Drei Thesen zur Existenzökologie der Revolution

Hundert Jahre Roter Oktober

Zusammen mit Martin Birkner habe ich im Herbst 2017 den Sammelband Zur Kritik und Aktualität der Revolution herausgegeben (Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der hier verlinkten Verlagsseite). Das Buch bezieht sich auf den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution und fragt nach den Möglichkeiten, ihrem Unabgegoltenen treu zu bleiben. Mein Vorschlag, auf den Punkt gebracht: Die Wahrheiten neu zu politisieren, die sich in den Differenzen von Anarchismus, Sozialismus und Kommunismus artikulieren. Vgl. Zur Ökologie der Existenz, S. 351-393. (Lang)

In erster Person, um Leben und Tod

Anders als im Titel dieses Buchs unterstellt, ist die Revolution heute nicht aktuell, im Gegenteil. Aktuell ist die existenzielle Herausforderung der gegenwärtigen Welt durch den fundamentalistischen Terror. In ihm, nicht in der Revolution, verdichtet sich die Krisenhaftigkeit der bestehenden Weltordnung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr (mehr oder minder) beliebige Individuen ihr Begehren nach dem ganz Anderen so artikulieren, dass sie an (mehr oder minder) beliebigen Orten andere (mehr oder minder) beliebige Individuen mit dem Tod bedrohen. Selbstermächtigend spielen sie dabei (fast) nichts als ihre Bereitschaft aus, in den Tod zu gehen und möglichst viele andere mit sich zu reißen.

Die an das Selbstmordattentat gebundene Herausforderung verdichtet die Krisenhaftigkeit der Gegenwart allerdings erst in der Verwobenheit mit ihrem Widerpart, dem kybernetisch hochgerüsteten und tendenziell von allem Recht entbundenen Anti-Terror-Krieg. Er fungiert als letzter Konvergenzpunkt eines globalen Empires, das ansonsten an allen Fronten mit seinem Zerfall kämpft. Die Desintegration des Empires resultiert nicht bloß aus der fundamentalistischen Herausforderung, sondern aus dem Umstand, dass die Welt heute zugleich von mehreren Krisen heimgesucht wird.

Krise der Geschichte

So tritt zur Terrorkrise die Hungerkrise hinzu, die aktuell allein im Südsudan 5,5 Millionen Menschen mit dem Tod bedroht. Sie verweist mittelbar auf die Krise des globalen Kapitalismus: einer Ordnung der Welt, die ein Maß an Reichtum aufgehäuft hat, unter dem eigentlich kein Mensch mehr hungern müsste. Von der Krise des Kapitals zu sprechen heißt, von der ökologischen Krise und der Krise der Arbeit zu sprechen. Die ökologische Krise bildet den Horizont aller anderen Krisen, weil sie mit der Drohung beladen ist, die Erde unbewohnbar wie den Mond werden zu lassen. Aus ihr heraus können Fragen der Gerechtigkeit nur noch als Fragen des Übergangs in eine Postwachstumsgesellschaft gestellt werden, die zuerst die Gesellschaften des globalen Nordens zu beantworten haben. Die Krise der Arbeit liegt darin, dass Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen einerseits den einzigen Zugang zu einem überlebenssichernden Einkommen verspricht, andererseits immer weniger Menschen gesichert zur Verfügung steht. Von der ökologischen Krise und der Krise der Arbeit führt ein direkter Weg zur Krise des Städtischen. Mit diesem Begriff soll der im Ausmaß noch gar nicht abzusehende Umbruch gefasst werden, nach dem erstmals seit Beginn der Geschichte mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben, ein Umbruch, mit dem zugleich der alle bisherige Geschichte bestimmende Unterschied von Stadt und Land in die Krise geraten ist. (Lefebvre 2014)

Zur Krise des Städtischen gehört die Krise der traditionellen sozialen Beziehungen, einschließlich der Elementarbeziehungen der Freundschaft und der Liebe: eine für uns alle existenzielle Krise. „Existenziell“ ist sie auch, weil sie zugleich die Krise unserer Vergeschlechtlichung und als solche die Krise des Selbstverhältnisses einer jeden von uns ist. Historisch ruft sie den Zusammenhang von Globalisierung und Individualisierung auf, den Zusammenhang des ausnahmslos alle betreffenden Weltweitwerdens der Welt mit ihrer rückhaltlosen Vereinzelung wiederum auf einen jeden und eine jede von uns. Dramatisch wird dies in der Krise der Migration, die gerade als größte soziale Bewegung aller Zeiten systematisch auf sich selbst zurückgeworfene Menschen hervorbringt, darin aber die Geburt eines neuen Kosmopolitismus einleitet.

Der Bogen, der sich von der Krise der Vergeschlechtlichung und der Selbstverhältnisse auf die der sozialen Beziehungen im paradoxen Zusammenhang von Globalisierung und Individualisierung spannt, umfasst auch die Krise des Ethischen und folglich des Politischen, die sich ihrerseits nicht zufällig in der Doppelkrise zugleich der Religion und der Säkularität artikuliert. Deren handgreiflicher Ausdruck ist die noch vor kurzem nahezu ausgeschlossene „Wiederkehr des Religiösen“, von der der Bogen zurück auf die Krise des Terrors wie des Anti-Terrors und derart auf das Auseinander-hervor-und-ineinander-über-Gehen aller Krisen führt.

