Für eine Theorie der kommenden Revolution

Elf Thesen zu Hegel, Marx und Kierkegaard

Im September 2018 feierte das Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster das 25. Jubiläum seiner Gründung. Es ist kein Zufall, sondern innerste Konsequenz seiner Politischen Theologie, zu diesem Anlass nach der kommenden Revolution zu fragen. Dass die Genoss*innen mich um den Eröffnungsvortrag baten, war dann aber ebenfalls kein Zufall: kommen Politische Theologie und Politische Philosophie doch in der Unbeugsamkeit zusammen, mit der sie sich dem Aberglauben vom „Ende der Geschichte“ und dem Götzendienst einer Welt verweigern, die ihre Transzendenz verleugnet. (Lang) Die Revolution, zu deren Theorie ich jetzt beitragen will, heißt die kommende Revolution. Weil ihr Widerspruch zum Ganzen der bestehenden Welt heute (noch) fehlt, wird diese Welt von einem anderen Widerspruch heimgesucht. Er liegt in ihrer existenziellen Herausforderung durch den fundamentalistischen Terror. Sie besteht darin, dass (mehr oder minder) beliebige Individuen ihr Begehren nach dem ganz Anderen so artikulieren, dass sie an (mehr oder minder) beliebigen Orten andere (mehr oder minder) beliebige Individuen mit dem Tod bedrohen. Selbstermächtigend spielen sie dabei (fast) nichts als ihre Bereitschaft aus, in den Tod zu gehen und möglichst viele andere mit sich zu reißen.

Die im Selbstmordattentat gestellte Herausforderung verdichtet die Krisenhaftigkeit der Gegenwart allerdings erst in Bezug auf ihren Widerpart, den kybernetisch hochgerüsteten und tendenziell von jeder Rechtsbindung befreiten Antiterror-Krieg. Er ist der letzte Konvergenzpunkt eines globalen Empires, das ansonsten an allen Fronten mit seinem Zerfall kämpft. Die Desintegration des Empires resultiert allerdings nicht bloß aus der fundamentalistischen Herausforderung, sondern aus der Heimsuchung durch mehrere, sich gegenseitig verstärkende Krisen.

I.

Da uns diese Krisen seit langem schon bedrängen, beschränke ich mich auf eine zugegeben dichte Aufzählung, die im ersten Zug – wie sollte es anders sein – auf die Krise des globalen Kapitalismus führt. Ihm entspringen die ökologischen Krise und die Krise der Arbeit. Die ökologische Krise bildet den Horizont aller anderen Krisen. Die Krise der Arbeit liegt darin, dass Arbeit für die Mehrzahl aller Menschen den einzigen Zugang zu einem überlebenssichernden Einkommen bildet, aber immer weniger Menschen gesichert zur Verfügung steht. Die ökologische Krise und die Krise der Arbeit treffen in der Krise des Städtischen aufeinander, die dem Umbruch entspringt, nach dem erstmals überhaupt seit dem Beginn aller Geschichte mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben. Damit wird der jahrtausendealte Unterschied von Stadt und Land hinfällig: wie Lefebvre sagt, leben wir heute immer und überall im Städtischen.[1] Dort aber, im globalen Städtischen, leben wir die Krise unserer sozialen Beziehungen, die bis in die Elementarbeziehungen der Freundschaft und der Liebe, also bis in unsere intimen Selbstverhältnisse reicht. Mit der Krise unserer Selbstverhältnisse treten wir in den selbst zutiefst krisenhaften Zusammenhang von Globalisierung und Individualisierung ein, den Zusammenhang des ausnahmslos alle betreffenden Weltweitwerdens der Welt mit der rückhaltlosen Vereinzelung dieser Welt auf einen jeden und eine jede von uns. Nicht erst seit gestern gründet in dieser Vereinzelung die Krise des Ethischen und folglich des Politischen, die sich – wiederum nicht zufällig – in der Doppelkrise zugleich der Religion und der Säkularität artikuliert. Deren handgreiflicher Ausdruck ist die noch vor kurzem nahezu ausgeschlossene, vieldeutige und weiter auszudeutende „Wiederkehr des Religiösen“, von der der Bogen der Krisen zurück auf die Krise des Terrors wie des Antiterrors führt. Das Auseinander-hervor-und-ineinander-über-Gehen aller Krisen fügt sich zuletzt zur Krise der Geschichte, genauer: zur Krise dessen, was in den ersten beiden Jahrhunderten nach der Französischen Revolution „Weltgeschichte“ hieß und von Hegel als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit bezeichnet wurde. Die Krise der Geschichte durchherrscht alle anderen Krisen und kulminiert im Fehlen der Revolution, das die Gegenwart in der Losung „There is no alternative“ fasst und das die Fundamentalismen dieser Welt im Selbstmordattentat quittieren.

Der Widerspruch von Terror und Antiterror kann als Widerspruch von Immanenzverachtung und Transzendenzverleugnung gefasst werden. Er ist insofern ein Scheinwiderspruch, als er in Wahrheit ein Teufelskreis ist: der Teufelskreis, in dem die Verleugnung schon der Möglichkeit eines Jenseits, d.h. der Möglichkeit eines Anderswerdens der Welt, konsequent zur Verachtung des Diesseits führt, zur Verachtung des Lebens und der Welt.

II.

