antike der christlichen Unterwerfung unter das gottgegebene Gesetz und der modernen Anpassung an die Normen der “Bio-Macht” vorzieht, hat man seine Rekonstruktion der antiken Ethik als neo-aristotelische Wende eines konservativ gewordenen Ex-Surrealisten interpretieren wollen. Diese Deutung gewann zusätzliche Überzeugungskraft, als klar wurde, daß seine Darstellung der Antike in wesentlichen Teilen empirisch nicht gedeckt, ja sogar offensichtlich idealisierend ausgefallen war. (24) Als er den von den Griechen entlehnten Begriff der “Sorge um sich” dann auch noch ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner ethisch-politischen Analytik der Gegenwart gerückt hat, hat man ihm allen Ernstes und sogar zustimmend unterschieben wollen, die soundsovielte Neuauflage einer humanistischen Renaissance zu betreiben. Nun hat Foucault diese Deutungen in mehreren Stellungnahmen zu seinem Spätwerk zurückgewiesen, indem er die Idee einer geradlinigen Wiederaufnahme historisch gewordener Praktiken verworfen hat. Dabei hat er ausdrücklich auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen der antiken Ethik im patriarchalisch-aristokratischen Dispositiv der Polis hingewiesen und ihren konkreten Formen und Gehalten deshalb unmißverständlich jeden exemplarischen Wert für unsere Gegenwart abgesprochen. (25) Weit entfernt von neo-aristotelischen Nostalgien hat er dann seinen Neuentwurf einer Ästhetik der Existenz an verwandte Problemstellungen bei Baudelaire, Stirner, Nietzsche, Gide und Sartre angeschlossen. In pragmatischer Hinsicht beruft sich Foucault auf die politische Anarchie, auf die kulturrevolutionären Experimente der Dandys und der KünstlerInnenavantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts sowie auf die Erfahrungen der “neueren Befreiungsbewegungen” in der Folge des Mai 1968. (26) Von daher muß die Konzeption der existenzästhetischen Sorge um sich als originäre Antwort auf die Analytik der “Bio-Macht” und des Sexualitätsdispositivs und zugleich als Antwort auf die spezifische Aporie der Revolten der Lüste verstanden werden, in denen Foucault noch im Willen zum Wissen den “Stützpunkt des Gegenangiffs” erblickt hatte. Sein Konzept einer in der Form von “Künsten der Existenz” praktizierten Ethik bezieht sich dann nur noch insoweit auf ihr erstes antikes Modell, als es auch in seiner aktuellen Fassung “um ein Problem der persönlichen Wahl zentriert” wäre: “Die Vorstellung des bios als Stoff eines Kunstwerks erscheint mir faszinierend. Und ebenso die Vorstellung, daß die Ethik der Existenz eine sehr starke Struktur geben kann, ohne sich auf ein Rechtswesen, ein Autoritätssystem oder eine Disziplinarstruktur beziehen zu müssen. (…) Mir fällt auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft zu etwas geworden ist, das nur Gegenstände, nicht aber Individuen oder das Leben betrifft. Daß Kunst etwas Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden?” (27)
Der Umweg über die Antike wird damit nicht überflüssig: Nur muß der Anhalt, den sie einer originär modernen Existenzästhetik liefern kann, in einem strikt formalen Sinn aufgenommen und entwickelt werden. Im Rückgang von der Moderne über das Christentum auf die Antike wird zunächst einmal in voller historischer Konkretion einsichtig, was Foucault bereits in Der Wille zum Wissen dem Emanzipationsdiskurs entgegengehalten hatte: Nichts am Menschen – auch nicht sein Körper, seine Lüste und schon gar nicht “seine” Sexualität – ist von substantieller Natur, es gibt kein überhistorisches “Wesen” des Menschlichen und keine ewige anthropologische Wahrheit. Man will uns auf das Gesetz und die Normen “unserer” Sexualität verpflichten, wir sollen “unser” sexuelles Wesen annehmen, anerkennen und verwirklichen? Aber diese Sexualität ist gar nicht das natürliche Substrat unserer Wünsche und Lüste! Sie entfaltet sich vielmehr entlang der Vorsprünge und Rückläufe, in denen sie sich nach und nach von dem ablöst, was das christliche Zeitalter als sündiges “Fleisch” bezeichnet und behandelt hat. Das “Fleisch” der Christen ist im Übrigen weder wahrer noch unwahrer als die Sexualität der Moderne. Beide resultieren aus den Praktiken und Diskursen, die sie an ihrem bestimmten historischen Ort innerhalb eines bestimmten Dispositivs auftauchen ließen.