Im Moment des Zusammenschlusses der Krisen zum Kreis wird dann aber doch die Revolution aktuell – als das, was dem In-sich-Kreisen der Krisen fehlt: uns, der Gegenwart und der ganzen Welt. Was aber fehlt im Fehlen der Revolution? Nichts anderes als das, was in den ersten beiden Jahrhunderten nach der Französischen Revolution „Weltgeschichte“ hieß und von Hegel als der revolutionäre Gang des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit bezeichnet wurde. Das Gefühl, die Idee und die Wette, die jeweils eigenen Lebensmöglichkeiten in dieser Revolutionsgeschichte zu finden und sie im eigenen Handeln und Denken auszutragen, beflügelten seit 1789 überall auf der Welt den ethischen und politischen Enthusiasmus von Millionen. Er gewährte dem, was morgen aus Freiheit möglich wäre, den Vorrang gegenüber allem, was sich jeweils gegenwärtig als Wirklichkeit behauptete: Im Grunde schien zumindest letzten Endes alles möglich zu sein. Den Rückzug der Revolution aus der Geschichte und damit der Geschichte selbst aus dem Horizont unserer Erwartungen artikuliert die imperiale Krisenverwaltung seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Losung „There is no alternative“; auf sie antworten die Fundamentalismen dieser Welt, und hier schließt sich der Kreis, je mit ihrem Terror. Damit ist meine erste These aufgestellt: Die im Widerspiel von Terror und Anti-Terror verdichtete Krisenhaftigkeit der Gegenwart findet ihren Begriff im noch ausstehenden Begriff der Krise der Geschichte, die alle anderen Krisen der Gegenwart durchherrscht und aufeinander bezieht.

Was heißt Existenzökologie?

Weil der über die Krise der Geschichte vermittelte Bezug der vielen Krisen aufeinander im Horizont der ökologischen Krise stattfindet, bezeichne ich den Versuch ihrer politisch-philosophischen Bestimmung als Existenzökologie. Dabei benennt die Kombination der Begriffe Ökologie und Existenz zunächst ein Paradox, weil sie in ihrem Eigensinn nicht zusammenpassen. Der Begriff der Ökologie (von altgr. oikos, οἶκος, Haus, Heim, Wohnort, Umwelt, Natur) fasst den Menschen primär als Lebewesen und verweist ihn in die Grenzen seines „Ökosystems“ oder seiner „ökologischen Nische“. Das Ökosystem der Natur wiederum gilt als der Ort, in den sich der als Lebewesen bestimmte Mensch einfügen müsse, um zu seiner eigenen und zur Erhaltung der Welt seinen Teil beizutragen. Deshalb sind die meisten ökologischen Lehren solche der Selbsterhaltung der Natur und der Lebewesen.

Demgegenüber fungiert der Begriff der Existenz in seinem spezifisch modernen Gebrauch als Synonym zugleich der Freiheit wie der Geschichte. Er entwirft die Existierenden – also uns – als freie und geschichtliche Wesen, die zwar offensichtlich Teil einer Umwelt und insofern auch Lebewesen sind, sich in ihrer Umwelt aber immer auch in der Fremde befinden. Die Existierenden sind in der Welt, aber nicht von der Welt, weil sie frei sind zur Überschreitung ihrer selbst und der Welt. Im zunächst paradoxen Zusammenschluss beider Begriffe ist eine Ökologie der Existenz deshalb gerade keine Lehre von der Selbsterhaltung der Lebewesen in ihrem Ökosystem, sondern eine Einführung in Möglichkeiten der Selbstüberschreitung der Existenz wie ihrer Umwelten.

So verstandener Existenzökologie ist dann aber ein bohrender Verdacht eingeschrieben: Kommt in der ökologischen Krise als dem Horizont aller Krisen zum Austrag, dass der oikos ein Wesen einschließt, dass sich in kein System fügt? Und: Konkretisiert sich die ethisch und politisch entscheidende Frage „Was tun?“ heute deshalb in der Frage, welchen Gebrauch der Freiheit wir erfinden müssen, um die ökologische Krise aus Freiheit zu überwinden – und eben nicht aus einer wie auch immer begründeten „Einsicht in die Notwendigkeit“? Verweist die ökologische Krise deshalb auf die Krise der Geschichte, in der alle anderen verhandelt werden? Und wäre eine Ökologie der Existenz darum nicht der angemessene Ort, einer Aktualität der Revolution nachzugehen, die für uns zunächst in der Aktualität ihres Fehlens liegt?

Der Begriff der Krise geht auf das griechische Wort krísis (κρίσις) zurück. In diesem Wort laufen zwei Bedeutungslinien ineinander. Auf der ersten Linie bedeutet krísis bedenkliche Lage, Unsicherheit, Not. Auf der zweiten bedeutet krísis Zuspitzung, Höhepunkt, Wendepunkt und Entscheidung. Die erste Linie gibt an, was uns spontan einfällt, wenn wir nach der Bedeutung von „Krise“ gefragt werden. Die zweite Linie verweist uns auf das, was vielen eben nicht spontan einfällt. Sie bestimmt die erste: Sich in einer bedenklichen Lage, einer Unsicherheit, einer Not zu befinden heißt zuletzt, vor die Entscheidung eines Wendepunkts gestellt zu sein. Dies aber, und daran hängt im Folgenden alles Weitere, kann nur einem Wesen widerfahren, das zum Akt der Entscheidung frei ist – oder sich zu einem solchen Akt befreien kann. Dies ist das positive Moment einer Krise: Bewährungsprobe der Freiheit und darin Entstehungsherd von Geschichte zu sein.

