Der ‚Fall Marx‘

Historisierung der Dialektik

Karl Marx‘ Verbindlichkeit beruht auf dem, was man  – analog zum Umgang mit Friedrich Nietzsche und Friedrich Hölderlin – seinen „Fall“ nennen könnte. Der „Fall Marx“ liegt in der Radikalität, mit der er Theorie und Praxis in einem politischen Philosophieren zusammengeführt hat, das er „kommunistisch“ genannt und an die „wirkliche Bewegung“ verwiesen hat, „welche den jetzigen Zustand aufhebt“. Ich frage nach der Bewegung, in der wir den „Fall Marx“ heute zu unserem eigenen machen können. Erschienen in der vierten Ausgabe der politisch-philosophischen Zeitschrift Narthex, Frühjahr 2018. (Länger)

Zur Historisierung der Dialektik

Das Kreuz der Gegenwart

In der Bestimmung der Philosophie zum Begriff der Gegenwart greifen Hegel wie Marx auf den Satz „Hic Rhodus, hic salta“ zurück: „Hier ist Rhodos, hier springe!“ Der griechische Dichter Äsop verband mit ihm die Aufforderung, die eigenen Worte und Taten miteinander in Einklang zu bringen, um zu zeigen, dass man tatsächlich tun kann, was man zu können behauptet. Hegel übersetzt diesen Satz allerdings sehr frei mit der Wendung „Hier ist die Rose, hier tanze“. Die Rose ist für ihn das Symbol einer Vernunft, die die Philosophie im „Kreuze der Gegenwart“ zu erkennen habe, also in ihrer stets auch leidvollen und leidenschaftlichen Entzweiung mit sich. Er schreibt: „Die Vernunft im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Aufforderung ergangen ist, zu begreifen.“ Versöhnend wirkt der Begriff, wenn er theoretisch wie praktisch realisiert, dass sich die „subjektive Freiheit“ des Begreifenden im „Kreuze der Gegenwart“ nicht in „einem Besonderen und Zufälligen“, sondern in dem findet, „was an und für sich ist“: an der vordersten Front der Geschichte als einer Geschichte zugleich der Freiheit und der Wahrheit. Die vorderste Front der Geschichte gibt sich allerdings weder in der Perspektive des bloß faktisch Gegebenen noch in der des moralischen Sollens, sondern erst in der Perspektive des historisch Möglichen zu erkennen. Sie allein ist die Perspektive des Begriffs.[1]

Marx schließt direkt an Hegel an und greift das „Hic Rhodus, hic salta“ deshalb in dessen freier Übersetzung auf. Dabei bezieht auch er sich auf die vorderste Front der Geschichte – und auf die „innere Aufforderung“ zum Begreifen der dort aufbrechenden Möglichkeiten der Freiheit. Fasst auch Marx diese „innere Aufforderung“ als den „Ruf“ der Verhältnisse selbst, vernimmt er ihn aber nicht mehr im Prozess der bürgerlichen Revolution, sondern im Unterschied der gerade erst heraufziehenden proletarischen Revolution. Deshalb trennt er sich an dieser Stelle von Hegel und historisiert dessen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in der Dialektik von Kapital und Arbeit – alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen: „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft […]. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, […] bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“[2]

Im Tanz um die Rose im Kreuz seiner Gegenwart bringt Marx eine neue Figur der politischen wie der philosophischen Existenz hervor: eben die der Kommunist*innen. In Theorie und Praxis sollen sie der entschiedenste, stets vorantreibende Teil der Bewegung sein, die die Geschichte vorantreiben und für sich entscheiden wird: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. Übrigens setzt die Masse von bloßen Arbeitern […] den Weltmarkt voraus. Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als ‚weltgeschichtliche‘ Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d. h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist.“[3]