Ihren Durchbruch fand die Krise der Geschichte im Jahr 1989, im Sieg des sogenannten freien Westens über den sogenannten sozialistischen Osten. Als Philosoph dieses Sieges verkündete Francis Fukuyama damals das „Ende der Geschichte.“[2] Daran hat auch das Jahr 2001 nichts geändert, in dem die nachgeschichtliche Welt zum Teufelskreis von imperialer oder neoliberaler Transzendenzverleugnung und fundamentalistischer Immanenzverachtung wurde. Tatsächlich glauben beide Parteien, dass das Ende der Geschichte bereits erreicht sei. Deshalb geht es dem Antiterror lediglich um die Sicherung des Bestehenden als eines unüberschreitbaren, in sich verschlossenen Binnenraums – und deshalb geht es dem Terror gerade um die Vernichtung dieses Binnenraums. Sich der Herausforderung der Krise der Geschichte zu stellen heißt deshalb, wortwörtlich einen Kampf auf Leben und Tod und einen Kampf um Leben und Tod kämpfen zu müssen. Dabei ist der kleine Unterschied in der Präposition (auf Leben und Tod, um Leben und Tod) ein großer Unterschied in der Sache, weil er den Kampf gegen das „alternativlose“ Ende der Geschichte zugleich von den Fundamentalismen und vom Empire scheidet. Philosophisch und theologisch gesprochen ist der Kampf nicht auf, sondern um Leben und Tod eine Sache der Transimmanenz, des fehlenden Dritten zu Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung. Von ihr ist an dieser Stelle nur zu sagen, dass sie die Immanenz, den Binnenraum der Welt, nicht verachten muss, weil sie die Transzendenz nicht verleugnet, sondern noch immer an die Möglichkeit glaubt, diesen Binnenraum überschreiten, d.h. transzendieren zu können.

III.

Der Kampf auf und um Leben und Tod führt die Theorie der kommenden Revolution auf die zehn wichtigsten Seiten zurück, die je zur politischen Philosophie geschrieben wurden. Er führt im selben Zug auf die beiden wichtigsten Kritiken zurück, die diese zehn Seiten seither gefunden haben. Die Rede ist zum einen vom Herr-Knecht-Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes und zum anderen von ihrer Kritik einerseits durch Marx und andererseits Nietzsche und Kierkegaard.[3] Mit einigem Recht wird die auf Marx zurückgehende Linie der Kritik als Sozialkritik und die auf Nietzsche und Kierkegaard zurückgehende Linie als Künstler*innenkritik bezeichnet. Die Größe Hegels liegt darin, beiden Linien ihren Ansatzpunkt vorgegeben zu haben.[4]

Wovon also handelt das Herr-Knecht-Kapitel? Es stellt einen auf Leben und Tod geführten Kampf dar, in den sich zwei freie Wesen gerade im Vollzug ihrer Freiheit verstricken. Hegel bezeichnet diesen Kampf als Kampf um Anerkennung, weil die beiden Kämpfenden versuchen, dem jeweils anderen die eigene Freiheit mitzuteilen und sich im Gegenzug von dieser oder diesem als freies Wesen anerkennen zu lassen. Die Probe der Freiheit liegt in der einzigartigen Befähigung des freien Wesens, im Kampf das Wagnis des Todes einzugehen, sich so vom Naturzwang der Selbsterhaltung und damit vom bloßen Leben zu lösen, um sich als unendliche Freiheit in endlicher Existenz zu bewähren.

Der turning point des Herr-Knecht-Kapitels liegt dann aber darin, dass eine*r der beiden Kämpfenden im letzten Augenblick dieser Probe ausweicht und sich zur Rettung des eigenen Überlebens zum Knecht beziehungsweise zur Magd des anderen macht. Aus dieser Konstellation entspringt, so Hegel weiter, die Weltgeschichte – natürlich nicht im Sinn einer kausalen Ursache, sondern im Sinn des logischen Ausgangspunkts für den Versuch, zu begreifen, worum es in ihrem blutigen Auf und Ab eigentlich geht. Zu begreifen ist dabei, dass die Freiheit immer auch die Möglichkeit zur Abwahl ihrer selbst bereitstellt – einer Abwahl, die als solche selbst ein Akt der Freiheit ist und bleibt. Von daher ist alle Geschichte immer auch Geschichte der freiwilligen Knechtschaft. Deren innere Dynamik liegt darin, dass das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft für alle Beteiligten unbefriedigend bleibt. Bei den Knechten-und-Mägden liegt das auf der Hand: Ihr Überleben hängt an nichts anderem als an der Willkür ihrer Herr*innen. Fällt ihnen trotzdem Anerkennung zu, handelt es sich meist um die Anerkennung in einer Position der Unterwerfung. Die Herr*innen wiederum haben sich mit ihrem Sieg im Kampf zwar die Anerkennung der Knechte-und-Mägde erzwungen. Sie werden darin aber eben nur von unfrei gebliebenen Lebewesen anerkannt, das heißt von Wesen, deren Anerkennung im Letzten wertlos ist. Das unausweichliche Unbefriedigtsein stachelt die Begierde immer neu an, führt zu immer neuen Kämpfen zwischen den Herr*innen und den Knechten-und-Mägden, aber auch zu den Kämpfen unter den Herr*innen und unter den Knechten-und-Mägden.

Dabei kommen die Knechte-und-Mägde Zug um Zug in die stärkere Position. Während die Herr*innen über nichts als ihre Todesbereitschaft verfügen, werden sich die Knechte-und-Mägde im Fortschritt der Arbeit, d.h. im Maß der dabei erfahrenen Selbst- und Weltbeherrschung, des Unterschieds zwischen bloß lebendigen und freien Wesen bewusst. Je mehr sie ihre Fertigkeiten, ihre Kenntnisse und ihr Bewusstsein entfalten, das heißt, je mehr sie sich bilden, desto unerträglicher wird ihnen die Knechtschaft. Damit werden ihre Kämpfe, wie verworren auch immer, zu politischen Kämpfen im eminenten Sinn des Begriffs: zu Befreiungskämpfen, zu Geschichte.