Kehren wir von hier zur Krise der Geschichte zurück, dann ist zunächst festzuhalten, dass sie im Jahr 1989 durchbricht, im Sieg des sogenannten freien Westens über den sogenannten sozialistischen Osten. Als Philosoph dieses Sieges verkündet Francis Fukuyama damals das „Ende der Geschichte“. (Fukuyama 1992) Daran hat auch das Jahr 2001 nichts geändert, seit dem die nachgeschichtliche Welt zugleich vom Terror wie vom Anti-Terror heimgesucht wird. Tatsächlich glauben beide Parteien, dass das Ende der Geschichte bereits erreicht sei. Deshalb geht es der Partei des Anti-Terrors lediglich um die Sicherung des Bestehenden – und der Partei des Terrors um seine Vernichtung zugunsten der finalen Erlösung aus Welt und Weltgeschichte überhaupt. Die Herausforderung der Krise der Geschichte wie der ökologischen Krise anzunehmen heißt deshalb, wortwörtlich einen Kampf auf Leben und Tod und einen Kampf um Leben und Tod zu kämpfen. Dabei ist der kleine Unterschied in der Präposition (auf Leben und Tod, um Leben und Tod) ein großer Unterschied in der Sache, weil er den Kampf gegen das „alternativlose“ Ende der Geschichte vom Kampf der Fundamentalismen und von dem des Empire scheidet.

Auf Leben und Tod

Die Existenzökologie kommt an dieser Stelle auf die zehn wichtigsten Seiten zurück, die je zur politischen Philosophie geschrieben wurden. Sie führt im selben Zug auf die beiden wichtigsten Antworten zurück, die diese zehn Seiten in der weiteren Geschichte politischen Philosophierens gefunden haben. Die Rede ist zum einen vom Herr-Knecht-Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes und zum anderen von den Antworten, die diese zehn Seiten bei Marx und Nietzsche gefunden haben. (Hegel 1970) Dabei geht es nicht um einen bloß philosophischen Streit, sondern um die mit ihren Namen aufgerufene Dialektik, in der sich das politische Philosophieren, die kritischen Wissenschaften und die revolutionären Kämpfe der Moderne in einzigartiger Weise verbunden haben. Sie hat aus den beiden auf die Französische Revolution folgenden Jahrhunderten die vielleicht wichtigste Sequenz aller Geschichte gemacht: die Sequenz, in der Geschichte als Revolutionsgeschichte gedacht und gelebt werden konnte. Mit einigem Recht wird zur Bezeichnung der auf Marx zurückgehenden Linie der Begriff der Sozialkritik und zur Bezeichnung der auf Nietzsche zurückgehenden Linie der Begriff der Künstler*innenkritik verwendet. Existenzökologie beansprucht, beide Linien methodisch, strategisch und programmatisch fortzuschreiben. (Vgl. Boltanski/ Chiapello 2003: 79ff. und passim)

Wovon also handelt das Herr-Knecht-Kapitel? Es stellt einen auf Leben und Tod geführten Kampf dar, in den sich zwei freie Wesen gerade im Vollzug ihrer Freiheit, oder genauer im Vollzug ihrer Freiheitsbegierde, verstricken. Hegel bezeichnet diesen Kampf als Kampf um Anerkennung, weil die beiden Kämpfenden versuchen, dem jeweils anderen die eigene Freiheit mitzuteilen und sich im Gegenzug von dieser oder diesem als freies Wesen anerkennen zu lassen. Die Probe der Freiheit liegt dabei in der einzigartigen Befähigung des freien Wesens, im Kampf tatsächlich das Wagnis des Todes einzugehen, sich so vom Naturzwang der Selbsterhaltung und damit vom bloßen Leben zu lösen, um sich als Existenz zu bewähren und zu bejahen.

Der turning point des Herr-Knecht-Kapitels liegt dann aber darin, dass eine*r der beiden Kämpfenden im letzten Augenblick dieser Probe ausweicht und sich zur Rettung des eigenen Überlebens zum Knecht beziehungsweise zur Magd des anderen macht. Aus dieser Konstellation entspringt, so Hegel weiter, die Weltgeschichte – natürlich nicht im Sinn einer kausalen Ursache, sondern im Sinn des logischen Ausgangspunkts für den Versuch, zu begreifen, worum es in ihrem blutigen Auf und Ab eigentlich geht. Zu begreifen ist dabei, dass die Freiheit immer auch die Möglichkeit zur Abwahl ihrer selbst bereitstellt – einer Abwahl, die als solche selbst ein Akt der Freiheit ist und bleibt. Von daher ist alle Geschichte immer auch Geschichte der freiwilligen Knechtschaft, der gegenüber jede mögliche ideologische Verblendung nur eine nachträgliche Ausrede, ein Symptom nachträglicher Selbsttäuschung ist. Das unauflösliche, aber nicht ausweglose Doppel von Freiheit und freiwilliger Knechtschaft ist so verstanden der Ursprung der Geschichte – und der Ursprung ihrer Krise.