Im letzten Satz dieser (gemeinsam mit Engels verfassten) Selbstverständigung bezieht sich Marx ein weiteres Mal direkt auf Hegel: dieses Mal auf dessen Begriff der „welthistorischen Individuen“. Hegel zufolge verkörpern sich in solchen Individuen „die großen Kollisionen zwischen den bestehenden, anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten und den Möglichkeiten […], welche diesem System entgegengesetzt sind.“ Wenn diese Möglichkeiten tatsächlich „geschichtlich“, d. h. praktisch werden, dann weil sie „ein Allgemeines anderer Art in sich“ tragen „als das Allgemeine, das in dem Bestehen eines Volkes oder Staates die Basis ausmacht.“ Die „welthistorischen Individuen“, so schließt Hegel, sind dabei die besonderen Einzelnen, „in deren Zwecken ein solches Allgemeines liegt.“ Sie sind einerseits „praktische und politische Menschen“, andererseits aber und zugleich „denkende“ Einzelne, „die die Einsicht hatten von dem, was not und was an der Zeit ist. Das ist eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, sozusagen die nächste Gattung, die im Inneren bereits vorhanden war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen.“[4] Bei Marx fällt diese Rolle den Kommunist*innen und ihrer deshalb auch „weltgeschichtlichen Existenz“ zu, als einer Existenz, die „unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist“.

Proletarier und Kommunisten

Die paradigmatische Beschreibung der Existenzfigur der Kommunist*innen findet sich passenderweise im Manifest der Kommunistischen Partei. Dort heißt es: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei neben den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.“ Die nächsten Sätze vertiefen diese Bestimmung. Danach zeichnen sich die Kommunist*innen dadurch aus, in den verschiedenen, zunächst vor allem national getrennten proletarischen Kämpfen und zwischen ihren verschiedenen Parteien jeweils deren Verbindendes und Gemeinsames hervorzuheben. Wenn und weil sie diese – essenziell philosophische! – Aufgabe im Blick allein auf „die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ lösen, werden die „theoretischen Sätze“, mit denen sie in die Kämpfe und ihre Parteien eingreifen, zu den „allgemeinen Ausdrücken tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes“, seiner „unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“.[5] Damit aber verkörpern die Kommunist*innen „in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ und eröffnen als „welthistorische Individuen“ die tatsächlich vorderste Front der Geschichte selbst: den Ort, an dem das historisch Mögliche das historisch Wirkliche praktisch aufhebt.[6] In den Worten Georg Lukács’ als des in dieser Hinsicht fraglos treuesten Schülers von Marx bringen die Kommunist*innen so den „Gesichtspunkt der Totalität“ zur Geltung: „die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente des Ganzen, des dialektischen Prozesses, der als Einheit von Gedanken und Geschichte gefasst ist“ [7] – hier ist die Rose, hier tanze.

Der Erfolg von Marx’ eigenen „theoretischen Sätzen“ und die Verbindlichkeit seines ‚Falles‘ liegen dann aber darin, selbst zu den „allgemeinen Ausdrücken“ der „wirklichen Bewegung“ des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts geworden zu sein. Dem so verstandenen ‚Marxismus‘ kann Wladimir Iljitsch Lenin 1913 „drei Quellen und Bestandteile“ zuschreiben und in der von Marx exemplarisch vorweggenommenen Zusammenführung von deutscher Philosophie, englischer Ökonomie und französischem Sozialismus ausweisen.[8] Nur fünf Jahre später bestätigt die Oktoberrevolution, dass es den Kommunist*innen tatsächlich gelungen war, die Rose im Kreuz der Gegenwart zu brechen. Allerdings birgt, wie bei allen eminent historischen Schöpfungen, der Erfolg der kommunistischen Tätigkeit in sich den Kern des eigenen Zugrundegehens – das Wort im Sinne Hegels verstanden, als Gang zugleich in den eigenen Grund und Abgrund. Wir heute können dieses Scheitern bereits datieren. Versteht man unter Marxismus im strengen Sinn des Namens die „Triade“ oder „Triangulation“ von Philosophie, Gesellschaftskritik und organisierter Arbeiter*innenbewegung, dann stehen die Jahre 1968 und 1989 für deren historisch definitives Ende.[9] Dabei kommt dem späteren Datum die größere Evidenz zu, weil die Triade damals gleichsam vor aller Augen auseinanderbrach und seither auch nicht wieder zusammengefügt werden kann. Für all diejenigen aber, die wirklich an Marx interessiert sind, ist das frühere Datum das wichtigere. Denn 1968 wird die Triade von innen aufgelöst, und das nicht nur in ihrem Ganzen, sondern in jedem ihrer drei Glieder.