Die erste Auflösung dieses Dramas markiert die Französische Revolution: Die Tötung des Königs ist die Abschaffung des Herrn – für Hegel deshalb das Ende der Geschichte. Hier setzen Marx, Nietzsche und Kierkegaard ein. Marx beziehungsweise die Sozialkritik bleiben im Prinzip in der Perspektive Hegels, schieben das Ende der Geschichte aber bis zur Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft auf. Sie wird eine Gesellschaft der zu sich selbst befreiten Arbeit sein, die Marx „Praxis“ nennt. Ihre politische Bestimmung liegt in der revolutionären Aufhebung des Staates und des Rechts in die Selbstregierung dieser Gesellschaft: ein Unterschied zu Hegel, der herauszuarbeiten bleibt.

Nietzsche, Kierkegaard und die Künstler*innenkritik gehen einen Schritt weiter. Für sie gehören die Herr*innen wie ihre Knechte-und-Mägde beide in den „Sklavenaufstand in der Moral.“[5] Deshalb sind ihnen die Gesellschaften Hegels und Marx’ keine freien Gesellschaften, sondern proletaro-bourgeoise Gesellschaften der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen, Gesellschaften also der allgemeinen Verknechtung in Kapital und Arbeit. Ihnen setzen Nietzsche und Kierkegaard eine Freiheit entgegen, die je in eigener Existenz zu denken und zu leben bleibt. Genauer: einer Freiheit, die je nur in eigener Existenz zu denken und zu leben ist.

IV.

Vertiefen wir den Begriff der proletaro-bourgeoisen Gesellschaften der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen jetzt im hier schon einmal aufgerufenen Doppel von Globalisierung und Individualisierung. Globalisierung meint den Prozess, in dem das Verhältnis von Kapital und Arbeit zum weltweiten Verhältnis und die Gesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen zur Weltgesellschaft werden. Er dauert schon mehrere Jahrhunderte an, hat aber in den letzten 50 Jahren rasant an Geschwindigkeit gewonnen. Mit Marx wird sie als eine Gesellschaft zu fassen sein, in der tendenziell alles, was ist, zum Material sich selbst verwertender Praxis wird. Deshalb lässt diese Gesellschaft den Unterschied von Stadt und Land, von Natur und Technik hinter sich, und eben deshalb kybernetisiert oder digitalisiert sie sich zum Schaltkreis eines einzigen, allumfassenden Weltmarkts, der als solcher keine Herr*innen braucht. Die bleibenden, im Maß sogar ungeheuren Unterschiede an Macht und Reichtum trennen deshalb nur noch Knechte und Mägde voneinander.

Individualisierung ist dann aber nicht der Gegenpol, sondern das uns nächste Medium von Globalisierung, Urbanisierung und Kybernetisierung: deren Vereinzelung auf jede und jeden von uns. Sie findet ihre – unsere! – Wahrheit dann aber im Begriff Mediokrisierung, der uns sagt, dass wir im Doppel von Globalisierung und Individualisierung gerade nicht zum freien Individuum, gar zur Freiheit in Existenz geworden sind. Im Gegenteil: Die ganze Welt auf sich vereinzelt zu haben heißt zunächst, dass jede und jeder Einzelne am jeweils anderen, besser: am Durchschnitt aller anderen, Maß nimmt und Maß nehmen muss, um in der Überlebenskonkurrenz aller gegen alle überhaupt bestehen zu können. Ihre soziale Realität findet die Mediokrisierung nicht zufällig in der globalen Mittelklasse. Sie ist dies nicht, weil wir alle zu ihr gehören, im Gegenteil: die ungeheure Masse der von ihr Ausgeschlossenen zählt weltweit nach Milliarden und wächst täglich. Doch geht von ihrer Existenzweise eine Sogwirkung aus, der die Begierden und Bedürfnisse, die Sehnsüchte und Träume auch und gerade derjenigen folgen, die gar keine Chance haben, ihr jemals zuzugehören. Insofern fasst der Begriff der Mediokrität die innere Dynamik dessen, was anderswo als globale „Externalisierungsgesellschaft“ oder als „imperiale Lebensweise“ bezeichnet wird.[6]

V.

Der politische Einsatz meiner Theorie der kommenden Revolution liegt in der Einsicht, dass wir uns aus der Mediokrität nur befreien können, wenn wir den Mai 1968 wieder aufnehmen. Tatsächlich verdankt sich der Globalisierungs- und Individualisierungsschub der letzten 50 Jahre maßgeblich dem Ereignis des Mai, das seinen Anfang irgendwann in den 1950er Jahren genommen hat und in den frühen 1980er Jahren zum Abbruch kam. Der Mai war der bislang letzte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, weil und indem er Sozial- und Künstler*innenkritik zusammengeführt hat. Erste Versuche dazu hatte es zwar schon in den 1840er, dann wieder im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegeben. Bestimmend für das Gefüge der sozialen Kämpfe aber wurden sie erst in der Epoche des Mai 1968. Deshalb lässt sich sein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit in einer Direktive der Situationistischen Internationale fassen, die seine radikalste Avantgarde war. Sie lautet: „Die autonome Emanzipation der Individuen ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft.“[7] Mit dieser Direktive wird der weltgeschichtliche Widerspruch vom Widerspruch der Klassen auf den Widerspruch zwischen jeder und jedem Einzelnen und dem Ganzen der Gesellschaft übertragen: eine Übertragung, die die Neue Linke und die Neuen Sozialen Bewegungen dann in ihren „Politiken in erster Person“ erprobt haben. Den Geist des Mai 68 wieder aufzunehmen heißt deshalb, seine situationistische Direktive wiederaufzunehmen und dem imperialen oder neoliberalen Doppel von Globalisierung und Individualisierung eine andere Globalisierung in einer anderen Individualisierung entgegenzusetzen.[8]

Michel Foucault, einer der Philosophen des Mai 68, hat die Übertragung des Widerspruchs zum Bestehenden von den Klassen auf die Individuen ganz ausdrücklich mit dem Prozess der europäischen Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts verglichen. „Ich glaube“, schreibt Foucault, „dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden.“[9] Dabei liegt das weltgeschichtlich Gemeinsame der reformatorischen Politiken in Erster Person darin, dass sie, wie Foucault sagt, zu Existenzkünsten einer „freiwilligen Unknechtschaft“ nach dem Ende der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft werden.[10]

VI.