Deren innere Dynamik liegt darin, dass das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft für alle Beteiligten unbefriedigend bleibt. Bei den Knechten-und-Mägden liegt das auf der Hand: Ihr Überleben hängt an nichts anderem als an der Willkür ihrer Herr*innen. Fällt ihnen trotzdem Anerkennung zu, handelt es sich meist um die Anerkennung in einer Position der Unterwerfung (ein guter Deutscher zu sein, eine sorgende Mutter, ein fleißiger Arbeiter, eine gut integrierte Migrantin, ein kirchlich-behördlich getrautes schwullesbisches Paar). Die Herr*innen wiederum haben sich mit ihrem Sieg im Kampf zwar die Anerkennung der Knechte-und-Mägde erzwungen. Sie werden darin aber eben nur von unfrei gebliebenen Lebewesen anerkannt, das heißt von Wesen, deren Anerkennung im Letzten wertlos ist. Das unausweichliche Unbefriedigtsein stachelt die Begierde immer neu an, führt zu immer neuen Kämpfen zwischen den Herr*innen und den Knechten-und-Mägden, aber auch zu den Kämpfen unter den Herr*innen und unter den Knechten-und-Mägden.

Dabei kommen die Knechte-und-Mägde Zug um Zug in die stärkere Position. Während die Herr*innen über nichts als ihre Todesbereitschaft verfügen, entwickeln die arbeitenden Knechte-und-Mägde immer neue Fähigkeiten und Kenntnisse. Sie werden sich im Maß der in der Arbeit erfahrenen Macht zur Selbst- und Weltbeherrschung des Unterschieds zwischen lebendigem und freiem Wesen bewusst, den sie als Knechte-und-Mägde nicht ausleben können. Je mehr sie ihre Fertigkeiten, ihre Kenntnisse und ihr Bewusstsein entfalten, das heißt, je mehr sie sich bilden, desto unerträglicher wird ihnen die Knechtschaft. Damit werden ihre Kämpfe, wie verworren auch immer, zu politischen Kämpfen im eminenten Sinn des Begriffs: zu Befreiungskämpfen, zu Geschichte.

Die erste Auflösung dieses Dramas markiert die Französische Revolution: Die Tötung des Königs ist die Abschaffung des Herrn – für Hegel deshalb das Ende der Geschichte. Hier setzen Marx und Nietzsche ein. Marx beziehungsweise die Sozialkritik bleibt im Prinzip in der Perspektive Hegels, bindet das Ende der Geschichte aber an die Überwindung noch der bürgerlich-kapitalistischen in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft als einer Gesellschaft der zu sich selbst befreiten Arbeit, die Marx „Praxis“ nennt. Ihre politische Bestimmung liegt in der revolutionären Aufhebung des Staates und des Rechts in die Selbstregierung dieser Gesellschaft: ein Unterschied zu Hegel, der herauszuarbeiten bleibt. Nietzsche und die Künstler*innenkritik wollen noch einen Schritt weitergehen. Für sie gehören die widersprüchlichen Positionen der Herr*innen wie der Knechte-und-Mägde beide in den „Sklavenaufstand in der Moral“. (Nietzsche 1999) Dem entspricht, dass ihnen die Gesellschaften Hegels und Marx’ gar keine freien Gesellschaften sind, sondern proletaro-bourgeoise Gesellschaften der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen, Gesellschaften also der allgemeinen Verknechtung in Kapital und Arbeit, Gesellschaften, ökologisch gesprochen, des unbegrenzten Wachstums zugleich des Kapitals wie der Arbeit. Als solche stehen sie auch Nietzsche zufolge für ein Ende der Geschichte: eines jedoch, in dem zuallererst zu erfahren ist, was er die „Unschuld des Werdens“ nennt. Damit ist ein für alle Ökologie zentraler Begriff ins Spiel gebracht: der des Werdens oder der Werden (im Plural). Die Werden sind älter als alle Geschichte, wirken in aller Geschichte und werden nach ihr noch immer sein. Untersteht alle Geschichte den Zielen und Zwecken der Arbeit, und damit Unterscheidungen des Guten und des Bösen, sind die Werden ziel- und zwecklos und damit jenseits von Gut und Böse: Das eben nennt Nietzsche ihre Unschuld. Entdeckt man in ihr den weitesten Sinn des Anderen nicht zur, sondern in der Geschichte, also den weitesten Sinn dessen, was man „Erde“, „Leben“ oder „Natur“ nennt, ergibt sich eine erste Ahnung des Zueinanderfindens von Ökologie und Existenz: Kann die Unschuld des Werdens bejaht werden, hätte eine zum Zweck an sich selbst befreite Existenz ihren oikos gefunden.