Die Pointe der Historisierung der Lüste liegt darin, daß sie gleichermaßen über den politischen Diskurs der Sexualität wie über die reine “Bio-Geschichte” des Lebens hinausgeht, die Foucault im ersten Band von Sexualität und Wahrheit entworfen hatte. Die Geschichte der Lüste, des “Fleisches” und des Sexes ist jetzt nicht mehr einfach eine Geschichte des Lebens und seiner agonalen Vermögen, Kräfte und Energien, sondern vielmehr die Geschichte der Praktiken und Diskurse, in denen Individuen und Gruppen in der Problematisierung ihrer Lüste, ihres “Fleisches” und ihres Sexes sich selbst als Subjekt ihres Daseins konstituiert haben. (28) Sie ist folglich – und hier genau liegt der Bruch zum ersten Band von Sexualität und Wahrheit – “eine Geschichte der Sexualität als Erfahrung – wenn man unter Erfahrung die Korrelation versteht, die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht”. (29) Die wiedereingeführte Subjektivität ist weder die logische Subjektivität des apriorischen Selbstbewußtseins noch die humanistische Subjektivität einer universalen praktischen Vernunft. Diese beiden Subjektkonstruktionen hatte Foucault nicht zuletzt im Ausgriff auf die subjektlosen Revolten der Lüste verworfen. Sie ist allerdings auch nicht mehr – wie noch in Der Willen zum Wissen – der bloße Reflex einer produktiven Funktionalisierung der Körper und des Lebens durch die Machttechnologien des Sexualitätsdispositivs. Sie ist vielmehr die durch und durch historische Subjektivität eines immer an bestimmte Problematisierungen gebundenen pragmatischen Selbstbezuges, in dem Körperlichkeit und reflexive Intellektualität, Praktiken der Macht und Sprachen der Wahrheit untrennbar ineinandergreifen.
Die reflexive Selbstbezüglichkeit individueller und sozialer Lebensführungen bildet nun den Ausgangspunkt, von dem aus Foucault den Widerstand gegen die “Bio-Macht” und das Sexualitätsdispositiv neu konzipiert. Im Widerstand gegen die “Bio-Macht” geht es nun nicht mehr einfach um dysfunktionale Revolten der Körper und der Lüste und auch nicht mehr um bloße Metamorphosen des Lebens. Auf dem Spiel stehen jetzt immer die individuellen und sozialen Existenzweisen von Subjekten, und “das Subjekt konstituiert sich über Praktiken der Unterwerfung bzw. – auf autonomere Art und Weise – über Praktiken der Befreiung und der Freiheit”. (30) Freilich wäre die Rückkehr zum reflexiven Subjekt auch dann mißverstanden, wenn man darunter die Rückkehr zu einer Instanz oder einem Prinzip der Identität und der Identifikation verstehen wollte. Und sie wäre gleichermaßen mißverstanden, wenn man sie von den Metamorphosen des Lebens und den Revolten der Körper und Lüste abtrennen und auf die Innerlichkeit bloßer Reflexion einschränken würde. In der Entwicklung einer originär modernen Existenzästhetik geht es vielmehr darum, im freien Gebrauch des Lebens und der Lüste “neue Formen von Subjektivität zustandezubringen, in dem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen”. (31) Folglich fungiert die wiedereingeführte Subjektivität nicht als Instanz der Identifikation, sondern als Medium einer Differenz – sie ist der Subjektivierungsprozeß, in dem wir versuchen, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir jetzt noch sind, tun oder denken.