Es ist dann aber kein Zufall, dass sich die je in eigener Existenz zu beginnende Reformation gerade im Blick auf den Widerstreit konkretisieren lässt, in dem sich die Emanzipationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Anarchist*innen, Sozialist*innen oder Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen gespalten haben. Ich löse diesen Widerstreit von der Geschichte in der Arbeiter*innenbewegung ab und formalisiere Anarchist*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen zu dialektischen Existenzfiguren emanzipatorischer Politik, die je auf ihre Weise das im Prinzip unauflösliche Problem der Freiheit und der freiwilligen Knechtschaft austragen.[11]

Dabei verstehe ich den Anarchismus als die Form politischen Existierens, in der die Freiheit radikal auf sich selbst besteht: was sie nur kann, wenn sie ihren Befreiungskampf als unversöhnliche Revolte, das heißt als einen Kampf um Leben und Tod – und zur Not auch auf Leben und Tod führt. Die innere Gefahr der anarchistischen Revolte liegt in der Nähe zu dem, was ich im Blick auf den fundamentalistischen Terror als Immanenzverachtung bezeichnet habe.

Die Sozialist*innen oder Sozialdemokrat*innen verstehe ich als die Gegenspieler*innen des Anarchismus. Zwar geht es auch ihnen um die Freiheit und um die Gleichheit in der Freiheit. Doch folgen sie dabei der Erfahrung, dass die meisten Existierenden dazu neigen, sich in freiwilliger Knechtschaft in die proletaro-bourgeoise Mediokrität zu fügen. Deshalb weichen die Sozialdemokrat*innen der Zuspitzung des politischen Kampfs zum Kampf um und auf Leben und Tod aus und setzen stattdessen auf eine Politik der Reform, deren Maßgabe der pragmatische Konsens der Mediokrität ist. Deshalb liegt ihre innere Gefahr in einer Transzendenzverleugnung, mit der sie die herrschenden Verhältnisse zum unüberschreitbaren Horizont der Geschichte erheben.

Getreu dem Manifest der Kommunistischen Partei verstehe ich die Kommunist*innen dann aber nicht als eigenständige dritte Kraft neben den Anarchist*innen und Sozialist*innen: Die Kommunist*innen sind ja gerade, so heißt es dort ausdrücklich, „keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien.“[12] Vielmehr sind sie im unauflöslichen Zwist dieser Parteien die Agent*innen des Gemeinsamen, der Geschichte und deshalb der Zukunft – genauer noch: der Vorwegnahme der Zukunft schon in der Gegenwart. Eben deshalb müssen sie in der Lage sein, zwischen der anarchistischen Freiheitsbegierde und dem sozialdemokratischen Verständnis der freiwilligen Knechtschaft zu vermitteln. Lösen können sie diese Aufgabe aber nur, wenn es ihnen gelingt, mit der Spontaneität der Anarchist*innen und mit der Mediokrität der Sozialist*innen zur Geltung bringen, was Georg Lukács den „Gesichtspunkt der Totalität“ genannt hat: „Die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente des Ganzen, des dialektischen Prozesses, der als Einheit von Gedanke und Geschichte gefasst ist.“ Erst im Zusammenfall von „Gedanke und Geschichte“, so Lukács, entkommt der revolutionär-reformatorische Prozess dem „Dilemma vom Fatalismus der reinen Gesetze und von der Ethik der reinen Gesinnung“, an dem Sozialist*innen und Anarchist*innen je auf komplementäre Weise scheitern.[13] Den einen widerfährt das im knechtischen, damit aber transzendenzverleugnenden Respekt vor dem geregelten Gang der Dinge, den anderen im freien Sprung über diesen Gang hinweg, der jederzeit zum Sprung in die Immanenzverachtung zu werden droht. Den Kommunist*innen fällt damit zu, was ich hier eingangs als Transimmanenz bezeichnet habe: in ihr liegt dann ihre eigene innere Gefahr.

VII.

Indem ich die Theorie der kommenden Revolution auf eine produktive Wendung des Widerstreits der Anarchist*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen gründe, gründe ich beide, die Revolution und ihre Theorie, auf eine ethisch-politische Durcharbeitung des Problems der Freiheit und der freiwilligen Knechtschaft, in dem jede und jeder Einzelne allein mit sich den Anfang machen muss. Der Einwand dagegen liegt auf der Hand. Ist es nicht völlig überspannt, ist es nicht Subjektivismus im schlechten Sinn, dem globalen Kapital-und-Arbeit-Verhältnis in eigener Existenz und folglich in einer Politik Erster Person gegenüberzutreten, das heißt mit nichts anderem als den Denk-, Handelns- und Lebensmöglichkeiten auf sich vereinzelter Individuen? Ist es nicht eine maßlose Überforderung, den Einzelnen als Einzelnen die Rettung der Welt aufzubürden? Ist nicht bereits der Aufbruch des Mai 68 gerade daran gescheitert und konnte der Neoliberalismus ihn nicht deswegen so leicht absorbieren? Und: Bedeutet das nicht, sich in der gerade erst kritisierten „Ethik der reinen Gesinnung“ zu verfangen, der zuletzt gar nichts anderes übrig bleibt, als vor dem „Fatalismus der reinen Gesetze“ zu kapitulieren?