Globalisierung, Individualisierung, Mediokrisierung

Vertiefen wir im Folgenden die Beschreibung unserer Gegenwart durch eine Reihe von Begriffen, die schon formal auf deren Prozesscharakter verweisen – einige von ihnen wurden hier schon genannt, andere treten hinzu: Globalisierung, Proletarisierung, Kybernetisierung, Prekarisierung, Urbanisierung, Individualisierung und Mediokrisierung. Der Begriff der Globalisierung will den Prozess fassen, in dem das Verhältnis von Kapital und Arbeit zum weltweiten Verhältnis, die Gesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen zur Weltgesellschaft werden. Der Begriff der Proletarisierung gilt uns, den Bewohner*innen dieser Welt: Wir selbst sind oder werden zu Proletarier*innen, zu Leuten also, deren Freiheit auf Arbeit, auf Praxis reduziert wird, durch den Zwang der Verhältnisse und in freiwilliger Knechtschaft. (Vgl. Karl Reitter in diesem Buch) Im Begriff der Kybernetisierung wird angezeigt, dass die proletaro-bourgeoise Weltgesellschaft tatsächlich keine Herr*innen mehr kennt, weil Herrschaft zur anonymen Prozedur, zur Prozedur der primär kommunikationstechnologischen Steuerung und Sicherung der Arbeit wie einer Welt geworden ist, die nicht mehr nur Ware und Vorstellung, sondern auch Schaltkreis ist. Mit ihr geht, nur scheinbar paradox, die Prekarisierung allen Lebens einher. In ihr übersetzt sich die kybernetische Sicherung der Praxis in die fortlaufende Verunsicherung des Überlebens der Proletarisierten, in der jeder und jede gegen jeden und jede um sein oder ihr eigenes Überleben kämpft: auf eigene Kosten, auf Kosten der Nächsten und auf Kosten der Umwelt, zuletzt als Kampf auf Leben und Tod.

Der Begriff der Urbanisierung versucht zu fassen, dass und wie das permanente Wachstum von Kapital und Arbeit und die von ihren Krisen vorangetriebene weltweite Migration mittlerweile eine wahrhaft weltgeschichtliche Schwelle überschritten haben: Weil wir mit dem Umzug der Menschheit in die Städte überall auf der Welt im Städtischen leben, gleichgültig, ob wir schon in einer Stadt oder noch in einem Dorf wohnen. Diese Welt ist fast zur Gänze aus unserer Arbeit hervorgegangen, auch dort, wo sie uns noch als Lebenswelt oder Naturlandschaft erscheint.

Der Begriff der Individualisierung soll besagen, dass Globalisierung, Proletarisierung, Kybernetisierung, Prekarisierung und Urbanisierung ihren Konvergenzpunkt in der Vereinzelung der Welt auf jede und jeden haben. Politisch ist das von entscheidender Bedeutung, insofern wir zwar alle – jeder und jede für sich – proletarisiert worden sind, das universelle Proletariat aber nie auf Dauer zum „klassenbewussten“ und deshalb handlungsfähigen Kollektiv geworden ist. Stattdessen sind wir überall auf der Welt zu einer lonely crowd geworden, zur Masse der überall auf der Welt mit- und gegeneinander Vereinzelten. (Riesman 1986) Der daran anschließende, die ganze Reihe abschließende Begriff der Mediokrisierung soll verständlich werden lassen, dass wir im Zusammenspiel von Globalisierung und Individualisierung gerade nicht zum freien Selbst geworden sind. Im Gegenteil: Vereinzelt zu sein heißt zunächst, dass jede und jeder Einzelne am jeweils anderen, besser: am Durchschnitt aller anderen, Maß nimmt und Maß nehmen muss, um in der Überlebenskonkurrenz aller gegen alle überhaupt bestehen zu können (von lat. mediocris, mittelmäßig). In der Mediokrisierung aller Praxis und Existenz liegt deshalb die aktuelle Form der freiwilligen Knechtschaft, die nicht mehr Unterwerfung unter eine äußerliche, sondern unter eine verinnerlichte Herrschaft ist: Hegel und Honneth haben diese Herrschaft als Sittlichkeit, Heidegger hat sie als Herrschaft des Man, Gramsci als Herrschaft durch Hegemonie und Foucault als Herrschaft der Gouvernementalität bezeichnet. Den real existierenden Begriff des verallgemeinerten Mittelmaßes in der Sittlichkeit, im Man, in Hegemonie und Gouvernementalität stellt die Mittelklasse dar, die im Zug der Globalisierung zur globalen Mittelklasse wird. Sie ist dies nicht, weil wir alle zur Mittelklasse gehören, sondern weil von ihrer Existenzweise eine Sogwirkung ausgeht, der weltweit die Begierden, Bedürfnisse und Lüste der allermeisten folgen. Das gilt auch und gerade für die Menschen, die gar keine Chance auf Zugehörigkeit haben. Insofern fasst der Begriff der Mediokrität in seinem Zusammenhang mit den voranstehend genannten Begriffen die innere Dynamik dessen, was anderswo als globale „Externalisierungsgesellschaft“ oder als „imperiale Lebensweise“ bezeichnet wird. (Lessenich 2016, Brand/Wissen 2017)