Politik in der ersten Person

In der Philosophie meldet sich diese neuerliche Historisierung der Dialektik in der Rolle, die spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg Friedrich Nietzsche und einigen seiner Schüler – Sigmund Freud, Max Weber, Martin Heidegger, Georges Batailles – zufällt. Sie und einige andere werden jetzt als die Denker*innen gelesen, die Marx die Beantwortung der Doppelfrage ‚Wie weiter nach Hegel?‘ und ‚Wie weiter nach der bürgerlichen Revolution?‘ streitig machen. Dabei knüpft auch Nietzsche an der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik an: an der geschichtskonstitutiven Freiheitsbegierde, am Kampf auf Leben und Tod, an der Entscheidung von Herrschaft und Knechtschaft im Verzicht einer der beiden Parteien, wirklich aufs Ganze zu gehen, an der daraus entspringenden freiwilligen Knechtschaft, an der Verkehrung des Kräfteverhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft im Bildungsprozess der Arbeit. Doch während Marx das von Hegel vorzeitig in der bürgerlichen Revolution erkannte Ende der Geschichte in der proletarischen Revolution einlösen wollte, sind für Nietzsche beide Revolutionen nur zwei Züge ein- und desselben proletaro-bourgeoisen ‚Sklavenaufstands‘, dem deshalb auch nur zwei (oder mehr) Varianten ein- und derselben proletaro-bourgeoisen Gesellschaft-der-Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen entspringen. Unbeschadet ihrer inneren Differenzen folgen ihm die philosophischen Artikulationen des Mai 1968 (die kritische wie die situationistische Theorie, der Poststrukturalismus, der Operaismus und die ihnen entsprechenden Strömungen des Feminismus und Postkolonialismus) zumindest im Prinzip und erkennen im klassenübergreifenden Problem der freiwilligen Knechtschaft „die grundlegende Frage der politischen Philosophie.“ Deshalb heißt es bei Gilles Deleuze und Félix Guattari: „Der bürgerliche Immanenzzusammenhang […] errichtet eine Sklaverei, die unvergleichbar, und führt eine Unterjochung ein, die ohne Beispiel ist: nicht einmal Herren gibt es mehr, sondern nur noch Sklaven, die anderen Sklaven Befehle erteilen. […] Man wird einwenden, dass nichtsdestoweniger eine herrschende und eine beherrschende Klasse existieren, die durch den Mehrwert, die Trennung des Kapital- und des Arbeitsstroms, des Finanzierungs- und des Lohneinkommensstroms sich weiterhin bestimmen lassen. Dies ist nur in Teilen richtig, da der Kapitalismus aus der Konjunktion beider in differenziellen Verhältnissen hervorgeht und beide in der unaufhörlich erweiterten Reproduktion seiner Grenzen integriert. […] Kurz, der theoretische Gegensatz […] liegt zwischen der Klasse und jenen außerhalb der Klasse, den Klassenlosen. Zwischen den Dienern der Maschine und jenen, die sie oder das Getriebe in die Luft sprengen.“[10]

Ähnliche Verschiebungen lassen sich in der sozial- oder kulturwissenschaftlichen Gesellschaftskritik und in den verschiedenen sozialen Kämpfen aufzeigen. So wird die für Marx noch paradigmatische Rolle der politischen Ökonomie auf die Linguistik, die Ethnologie, die Psychoanalyse, natürlich auf die Kunst und im gleichen Zug bereits auf deren fortlaufend sich radikalisierenden Selbstkritiken relativiert. Dieselbe Relativierung erfährt die organisierte Arbeiter*innenbewegung, für Marx noch die maßgebliche Referenz der Verbindung von theoretischer und praktischer Gesellschaftskritik. Emanzipatorische soziale Bewegung gibt es seit dem Mai 1968 nur noch im Plural: in den anti- und postkolonialen Kämpfen, in den Kämpfen um das Verhältnis der Geschlechter und Generationen wie um das Verhältnis von Vergesellschaftung und Vereinzelung und gegen Norm, Disziplin und Kontrolle. In allen diesen Kämpfen wird zugleich um Gebrauch und Entwicklung des Wissens und der Technik, um das Verhältnis der menschlichen Lebensformen zu anderen Formen des Lebens und um das Verhältnis zur Erde gerungen. In den Kämpfen um die Arbeit verstärkt sich mit dem Mai 1968 die vom Marxismus stets abgedrängte Tendenz, sich gegen die Arbeit selbst zu richten.