Ich begegne diesem tatsächlich fundamentalen Einwand in zwei Zügen. Der erste betrifft das Verhältnis von Politiken in Erster Person und Massenpolitiken. Tatsächlich setzen weder ich noch Foucault Politiken der Ersten Person an die Stelle von Massenpolitiken, so als ob wir letztere heute nicht mehr bräuchten. So unterlegt Foucault seiner These vom reformatorischen Charakter des Mai ein historisches Schema der sozialen Kämpfe, das zugleich als seine Überarbeitung der Hegelschen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft verstanden werden muss. Darin unterscheidet er (a) Kämpfe gegen ethnische, soziale und religiöse Herrschaft, (b) Kämpfe gegen ökonomische Ausbeutung und (c) Kämpfe um Subjektivierung, um Weisen der Existenz. Diese drei Kämpfe finden sich zwar in allen historischen Epochen, gehen darin aber zueinander stets besondere Verhältnisse ein. So kommt in den Feudalgesellschaften den in Massenpolitiken ausgefochtenen Kämpfen gegen Herrschaft der Vorrang vor den Kämpfen gegen Ausbeutung und um Subjektivierung zu. In den sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaften fällt dieser Vorrang den ebenfalls in Massenpolitiken ausgefochtenen Kämpfen gegen Ausbeutung zu. Seit dem Mai 68 aber stehen die sozialen Kämpfe unter einem Vorrang der in Politiken der Ersten Person ausgefochtenen Kämpfe um Subjektivierung, wobei, wie Foucault ausdrücklich festhält, der massenpolitische „Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden ist, im Gegenteil.“[14]

Ist damit gesagt, dass Politiken Erster Person heute ein Vorrang vor Massenpolitiken zukommt, so heißt das nicht, dass sie wichtiger als Massenpolitiken wären. Es heißt vielmehr, dass Politiken in Erster Person uns heute die Form, d.h. die Art und Weise vorgeben, in der wir an Massenpolitiken teilnehmen: wie auch immer diese Politiken inhaltlich bestimmt sein mögen. Es darf angenommen werden, dass sich ein solcher Primat von Politiken Erster Person historisch nicht nur im 15. und 16. Jahrhundert und nicht erst seit dem Mai 68, sondern auch in einigen anderen weltgeschichtlichen Umbrüchen nachweisen lässt: in Umbrüchen nicht zufällig, die religiöse oder zumindest spirituell bestimmte Umbrüche waren.

VIII.

Im zweiten Zug meiner Antwort auf den mir selbst gestellten Einwand mache ich jetzt mit dem theologischen Unterstrom einer politisch-philosophischen Theorie Ernst, die die kommende Revolution im Blick zurück auf die historische Reformation denkt und sich dabei der Begriffe der Immanenz und Transzendenz, der Immanenzverachtung, der Transzendenzverleugnung und der Transimmanenz bedient: Begriffen, die erst theologische waren, dann philosophische Begriffe wurden und heute ethisch-politische Begriffe geworden sind. Ich bin damit auch an der Stelle angelangt, an der ich mit dem theologischen Unterstrom im Begriff, doch mehr noch in der Sache selbst der Existenz Ernst machen muss. Dazu werde ich mit der Bestimmung der Anarchist*innen, Sozialist*innen und Kommunist*innen zu Existenzfiguren emanzipatorisch-reformatorischer Politik Ernst machen und ihren Widerstreit in den Widerstreit übersetzen, den Sören Kierkegaard in seiner eigenen, damit aber eben auch in unserer Existenz ausgemacht hat. Er hat ihn einer Dialektik ihrer ästhetischen, ihrer ethischen und ihrer religiösen Sphären oder Stufen gefasst, in der der Akzent nicht auf dem Stufengang, sondern auf den immer neuen Vor- und Rücksprüngen der jeweiligen Übergänge liegt.

Dass Kierkegaard seine Existenz-Dialektik auch als Kritik an Hegels Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft verstanden hat, lässt sich besonders der Schrift entnehmen, die er unter dem Titel Literarische Anzeige veröffentlicht hat. Sie liest sich heute als vorweggenommene Kritik des Welt- und Existenzzustands, den ich hier als die mediokre Weltgesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen bezeichnet habe: Kierkegaard selbst spricht sinngleich von einem „Zeitalter der Nivellierung“ und, bedeutsamer noch, von einem „examen rigorosum der Nivellierung“, d.h. von einer Prüfung, die als solche jeder einzelnen Existenz auferlegt wird.[15]

Unter dem Grenzbegriff der Existenz versteht er, was traditionell und auch von ihm selbst als Subjektivität bezeichnet wird. Im Unterschied zur Tradition aber fasst er diese Subjektivität nicht aus der erkennenden Beziehung des Subjekts auf sich selbst und andere Objekte, sondern aus der Differenz von Wissen und Sein, die im vorbegrifflichen und unbegreiflichen Dass ihres Existierens aufbricht. Das Dass meines Existierens und mein Gedanke, dass ich existiere, sind nicht dasselbe und können nie dasselbe werden, zwischen beiden klafft ein unüberwindlicher Spalt: ein Spalt, der als solcher die Aufgabe selbst der Existenz ist, ihre Bestimmung zur Transimmanenz.

Den Unterschied von Wissen und Sein bestimmt Kierkegaard dann als Unterschied von Idealität und Realität, von Unendlichkeit und Endlichkeit. Unendlich ist die Existenz in der Offenheit für sich selbst, die Anderen, die Welt und Gott, endlich ist sie in der Realität ihres Daseins – hier, in diesem Leib, in dieser Sprache, an diesem Ort, zu dieser Zeit zu sein und sein zu müssen. Diese Differenzen werden dann in die Differenzen von Seele und Leib, von Möglichkeit und Notwendigkeit, von Ewigkeit und Zeitlichkeit und in die Differenz von Allgemeinheit und Individualität übertragen. Aus ihnen heraus bestimmt Kierkegaard die Subjektivität als Streben und Strebenmüssen nach der Synthese der eigenen Unterschiede und darin als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst, das sich also zum eigenen Sich-Verhalten verhält. Mit diesem Streben und als dieses Verhältnis zum eigenen Sich-Verhalten, so ist zu ergänzen, trat und tritt sie auch in den Kampf um Anerkennung, damit in die Geschichte ein, in der sie immer wieder neu in das Entweder-Oder eines „wesentlichen“ oder „unwesentlichen“ Existierens gestellt wird. In unserer Gegenwart als dem „Zeitalter der Nivellierung“ spannt sich dieses Entweder-Oder ins Extrem: das genau ist das „examen rigorosum der Nivellierung“, das examen rigorosum von Globalisierung, Individualisierung und Mediokrisierung. Die Entscheidung dieses Entweder-Oder fällt in der Existenz-Dialektik, die uns durch die Sphären eines ästhetischen, eines ethischen und eines religiösen Existierens führt.