Erste praktische Modelle für die existenzästhetische Suche nach neuen Formen von Subjektivität findet Foucault in den subkulturellen Aufbrüchen und sozialen Kämpfen des Mai 1968. In diesen Kämpfen und Aufbrüchen wird der gegebene Status des Individuums in genau der Weise in Frage gestellt, die für seine Vorstellung einer Ästhetik der Existenz programmatisch ist: “Einerseits behaupten sie das Recht, anders zu sein, und unterstreichen all das, was die Individuen wirklich individuell macht. Andererseits bekämpfen sie all das, was das Individuum absondert, seine Verbindungen zu anderen abschneidet, das Gemeinschaftsleben spaltet, das Individuum auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine Identität fesselt. Diese Kämpfe sind nicht in erster Linie für oder gegen das ‘Individuum’ gerichtet, sondern eher Kämpfe gegen das, was man ‘Regieren durch Individualisieren’ nennen könnte. (…) Schließlich kreisen alle diese Kämpfe um die Frage: wer sind wir? Sie weisen die Abstraktionen ab, die ökonomische und ideologische Staatsgewalt, die nicht wissen will, wer wir als Individuen sind, die wissenschaftliche und administrative Inquisition, die bestimmt wer man sei”. Dabei geht es noch immer nicht um die Verwirklichung utopischer Entwürfe einer anderen Gesellschaft, sondern vielmehr um die direkte Zurückweisung gleichermaßen der herrschaftlichen Vereinzelung wie der herrschaftlichen Vergesellschaftung: “Gemessen an den theoretischen Erklärungen oder an der revolutionären Ordnung, die ihnen der Historiker unterlegt, sind dies anarchische Kämpfe. (…) Das Hauptziel dieser Kämpfe ist nicht so sehr der Angriff auf diese oder jene Machtinstitution, Gruppe, Klasse oder Elite, sondern vielmehr auf eine Technik, eine Form von Macht. Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen” (32). Obwohl es in allen diesen Kämpfen auch um die Zurückweisung und Überschreitung institutionalisierter Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse geht, schlägt sich ihr Resultat nicht unmittelbar in institutionellen Neuordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nieder. Das Resultat dieser Kämpfe zeigt sich vielmehr in einer veränderten Lebensführung einzelner Subjekte und einzelner sozialer Gruppen. Foucault nennt hier vor allem das veränderte Verhältnis bestimmter Individuen und Gruppen zur staatlichen und nichtstaatlichen Autorität, das veränderte Verhältnis der Geschlechter und Generationen zueinander und die veränderte Wahrnehmung von Normalität und Anomalie, von Wahnsinn und Krankheit. Ohne Zweifel kreist also auch die Existenzästhetik um genau die Erfahrungen, die Foucault in der bereits zitierten Studentendiskussion von 1971 in den Revolten der Körper und der Lüste, im freien Drogengebrauch, in der Neubildung von Formen gemeinschaftlichen Lebens sowie allgemeiner in der Ausbildung anderer Formen des Wissens und anderer Formen des Verhältnisses zum Wissen gesucht hatte. Nur verdanken sich diese Erfahrungen jetzt eben nicht mehr der Anrufung einer in der Konstruktion der Sexualität funktionalisierten natürlichen Vitalität subjektloser Lüste. Sie verdanken sich vielmehr den spezifischen Veränderungen, die Subjekte an ihrem Sein, ihrem Sprechen und ihrem Handeln vornehmen, indem sie sich reflexiv um sich selbst sorgen.