Mit der Ausfransung der ‚wirklichen Bewegung‘ in ihren unhintergehbaren Plural hat sich das kommunistische Problem eines Zusammenfließens der Kämpfe in ihr Gemeinsames radikal verschärft. Dem entspricht, dass mögliche Lösungen seither nicht mehr nur in der Intersektionalität verschiedener Herrschaftsverhältnisse und nicht mehr nur im Widerspruch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern buchstäblich und handgreiflich in jeder einzelnen Existenz zu suchen und zu finden sind: dies und nichts anderes ist der Sinn der im Mai 1968 proklamierten ‚Politik in erster Person‘. Michel Foucault, früher Weggefährte von Deleuze und Guattari, hat ihr später sein Projekt einer ‚Ästhetik der Existenz‘ unterlegt und in diesem Zusammenhang auch die ‚wirkliche Bewegung‘ bestimmt, in der sie zur Ästhetik einer im eminenten Sinn ‚weltgeschichtlichen Existenz‘ wird. Dazu hat er das Gemeinsame aller Kämpfe in der Intersektionalität der Kämpfe gegen Herrschaft, gegen Ausbeutung und um Subjektivierung ausgemacht. Ihr entspricht eine Dialektik, in der er den Feudalgesellschaften eine Hegemonie der Kämpfe gegen Herrschaft, der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft eine Hegemonie der Kämpfe gegen Ausbeutung und unserer Gegenwart eine Hegemonie der Kämpfe um Subjektivität zuschreibt. Obwohl er ausdrücklich festhält, dass „der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden ist, im Gegenteil“, fasst er die ‚wirkliche Bewegung‘ unserer Gegenwart in ihrer formalen Entsprechung zu der Bewegung der Reformation, die für die Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts bestimmend war: „Ich glaube, dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden.[11]

Und jetzt zurück zu Marx

Kann man gegen Marx das historische Fiasko aller politischen Formationen anführen, in denen der Marxismus Partei, Staat und ‚wissenschaftlicher Sozialismus‘ wurde, ließe sich 50 Jahre nach dem Mai 1968 gegen Deleuze, Guattari, Foucault u. a. ein ähnlicher Vorbehalt anführen. Tatsächlich scheint die proletaro-bourgeoise Gesellschaft-der-Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen die vielstimmigen Politiken in erster Person weitgehend absorbiert zu haben.[12] Allerdings wäre dieses Urteil ebenso grob, verkürzend und also undialektisch wie die Reduktion der Oktoberrevolution auf ihr 1989 besiegeltes Ende. Stattdessen geht es heute um eine weitere Historisierung der Dialektik, die wie alle früheren an das Unabgegoltene und den noch nicht eingelösten Überschuss ihrer bisherigen Wendungen anzuschließen hätte.