IX.

Die ästhetische Sphäre fällt zunächst mit der Sphäre des unwesentlichen, wir können auch sagen des knechtischen Existierens zusammen. In ihr geht es um die primäre Bestimmtheit unserer Existenz durch ihre sinnlich-sprachliche Unmittelbarkeit, durch das ihr unmittelbare Gegebene und die Bedürfnisse, die sie mit dem Gegebenen oder mit dem gerade Fehlenden verbinden. Ästhetisch ist eine Existenz, die der Unmittelbarkeit ihres Daseins verhaftet bleibt und insofern noch gar kein ausdrückliches Verhältnis zu sich aufgenommen hat. Ästhetisch existieren, so können wir heute sagen, die Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen, die Subjekte der imperialen Lebensweise. Allerdings findet sich das Streben nach Befreiung schon in dieser Sphäre. Es zeigt sich zunächst in allen Versuchen, das Gegebene allein zum Gegenstand des Genusses zu machen. Es zeigt sich dann in allen Versuchen, den Genuss zu steigern. Es zeigt sich schließlich dort, wo die Existenz im Genießen in Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen gerät, sich gegen diese Verhältnisse für sich selbst entscheidet. Und: Es zeigt sich in der Verzweiflung an einem Existieren, das sich in immer nur endlichen Genüssen verzehren muss und nie mehr als eine endliche Anerkennung erringen kann.

Um sich aus dieser Verzweiflung zu befreien, transzendiert die Existenz aus der ästhetischen in ihre ethische Sphäre. Der Sprung in die Ethik ist der Augenblick der Selbstwahl der Einzelnen durch die Abwahl des ästhetischen Nichtwählens und wählt als solcher nur erst das Wählenkönnen selbst. Deshalb wählt die ethische Existenz nicht etwas Besonderes, sie trifft keine Auswahl aus einer gegebenen Reihe von Gütern oder Werten, sondern wählt sich als ein Selbst, das sein endliches Sein in un-endlicher Freiheit zu sein, d.h. zu transzendieren hat. Die sich selbst wählende Existenz wählt damit allerdings auch, von nun an stets in die Wahl von Gut und Böse gestellt zu sein. Sie wählt damit nicht nur das Wählenkönnen, sondern auch das Wählensollen und damit das Sollens überhaupt. „Wer ethisch lebt“, schreibt Kierkegaard, „der drückt das Allgemeine in seinem Leben aus, er macht sich zu dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, dass er sich seines konkreten Seins entkleidet, denn so wird er zu gar nichts, sondern dadurch, dass er sich damit bekleidet und es mit dem Allgemeinen durchdringt. (…) Wer ethisch lebt, arbeitet darauf hin, der allgemeine Mensch zu werden”.[16]

Sieht man, was man in Kierkegaards Existenz-Dialektik immer muss, auf die Übergänge zwischen die Sphären, erkennt man gerade dort die Existenzfiguren der Anarchist*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, und man erkennt sie dort in ihrer Beweglichkeit. Alle drei treten in dem Augenblick hervor, in der der Wille zum Genießen in Konflikt mit dem Gegebenen und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gerät, und mit gutem Recht fällt dem Anarchismus dabei die Führung zu. Doch lassen sich die Existenzfiguren der Emanzipation auch in ihrer jeweils unterschiedlichen Rückkehr von der ethischen in die ästhetische Sphäre erkennen: wird der Anarchismus dabei noch radikaler, bleiben die Sozialist*innen auch hier dem Mittelmaß und die Kommunist*innen ihrem reflexiven Abstand auf beide Positionen verpflichtet.

X.

Allerdings werden alle Existierenden und mit ihnen die Anarchist*innen, Sozialist*innen und Kommunist*innen auch in der ethischen Sphäre von der Verzweiflung übermannt. Sie meldet sich überall dort, wo das Werden zum „allgemeinen Menschen“ als Selbstverlust und Selbstverzicht erfahren wird. Sie meldet sich aber auch und noch stärker, wenn die ethische Existenz erfährt, ihrer eigenen Idealität nicht genügen zu können, weil sie in der Endlichkeit ihres Lebewesens gar nicht vermeiden kann, Schuld auf sich zu laden und damit die Schuld aller zu vergrößern. Auch hier führt die Verzweiflung zu einer Transzendenzbewegung, jetzt aber zu dem Sprung oder Übergang in die Sphäre, die Kierkegaard als religiöse Sphäre bezeichnet. Sie heißt so, weil es in ihr um die endgültige Lösung aus dem geschichtlichen Schuldzusammenhang, um die Vergebung aller Schulden und Sünden und damit um eine letzte Versöhnung geht. Wird die Existenz in der ethischen Sphäre vom Wissen geleitet, dessen höchste Form im Wissen des Guten liegt, wird sie in der religiösen Sphäre vom Glauben geleitet. Dies ist so, weil die Bestimmung der Schuld als Sünde und die Möglichkeit der Vergebung von Schuld und Sünde keine Sache des Wissens sein können, sondern nur als etwas geglaubt werden können, das sich nicht errechnen und beweisen lässt:

„Die Antwort des Glaubens“, schreibt Kierkegaard, „ist nicht auf eine Lehre bezogen, ob sie wahr ist oder nicht, (…) sondern sie ist die Antwort auf die Frage nach einem Faktum: Nimmst du an, dass er wirklich dagewesen ist? (…) Der Gegenstand des Glaubens ist daher die Wirklichkeit des Gottes, Wirklichkeit im Sinne von Existenz. (…) Der Gegenstand des Glaubens ist also die Wirklichkeit des Gottes in Existenz, d.h. als eines Einzelnen, d.h. dass der Gott als ein einzelner Mensch dagewesen ist. (…) Das Christentum ist daher keine Lehre, sondern das Faktum, dass der Gott dagewesen ist”.[17] Man muss ergänzen: Das Christentum ist darüber hinaus die Wahl, dem Faktum der in Christus menschgewordenen Existenz Gottes in der eigenen Existenz zu folgen und so in eigener Person die Nachfolge Christi anzutreten.