Weil die Sorge um sich sowohl der herrschaftlichen Vergesellschaftung wie der herrschaftlichen Vereinzelung entgegengesetzt ist, impliziert sie immer auch eine Sorge um den/die andere/n. In seinen letzten Arbeiten hat sich Foucault deshalb um die Ausarbeitung einer existenzästhetischen Mikropolitik der Freundschaft bemüht. Da die Freundschaft den sozialen Raum bezeichnet, in dem sich Individuen und Gruppen gerade infolge ihrer Differenz und infolge ihrer Lust an der Differenz begegnen können, liegt in der existenzästhetischen Konstruktion neuartiger Freundschaftsverhältnisse die gegenwärtig wohl weitreichendste Chance, gleichermaßen den Atomisierungs- wie den Homogenisierungseffekten der “Bio-Macht” zu entkommen. In einem Interview mit der französischen Zeitschrift Le Gai Pied stellt Foucault die Mikropolitik der Freundschaft ausdrücklich in den Mittelpunkt aller Versuche einer Dekonstruktion des Sexualitätsdispositivs. Stellt man nämlich z.B. die Frage nach der Homosexualität nicht mehr als Frage nach der Wahrheit und nach dem Geheimnis der eigenen Natur, sondern als Frage nach einer homosexuellen Ästhetik der Existenz, dann stellt sie sich als Frage nach den konkreten sozialen Beziehungen, die im Gebrauch der Lüste aufgebaut, entworfen, erweitert und von Fall zu Fall modifiziert werden können. Es geht dann nicht mehr darum, die Wahrheit der eigenen Sexualität auszudrücken, sondern darum, die eigenen Lüste und die Lüste der anderen zur Erfindung einer neuen Sozialität zu benutzen: “Das Problem der Homosexualität entwickelt sich mehr und mehr zu einem Problem der Freundschaft (…) Es geht eher um die homosexuelle Lebensweise als um den Geschlechtsakt selbst”. (33) Die auf den Gebrauch der Lüste gegründete Freundschaft ermöglicht und erfordert dann Formen der individuellen und sozialen Existenz, die die vorgegebenen Vergesellschaftungs- und Vereinzelungsweisen gerade deshalb aufsprengen können, weil sie sowohl die Vereinheitlichungen wie die Spaltungen zwischen Klassen, Gruppen, Institutionen und Individualitäten durchqueren. Immer Angelegenheit einer spezifischen existentiellen Differenz, kann sie zu intensiven Begegnungen und Beziehungen führen, die von allen schematisierten Verhältnissen abweichen und ein freies Spiel mit den individuellen und sozialen Identitäten eröffnen können.
Die weiteste Bedeutung dieser Verschiebung des Problems der Lüste von der Sexualität zur Existenzästhetik erschließt sich, wenn man realisiert, daß Foucault damit noch hinter die Differenz zurückgeht, in der die “neueren Befreiungsbewegungen” einen biologisch vorgegebenen Sex vom soziokulturell konstruierten Gender trennen wollen. Historisch veränderbar sind nämlich nicht nur die sozial fixierten Geschlechterrollen, historisch veränderbar und immer schon historisch geschaffen sind auch die im Sex gefaßte scheinbar naturwüchsige Körperlichkeit und sämtliche körperlichen (Selbst-) Wahrnehmungen und Ausrichtungen, mithin auch die aus der Differenz von Frauen- und Männerkörper resultierende Zweigeschlechtlichkeit als solche. Was als Spiel der Lüste, als Sünde des “Fleisches” und als Normalität bzw. Anomalie der Sexualität gelebt wurde und wird, entspringt einem komplexen Ensemble verschiedener historisch entstandener Denk-, Fühl-, Sprech- und Seinsweisen von Subjektivität, eingeübt in Selbst- und Körperpraktiken, je und je eingelassen in den systemischen Kontext bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, von Wissens- und Machtökonomien. Das aber heißt: Sex und Gender sind beide “nichts” als historisch bestimmte Weisen, als Subjekt des eigenen Daseins zu existieren. Sie können und sollten daher beide Gegenstand einer Ästhetik der Existenz werden, die ohne jeden Rückgriff auf eine normativ aufgeladene natürliche Wahrheit endlich nur noch “um ein Problem der persönlichen Wahl zentriert” wäre. Im Rekurs auf die existentielle Wahl hält Foucault fest, daß die