Mein Vorschlag ist, in der 1968 durchgebrochenen Reformation aller Existenzweisen die philosophisch-wissenschaftlich-politische Geste zu wiederholen, die Marx in den 1840er Jahren vollzog. Stellte er der Vielheit der „Arbeiterparteien“ die Existenzfigur der Kommunist*innen an die Seite, damit deren Gemeinsames und, wichtiger noch, deren offene Zukunft ihre „theoretischen Sätze“, die ihnen entsprechende Praxis und in beiden ihren „Gesichtspunkt der Totalität“ fände, wäre dasselbe heute in Bezug auf die reformatorischen Bewegungen zu riskieren. Wir können uns dabei auf Foucault berufen, der im gerade zitierten Gespräch mit Ducio Trombadori ausdrücklich festhielt, dass das Interesse seiner Generation an Nietzsche „keine Distanzierung vom Marxismus oder Kommunismus“ bedeutete: „Es war vielmehr der einzige Zugang zu dem, was wir vom Kommunismus erwarteten. […] Wir waren vielmehr auf der Suche nach anderen Möglichkeiten, uns zu jenem ganz Anderen zu verhalten, das wir im Kommunismus verkörpert sahen.“ Foucault räumt ein, sich als Nietzscheaner deshalb sogar der französischen kommunistischen Partei angeschlossen zu haben. Wenn er dann fortfährt: „Ein ‚nietzscheanischer Kommunist‘ sein, das war natürlich nicht praktikabel und, wenn Sie so wollen, lächerlich“, dann sind wir heute, fast dreißig Jahre nach 1989, in einer besseren, weil vom eisernen Gehäuse der marxistischen Parteien und Staaten befreiten Position.[13] Wir können den damals nicht praktikablen und sogar lächerlichen Versuch jetzt noch einmal beginnen. Der Möglichkeitshorizont einer solchen Wiederholung läge zunächst in dem Umstand, dass die Gesellschaft-der-Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen heute wirklich zur Weltgesellschaft geworden ist – schon Marx hat ja die erste Bedingung kommunistischer Bewegung an die Herausbildung eines Weltmarkts geknüpft. Weil die Bewährungsprobe eines solchen Versuchs fraglos in der ökologischen Krise zu bestehen ist, wäre die Ästhetik der Existenz heute als eine Ökologie der Existenz zu entwerfen, die ihren „Chaosmos“ (Guattari) im globalen Städtischen und den Netzwerken der Kybernetik zu suchen hat, jenseits der alten Scheidungen von Natur und Kultur, Natur und Technik, Natur und Kunst. Eingespannt zugleich in den barbarischen Pseudoantagonismus von fundamentalistischem Terror und säkularem Anti-Terror wäre die neu in Gang zu bringende Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft allerdings nach wie vor als Kampf auf Leben und Tod und als Kampf um Leben und Tod auszutragen: als im jeweils eigenen wie im gemeinsamen Existieren zu denkender und zu lebender Bruch mit der freiwilligen Knechtschaft.[14]

[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt 1970, S. 26.

[2] Marx, Der achtzehnte Brumaire. MEW 8, 118.

[3] Deutsche Ideologie. MEW 3, 35 f.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1970, S. 44 ff.

[5] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. MEW 4, 474 f.

[6] Ebd., S.492

[7] Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Darmstadt/Neuwied 1983, S. 95.

[8] Wladimir Iljitsch Lenin, Drei Quellen und Bestandteile des Marxismus. In: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Berlin 1955, S. 63 ff.

[9] Vgl. Göran Therborn, From Marxism to postmarxism? London / New York 2008, S. 66 f., 116 f., 122, 129, 178 f.

[10] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt 1974, S. 39 bzw. 327 f..

[11] Michel Foucault, „Gespräch mit Ducio Trombadori“. In: Schriften. Bd. 4. Frankfurt 2005, S. 117. Die Gliederung der sozialen Kämpfe in Kämpfe gegen Herrschaft, gegen Ausbeutung und um Subjektivierung findet sich in Das Subjekt und die Macht. In: Schriften. Bd. 4. Frankfurt 2005, S. 275 f.; auch dort erläutert Foucault die Intersektionalität dieser Kämpfe in einem Vergleich zur Bewegung der Reformation. Zu seinem Entwurf einer Politik in erster Person vgl. Michel Foucault, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt 2007.

[12] Eine einschlägige Untersuchung dazu liefern Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer den französischen Verhältnissen gewidmeten Untersuchung Der neue Geist des Kapitalismus (Konstanz 2003). Ich führe diese Arbeit an, weil sie die marxistische Historisierung der Dialektik im Begriff der Sozialkritik, die nietzscheanische Historisierung der Dialektik im Begriff der Künstlerkritik und die Wahrheit des Mai 1968 in der Intersektionalität von Sozial- und Künstlerkritik fassen. Diese Begrifflichkeit ist theoretisch zu vertiefen und praktisch nach ihren künftigen Möglichkeiten zu erproben.

[13] Foucault, „Gespräch mit Ducio Trombadori“, S. 62 f.

[14] Vgl. Thomas Seibert, Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt. Hamburg 2017.