Auch wenn sich im Übergang von der ethischen in die religiöse Sphäre und dann in der Rückkehr von der religiösen in die ethische und in die ästhetische Sphäre wiederum alle drei Existenzfiguren emanzipatorischer Politik finden lassen, gilt doch auch hier, dass sie sich dort nicht in derselben Weise bewegen: weder glauben sie auf dieselbe Weise, noch treten sie auf dieselbe Weise die Nachfolge Christi an. Von den Sozialdemokrat*innen lässt sich umstandslos sagen, dass sie auch hier medioker bleiben werden, sich in ihrem Tun und Lassen mehr oder weniger nach dem richten, was die anderen neben ihnen auch tun und lassen. Sie tun das nicht aus Schwäche, sondern folgen darin der Wahrheit, dass viele, wenn nicht die meisten Dinge des Lebens wie der Geschichte nur gelingen, wenn sie von möglichst vielen gewollt und getan werden.

Um zu verstehen, wie sich Anarchist*innen und Kommunist*innen zur religiösen Sphäre der Existenz verhalten, muss ich mich jetzt – wie die Mehrzahl der Existenz-Dialektiker*innen – mit einem weiten Sprung von Kierkegaard entfernen. Wie sie muss also auch ich angeben, was ich unter der religiösen Sphäre des Existierens verstehe, wenn ich sie nicht mehr christlich und eigentlich gar nicht mehr religiös verstehe. Ich führe deshalb zunächst die Stelle an, in der Kierkegaard die religiöse Existenz selbst nicht inhaltlich-christlich, sondern formal-existenzdialektisch bestimmt. Er geht dabei auf die Grundbestimmung der Existenz als eines Verhältnisses zurück, das sich zu sich selbst verhält, und sagt dann: „Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein. (…) Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist des Menschen Selbst, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem Andern verhält. (…) Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbsts beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“[18]

XI.

Kierkegaard bestimmt diese Macht, im Verhältnis zu der es uns gelingen kann, der Verzweiflung zu entkommen, mit dem Gott des Christentums und der Existenz Christi, und er bestimmt dieses Verhältnis als ein Glaubensverhältnis. Er glaubt dabei nicht nur, dass die Macht Gottes uns in die Freiheit der Existenz gesetzt hat, sondern dass sie auch die Macht zur Vergebung von Schuld und Sünde ist. Von diesen Bestimmungen wird man nicht loskommen können, ohne das Festhalten an einer religiösen Sphäre sinnlos werden zu lassen. Man muss diese Macht also auch postreligiös als eine Macht verstehen, die uns in Freiheit gesetzt hat und darf unsere Freiheit deshalb nicht bloß als eine subjektive Freiheit verstehen. Allerdings muss man diese Macht nicht notwendig auch als Macht einer letzten Versöhnung verstehen: es reicht, sie als die Macht denken zu können, die uns dazu befähigt, mit der Verzweiflung, also mit Schuld und Sünde leben zu können, im eminenten Sinn des Wortes sogar: gut mit Verzweiflung, Schuld und Sünde leben zu können. Man wird die Sünde dann formal als die Tendenz der Freiheit verstehen, sich selbst in Freiheit abzuwählen und sich in freiwillige Knechtschaft zu begeben.

Die meisten, vor allem die linken Existenz-Dialektiker*innen haben diese Macht in einer hegelmarxistischen Wendung im Glauben an eine zu sich selbst befreite Gesellschaft finden wollen: viele von ihnen sind deshalb Kommunist*innen oder „nur“ Sozialist*innen geworden. Andere haben an dieser Stelle eine nietzscheanische oder auch spinozistische Wende vollzogen. Sie haben ihre religiöse Sphäre im Glauben an ein Leben oder eine Erde gefunden, die sie mit Spinozas Satz „deus sive natura“ (Gott und die Natur sind dasselbe) und mit Nietzsches Satz von der „Unschuld des Werdens“ zu denken versuchen. Viele von ihnen sind deshalb im radikalen Sinn des Worts Anarchist*innen geworden. Ich setze hier mit Dieter Leisegang, einem leider früh verstorbenen Dichter und Philosophen des Mai 68, auf eine kältere, formalere Bestimmung: auf eine Bestimmung, die sich kein Bild der Macht macht, die uns gesetzt hat. Deshalb bezeichne ich sie mit dem alten, in seiner Bedeutung hoffnungslos überbestimmten Begriff der Totalität, von dem ich weiß, dass er genau besehen kein Begriff ist, weil uns die Totalität – wie unsere Existenz auch – kein Objekt sein kann. Deshalb glaube ich mit Leisegang, dass die Totalität uns als Existenz in Freiheit aus sich herausstehen lässt, dass sie uns in unserer Existenz zu ihr hin bestimmt und dass sie dazu „eine dauernde Wendung in das eigene Innere vollzieht.“[19] In der strengen Sprache Leisegangs: „Das Wirken der Totalität, die Selbstreflexion des Wirkens par excellence, erwirkt sich dauernd selbst. Totalität will aus Letztelementen Totalitäten erwirken. Letztelemente wollen aus sich, entlang der eröffneten dimensionalen Möglichkeiten, ihre Totalität bewirken, ihre Bestimmtheiten als ihrer Bestimmungen inne werden, ihre Verhältnisse als Verhältnisse haben und nicht nur sein bzw. in ihnen sein.“[20]