Mai 68 und die Folgen

Die zweite These der Existenzökologie liegt in der strategischen Einsicht, dass wir, wenn wir uns aus der Mediokrität, also aus der imperialen Lebensweise und der globalen Externalisierungsgesellschaft, befreien wollen, dorthin zurück müssen, wo sie ihren jüngsten Anfang gefunden hat: zum Mai 68. Tatsächlich verdankt sich der Globalisierungs- und Individualisierungsschub der letzten 50 Jahre maßgeblich dem Ereignis des Mai, das seinen eigenen Anfang irgendwann in den 1950er Jahren genommen hat und in den frühen 1980er Jahren zum Abbruch kam. Das soll natürlich nicht heißen, dass die Aufständischen von damals für den Prozess der kapitalistischen Globalisierung verantwortlich wären – im Gegenteil! Was den Mai zum für uns verbindlichen Geschichtsereignis macht, ist vielmehr seine noch heute unübertroffene Radikalität. Die wiederum lag und liegt noch immer darin, allen uns heute benennbaren Herrschafts-, Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnissen die Zustimmung aufgekündigt zu haben – einschließlich der Regime von Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung, die in der vorangegangenen Revolutionsgeschichte ihren Ursprung haben. Deshalb ist der Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts nicht erst 1989 zugrunde gegangen, sondern schon 1968: damals aber nicht im Namen eines Empires des Weltmarkts, sondern im Vorgriff auf einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts – ein Ausdruck, der sich den Militanten des ersten Aufbruchs des Mai, den Situationist*innen, verdankt. (Ohrt 1995: 167–171)

Dabei gründete die Radikalität des Mai – auch dies haben die Situationist*innen am klarsten ausgesprochen – in der bewussten Zusammenführung der beiden Linien der Kritik, die ich hier mit den Eigennamen „Marx“ und „Nietzsche“ belegt habe. Nicht zufällig stammt deshalb auch die Losung für die Zusammenführung von Sozial- und Künstler*innenkritik von einem Situationisten: „Die autonome Emanzipation der Individuen ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft.“ (Vaneigem 1979) Mit ihr wird der welt- und revolutionsgeschichtliche Antagonismus vom Widerspruch der Klassen auf den zwischen jeder und jedem Einzelnen und dem Ganzen der Gesellschaft übertragen: eine noch heute nicht wirklich verstandene Verschiebung, die die Neue Linke in der Formel von der „Politik in erster Person“ fasst. Zu ihr gehört, dass mit der eingeforderten Klassenlosigkeit die Bestreitung jeder Klassifikation, auch der des Geschlechts, der Herkunft, letztlich jeder Normalisierung, gemeint ist.

Und doch – und doch ist auch dem Mai widerfahren, was allen früheren Geschichtsereignissen widerfuhr: Er wurde vom Kapitalismus absorbiert, von seiner Fähigkeit, alle Einsprüche gegen seine Herrschaft zu ebenso vielen Anlässen seiner Modernisierung zu machen. Und in diesem Sinn beginnen die kapitalistische Globalisierung und Individualisierung tatsächlich mit dem Mai 68: mit der Absorption seiner globalen Dimension, mit der Absorption zugleich seiner Politik der autonomen Emanzipation der Individuen als der einzigen Grundlage einer endlich klassenlosen Gesellschaft.

Auf den Mai zurückzukehren, um sich aus der globalen Krise der Geschichte zu befreien, muss dann natürlich heißen, auf seinen Überschuss und auf sein Unabgegoltenes zurückzukehren: also auf das, was von ihm gerade nicht absorbiert werden konnte. Dessen Bergung ins Denken wie ins Leben bildet einen wesentlichen Zug der Existenzökologie und macht sie – mit der gebotenen Ironie! – zu einer Phänomenologie des Geistes des Mai 68.[1]

Anarchismus, Sozialismus, Kommunismus

Meine dritte These lautet, dass eine im Unabgegoltenen des Mai 68 freizusetzende Aktualisierung der Revolution zugleich den Widerstreit aktualisieren muss, in dem sich die Revolutionsgeschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts in die Strömungen des Anarchismus, des Sozialismus beziehungsweise der Sozialdemokratie und des Kommunismus gespalten hat. War diese Spaltung im 19. und 20. Jahrhundert tragisches Missgeschick und maßgeblicher innerer Grund für das Scheitern noch des Aufbruchs des Mai 68, kann sie gerade deshalb zur wichtigsten Ressource seiner Aktualisierung werden: zu der Dialektik, mit der es der Revolution gelingt, das im Prinzip unauflösliche Problem der Freiheit und der freiwilligen Knechtschaft produktiv durchzuarbeiten. Dabei verstehe ich den Anarchismus als die Form der Politik, in der die Freiheit radikal auf sich selbst besteht: was sie nur kann, wenn sie ihren Befreiungskampf als unversöhnliche Revolte, das heißt als einen Kampf um Leben und Tod – und zur Not auch auf Leben und Tod führt. Den Sozialismus verstehe ich als den Gegenspieler des Anarchismus. Zwar geht es auch ihm um die Freiheit, doch in dem Bewusstsein, dass die meisten Existierenden in der längsten Zeit ihres Lebens dazu neigen, sich in freiwilliger Knechtschaft in das Man, die Hegemonie, die Gouvernementalität oder die Sittlichkeit des laufenden Lebens einzufügen. Deshalb weicht der Sozialismus der Zuspitzung des politischen Kampfs zum Kampf um und auf Leben und Tod aus und setzt stattdessen auf eine Politik der Reform, deren Maßgabe der pragmatische Konsens der Mediokrität ist.