existenzästhetischen Subjektkonstitutionen zuerst und zuletzt eine Angelegenheit der Individuen und Gruppen sind, die sich in der Transformation ihrer Existenzweisen weder auf eine natürliche Wahrheit berufen können noch auf ein universales Gesetz verpflichten müssen. In der politischen Anbindung der Existenzästhetik an die weiteren sozialen Kämpfe gegen die gesamtgesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse unterläuft Foucault zugleich eine mögliche voluntaristische Überspannung der Ethik der Selbstsorge.Von der Konjunktur dieser Kämpfe hängt ab, wie weit- und tiefgehend die existenzästhetischen Experimente angesetzt werden können, vom Ausmaß ihrer Radikalität bestimmt sich zugleich das Maß, in dem die existentielle Eigenmacht der beteiligten Subjekte verallgemeinert werden kann. Dabei kommt den Mikropolitiken der Freundschaft in der Organisation der Widerstände genau die Rolle zu, die in der Bündelung der “Bio-Mächte” dem Sexualitätsdispositiv zukommt. In der freien Konstruktion der Freundschaften vermitteln sich die Ästhetiken der Existenzweisen mit den Widerständen gegen Herrschaft und Ausbeutung: In jedem einzelnen Fall geht es darum, in den den Differenzen der Mächte und der Widerstände “mit einem Minimum an Herrschaft zu spielen…” (34) Indem der Kampf für neue Formen von Subjektivität in den Mittelpunkt der sozialen Kämpfe tritt, ist freigelegt, wo tatsächlich der “Stützpunkt des Gegenangriffs” gesucht werden muß, von dem aus die Mechanismen der Sexualität und mit ihnen überhaupt die Mechanismen der “Bio-Macht” taktisch umgedreht werden können.
(1) M. Foucault, Was ist Aufklärung? In: E. Erdmann u.a., Ethos der Moderne. Ffm, 1990, S. 49.
(2) Der Begriff der Sexualität totalisiert das Gesamt der sexuellen Phänomene, und zwar ebenso der Phänomene der Lust im engeren “erotischen” wie der Phänomene des Geschlechts im weiteren “biologischen” Sinne. Der Begriff des Sexes hingegen meint die Instanz, die den sexuellen Phänomen als ontologisches Substrat, ursächliches Prinzip und erst-letzter Sinn zugrundeliegt bzw. – zugrundeliegen soll. Vgl. Der Wille zum Wissen, S. 180ff.
(3) Die deutsche Übersetzung der Histoire de la sexualité ist auf Foucaults ausdrücklichen Wunsch unter dem Gesamttitel Sexualitität und Wahrheit erschienen. Bd.1: Der Wille zum Wissen, 1976 (dt. Ffm, 1977). Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, 1984 (dt. Ffm, 1986). Bd. 3: Die Sorge um sich, 1984 (dt. Ffm, 1986)
(4) Der Wille zum Wissen, S. 17
(5) ebd., S. 27
(6) ebd., S. 58
(7) ebd., S. 163. Die substantivierende Rede von der Macht hat immer wieder dazu geführt, Foucault einen umfassenden Reduktionismus totaler Herrschaft zu unterstellen. Demgegenüber hat Foucault ausdrücklich festgehalten, daß es ihm zu keiner Zeit um eine Struktur- oder Systemtheorie der Macht, sondern stets um die konkrete Beschreibung bestimmter Formen der Machtausübung gegangen ist: “Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt” (Der Wille zum Wissen, S. 114).
(8) ebd., S. 166
(9) Der Begriff des Dispositivs ist der methodische Leitbegriff der foucault’schen Gegenwartsanalytik. Dispositive sind strategische Kopplungen von Diskursen und materiellen Praktiken, von Wissen und Macht. Ein Dispositiv ist aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt: soziale Institutionen, architektonische Gebilde, politische Entscheidungen, Gesetze, Verwaltungsprozeduren, Produktionsmittel, philosophische, wissenschaftliche, weltanschaulische, moralische Lehren usw. Jedes Dispositiv schließt bestimmte Subjektpositionen ein. Die Bildung eines Dispositivs ist jeweils die strategische Antwort auf ein historisches Problem: Es hängt in seiner Entwicklung und seinem inneren Zusammenhang immer von einer bestimmten Intention ab, ohne doch von der Zentralstelle eines konstitutiven Subjekts gesteuert zu sein. Vgl. etwa: M. Foucault, Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 119ff.