Mit dieser postreligiösen Bestimmung der religiösen Sphäre und, ihr noch voraus, mit dieser Sphäre selbst ist für eine Theorie der kommenden Revolution als einer Reformation ein doppelter Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit gewonnen. Den ersten Fortschritt habe ich schon erwähnt, als ich den Kommunist*innen die genau besehen paradoxe Bestimmung eines „Gesichtspunkts der Totalität“ zuschrieb, der es ihnen erlauben soll, die anarchistischen und sozialistischen Tendenzen der sozialen Kämpfe auf ihr Gemeinsames und auf ihre Zukunft, d.h. auf die kommende Revolution zu vermitteln. Den zweiten Fortschritt hat Kierkegaard in seiner Diagnose des „Zeitalters der Nivellierung“ genannt, in der er die freiwillige Knechtschaft in der Nivellierung aus einem Verlust des Religiösen begründet und deshalb festhalten kann: „Einhalt kann ihr (der Nivellierung) nur dadurch getan werden, dass das Individuum in individueller Besonderung die Unerschrockenheit des Religiösen erreicht.“[21] Von dieser Unerschrockenheit als der Bedingung überhaupt aller Emanzipation haben wir schon einiges, aber längst noch nicht genug erfahren. In ihr muss jede und jeder mit sich den Anfang machen.

[1]Lefebvre, Henri, Die Revolution der Städte. La Révolution urbaine, Hamburg 2014.

[2] Fukuyama, Francis, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

[3] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt 1970: 145–144.

[4] Boltanski, Luc/Chiapello, Éve, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003: 79ff. und passim.

[5] Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe Bd. 5, München 1999. Sören Kierkegaard, Eine literarische Anzeige, Düsseldorf 1954.

[6] Lessenich, Stephan, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016. Brand, Ulrich/Wissen, Markus, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017.

[7] Vaneigem, Raoul, Die autonome Emanzipation der Individuen ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft, o. O. 1979. Zur Geschichte der S.I. vgl. Ohrt, Roberto Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995.

[8] In meinem Buch Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt fasse ich den Geist des Mai 68 in fünf in sich stets vielstimmigen Konstellationen (Hamburg 2017: 145–316). Den Anfang bildet die situationistische Konstellation, die ich in dem Dreiecksverhältnis von Marxismus, Existenzialismus und Surrealismus ausmache, zu dem neben den Situationist*innen auch Autoren wie Marcuse, Sartre, Bataille und Fanon zählen. Die zweite Konstellation wird durch die Philosoph*innen bestimmt, die man gegen ihren Willen als „Poststrukturalist*innen“ bezeichnet hat. Mit ihnen hört der Marxismus der Arbeiter*innenbewegung auf, den Horizont der Verbindung von Sozial- und Künstler*innenkritik zu bilden – auch wenn das Denken von Marx ein unverzichtbares Moment aller Kritik bleibt. Die drei anderen Konstellationen treten in gewisser Weise zu den beiden ersten hinzu und verleihen ihnen jeweils einen eigenen Akzent. Es handelt sich um den Feminismus oder vielmehr die Feminismen, um die Kritische Theorie und um das, was ich die „Kommunismus“-Debatte nenne. Sie beginnt zwar erst im 21. Jahrhundert, wird jedoch maßgeblich von Protagonist*innen des Mai 68 geführt: von Badiou, Negri, Zizek – und von Gramsci, der zwar sehr viel älter ist, doch in gewisser Weise auch als Denker des Mai 68 bezeichnet werden kann. Wenn ich die Theorie der kommenden Revolution als eine Phänomenologie des Geistes dieser Konstellationen bezeichne, dann deshalb, weil ich sie dort in eine Dialektik verwickle, der es um die Bergung ihres Überschusses und Unabgegoltenen geht.

[9] Foucault, Michel, Das Subjekt und die Macht. In: Schriften 4, Frankfurt 2005: 276. Vgl. auch Die Rückkehr der Moral. Gespräch mit Gilles Barbedette und André Scala, ebd.: 867f.

[10] Foucault, Michel, Was ist Kritik, Berlin 1995: 15.

[11] Vgl. Ökologie der Existenz: 353-391. Eine wesentliche Anregung dafür verdanke ich Emile Zolas Roman Germinal, der die Geschichte eines Bergarbeiter*innstreiks des 19. Jahrhunderts schreibt und in den Gestalten des Kommunisten Lantier, des Sozialdemokraten Rasseneur und des Anarchisten Souvarine verdichtet. Vgl. Zola, Emile, Germinal, Stuttgart 1974.

[12] Marx, Karl/Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, Werke Bd. 4, Berlin 1977: 459–493).

[13] Lukács, Georg, Geschichte und Klassenbewusstsein. Darmstadt/Neuwied 1983: : 95 bzw. 112.

[14] Foucault, Subjekt und Macht, a.a.O.: 273ff.

[15] Sören Kierkegaard, Eine literarische Anzeige, Düsseldorf 1954: VIII bzw. 93.

[16] Sören Kierkegaard, Entweder-Oder 2, Köln 1957: 273.

[17] Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken 2, Gütersloh 1982: 28f.

[18] Sören Kierkegaard, Krankheit zum Tode, xxxxxx: 9f

[19] Dieter Leisegang, Dimension und Totalität, Frankfurt 1973: 62. Vgl. auch ebd. 51, 59, 62ff, 68, 73, 78, 82, 84f, 85ff.

[20] Ebd.: 62.

[21] Kierkegaard, Literarische Anzeige: 91.