Getreu dem Manifest der Kommunistischen Partei verstehe ich den Kommunismus nicht als eine eigenständige dritte Kraft neben Anarchismus und Sozialismus: Die Kommunist*innen sind ja gerade, so heißt es dort ausdrücklich, „keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien“. (Marx/Engels 1977: 472) Vielmehr sind sie im unauflöslichen Zwist dieser Parteien die Agent*innen des Gemeinsamen, der Geschichte und deshalb der Zukunft – genauer noch: der Vorwegnahme der Zukunft schon in der Gegenwart. Eben deshalb müssen sie in der Lage sein, zwischen der anarchistischen Freiheitsbegierde und dem sozialdemokratischen Verständnis der freiwilligen Knechtschaft zu vermitteln: eine undankbare, doch zugleich unverzichtbare Aufgabe. Lösen können die Kommunist*innen sie nur, wenn es ihnen gelingt, mit der Spontaneität der Anarchist*innen und mit der Mediokrität der Sozialist*innen zugleich den „Gesichtspunkt der Totalität“ zur Geltung bringen: „Die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente des Ganzen, des dialektischen Prozesses, der als Einheit von Gedanken und Geschichte gefasst ist“. Erst im Zusammenfall von „Gedanke und Geschichte“ entkommt der revolutionäre Prozess dem „Dilemma vom Fatalismus der reinen Gesetze und von der Ethik der reinen Gesinnung“, an dem Sozialist*innen und Anarchist*innen für sich allein auf komplementäre Weise scheitern – die einen im knechtischen Respekt vor dem geregelten Gang der Dinge, die anderen im freien Sprung über diesen Gang hinweg. (Lukács 1983: 95 bzw. 112)

Revolution und Reformation

Den Widerstreit von Revolte, Reform und Revolution heute produktiv auszutragen soll hier heißen, ihn dort wieder aufzunehmen, wo das im Mai 1968 eröffnete Projekt einer auf die autonome Emanzipation der Individuen gegründeten klassenlosen Gesellschaft in den Prozess kapitalistischer Globalisierung und Individualisierung absorbiert worden ist. Es soll zugleich heißen, den Überschuss und das Unabgegoltene dieses Projekts gegen die Krise der Geschichte auszuspielen. Das aber bedeutet nichts anderes, als den Versuch der Überwindung des globalen Kapitalismus auf dem Widerspruch zwischen jeder und jedem Einzelnen und dem Ganzen seiner Welt zu begründen. Und es heißt, auf diesem Weg zugleich die ökologische Krise lösen zu wollen, die den Horizont auch der Krise der Geschichte bildet.

Der Einwand gegen diese Stellung des Problems liegt auf der Hand: Ist es nicht völlig überspannt, dem globalen Kapital-und-Arbeit-Verhältnis mit einer „Politik in erster Person“ gegenüberzutreten, das heißt mit nichts anderem als den Denk-, Handelns- und Lebensmöglichkeiten von auf sich vereinzelter Individuen? Ist nicht bereits der Aufbruch des Mai 68 gerade daran gescheitert und konnte deswegen auch so leicht absorbiert werden? Und bedeutet das nicht, sich in der oben kritisierten „Ethik der reinen Gesinnung“ zu verfangen, der zuletzt gar nichts anderes übrig bleibt, als vor dem „Fatalismus der reinen Gesetze“ zu kapitulieren?

Hier gilt es, genauer hinzusehen. War die „Politik in erster Person“ tatsächlich nichts als ein individualistisches, also subjektivistisches und zuletzt sogar narzisstisches Unternehmen? Geben wir dazu Foucault das Wort, der für die „Politik in erster Person“ den zugleich strategischen und programmatischen Begriff einer „Ästhetik der Existenz“ geprägt hat. (Vgl. Foucault 2007) Wie begreift Foucault das revolutionäre Projekt des Mai 68, wie würde er seine Aktualisierung in der aktuellen Konjunktion von Globalisierung und Individualisierung entwerfen? „Ich glaube“, schreibt Foucault,

„dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden.“ (Foucault 2005: 276. Vgl. ebd.: 859–873)

Was ist mit dieser Anverwandlung des Mai 68 an die am Anfang der modernen Revolutionsgeschichte stehende historische Reformation gesagt, die ja ebenfalls zugleich eine Bewegung der Globalisierung und der Individualisierung war? Mit ihr ist gesagt, dass die Macht von existenzästhetischen „Politiken in erster Person“ in ihrem geschichtlichen, allen oder zumindest vielen gemeinsamen Charakter liegt. Dieses Gemeinsame resultiert aus dem Faktum, dass die ethischen Umwälzungen der alltäglichen Selbstregierung der Einzelnen gerade als solche notwendig miteinander kommunizieren, weil sie gar nicht anders können als zum Ferment von Kämpfen um Anerkennung zu werden: Kämpfen, die selbst wieder in Verhältnissen der Herrschaft und der Ausbeutung und damit stets gegen diese Verhältnisse geführt werden. Im gelingenden Fall organisieren sie sich dabei zur „Reformation“, also zur Umwälzung der Welt im Ausgang vom und in Bezug auf das Alltagsleben des sich im Geflecht seiner „Konvivialität“ mit den Anderen und der Welt vereinzelnden – und sich darin frei vergesellschaftenden Individuums. (Vgl. Dennis Eversberg in diesem Buch). Der Mai 68 hat dies zunächst in der Spontaneität seines eigenen „Aufruhrs“ getan, in den kommunizierenden Revolten von Einzelnen, und er hat diesen Prozess dann in der Mediokrität seiner Reformen fortzusetzen versucht. Irgendwo „dazwischen“ setzte seine Absorption ein: dem Prozess vergleichbar, in dem sich die bauernkriegerischen und wiedertäuferischen Aufbrüche der historischen Reformation in ihrer eigenen Mediokrisierung verloren haben: in dem ersten „Geist des Kapitalismus“, der sie dann zu absorbieren wusste. (Weber 1988: 17–206)