(10) Der Wille zum Wissen, S. 76
(11) ebd., S. 78
(12) ebd., S. 186f.
(13) M. Foucault, Von der Subversion des Wissens. München 1974, S. 114f; vgl. ebd. im Gespräch mit Gilles Deleuze, S. 128ff.
(14) ebd., vgl. ebd. noch einmal S. 125
(15) ebd., S. 114f.
(16) ebd., S. 126
(17) Der Wille zum Wissen, S. 117f.
(18) E. Balibar in: F. Ewald/B. Waldenfels, Spiele der Wahrheit. Ffm, 1991, S. 62
(19) Vgl. G. Deleuze, Foucault. Ffm. 1987. Deleuze erkennt und bejaht den Vitalismus Foucaults von seinem eigenen, noch einmal entschiedener ausgeführten Vitalismus her. Umgekehrt folgt Foucault wenigstens bis zum Ende der 70er Jahre in durchaus euphorischer Weise der “anti-ödipalen Ethik” Deleuzens, vgl. v.a. sein Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Anti-Ödipus, abgedruckt in Dispositive der Macht, S. 225ff. Eine pointierte Kritik dieses Vitalismus findet sich in dem oben genannten Aufsatz Balibars.
(20) H. Kocyba in: M. Foucault, Das Wahrsprechen des Anderen. Ffm 1988, S. 47
(21) Der Gebrauch der Lüste, S. 20f.
(22) M. Foucault in: H. Dreyfus/P. Rabinow, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Ffm. 1987, S. 266
(23) Der Gebrauch der Lüste, S. 18
(24) Zur Kritik der foucault’schen Antikendarstellung vgl. im Überblick Urs Marti, Michel Foucault. München 1988, S. 138ff.
(25) Vgl. das Interview im Foucault-Buch von H. Dreyfus/P. Rabinow, a.a.O. , S. 268-274, sowie das Interview in E. Erdmann u.a., a.a.O., S. 135
(26) Vgl. wiederum im Interview mit H. Dreyfus/P. Rabinow a.a.O. sowie ausführlich in Das Subjekt und die Macht, ebd., S. 245ff. und in Was ist Aufklärung?, dt. in: E. Erdmann u.a., a.a.O., S. 35ff. Außerdem vgl. das Interview und die Vorlesungsnachschrift in M. Foucault, Freiheit und Selbstsorge. Frankfurt 1984, bes. S. 54
(27) M. Foucault in H. Dreyfus/P. Rabinow a.a.O., S. 272f.
(28) Der Begriff der Problematisierung ist ein weiterer methodischer Leitbegriff Foucaults: “Problematisierung heißt nicht Repräsentierung eines schon existierenden Gegenstandes und auch nicht Kreierung eines nicht existierenden Gegenstandes durch den Diskurs. Sondern das Ensemble diskursiver oder nicht-diskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und des Falschen eintreten läßt und es als Gegenstand fürs Denken konstituiert (sei es in der Form der moralischen Reflexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse usw.)” (M. Foucault in F. Ewald, Pariser Gespräche. Berlin 1989, S. 17f.). In Der Gebrauch der Lüste erhebt Foucault den Begriff der Problematisierung zum Leitbegriff seiner Geschichtsschreibung der Wahrheit: Anstelle einer Analytik der Verhaltensweisen und der Ideen bzw. der Gesellschaften und der Ideologien gehe es dabei um “die Problematisierungen, in denen sich das Sein gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie (um) die Praktiken, von denen aus sie sich bilden” (ebd., S. 19).
(29) Der Gebrauch der Lüste, S. 10
(30) M. Foucault, Von der Freundschaft. Berlin 1984, S. 137f.
(31) M. Foucault in: H. Dreyfus/P. Rabinow a.a.O., S. 250
(32) ebd., S. 246
(33) Von der Freundschaft, S. 86f.
(34) Freiheit und Selbstsorge a.a.O., S. 26