Was tun?

Sich in der alle Krisen der Gegenwart durchherrschenden Krise der Geschichte zur Aktualisierung der Revolution zu befreien heißt auch, sich dem Problem der strategischen Führung eines solchen Prozesses zu stellen. Die Phänomenologie des Geistes des Mai 68 kann zeigen, dass seine Konstellationen je auf ihre Weise genau das versucht haben. Sie haben sich dabei auch dem „Dilemma vom Fatalismus der reinen Gesetze und von der Ethik der reinen Gesinnung“ gestellt und versucht, diesem gegenüber den „Gesichtspunkt der Totalität“ zur Geltung zu bringen: also den Ausgriff auf das Ganze der Welt aus der Singularität einer existenziell-praktisch situierten Perspektive (von lat. perspicere, hindurchsehen, von je einem besonderen Blickwinkel oder Gesichtspunkt her).

Wenn es so dringlich ist, ihre Antworten heute noch einmal durchzugehen, dann deshalb, weil sie die Sache der Befreiung damit auf nichts als auf die Freiheit gestellt haben und uns damit in unüberbietbarer Schärfe vor das Problem der freiwilligen Knechtschaft als das Grundproblem des Politischen schlechthin stellen. Den „Gesichtspunkt der Totalität“ einzunehmen heißt darum gar nichts anderes, als diese Herausforderung ohne jede Ausflucht anzunehmen. Das verleiht den Sätzen eine wortwörtlich brennende Aktualität, in denen Guy Debord, ein anderer Situationist, diese Herausforderung unmittelbar vor dem Mai 68 umrissen hat:

„Die proletarische Revolution hängt ganz und gar von dieser Notwendigkeit ab, dass die Massen zum ersten Mal die Theorie als Intelligenz der menschlichen Praxis erkennen und leben. Sie fordert, dass die Arbeiter Dialektiker werden und ihr Denken in die Praxis übertragen; sie verlangt daher von den Menschen ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution von den Menschen verlangte, die über alle Eigenschaften verfügten, um sie ins Werk zu setzen.“ (Debord 1974: 97)

Das Zueinanderfinden von Gedanke und Geschichte der Revolution war allerdings schon für Debord nicht mehr das Werk einer Avantgarde der Arbeit. Es war vielmehr umgekehrt Sache der Unterbrechung ihrer erweitert in sich zurücklaufenden Reproduktion: die Sache also eines Muts zum gemeinsamen Ausstieg aus der Verknechtung, in dem jede und jeder selbst mit sich den Anfang machen muss. Eines Muts zum Ausstieg zugleich aus der Entlohnung der Arbeit in den unterwerfenden Anerkennungen durch den proletaro-bourgeoisen Konsum und das proletaro-bourgeoise Recht. Des Muts zum zugleich postreligiösen wie postsäkularen Ausstieg aus einer geschichtlich entleerten und deshalb irre werdenden Religiosität und einer ebenso entleerten und deshalb längst zynisch gewordenen Säkularität. Des Muts zuletzt zum Ausstieg aus der herrschenden Globalisierung und Individualisierung zugunsten eines anderen Weltweitwerdens der Welt und einer anderen Vereinzelung dieses Werdens. Vorbereitet wird dieses Ereignis in der Vielstimmigkeit der öko-anarchistischen, öko-sozialistischen und öko-kommunistischen Kommunikation der Existierenden mit all den anderen Wesen ihrer Erde. (Zu Begriff und Sache des Ereignisses wie der Erde vgl. Hardt/Mezzadra in diesem Buch) Inmitten der uns zur Entscheidung gestellten, uns vielleicht übermächtigenden Krisen wird das Ereignis seinen Ort im Städtischen finden, bei den in ihre freie Fremde Entbundenen, bei denen, die nichts sind, um auf je einzige Weise alles sein zu können, singulare Universale.

Boltanski, Luc/Chiapello, Éve, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

Brand, Ulrich/Wissen, Markus, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017.

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[1] In meinem Buch Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt fasse ich diesen ganz besonderen Geist in fünf in sich stets vielstimmigen Konstellationen (Hamburg 2017: 145–316). Den Anfang bildet die situationistische Konstellation, die ich in dem Dreiecksverhältnis von Marxismus, Existenzialismus und Surrealismus ausmache, zu dem neben den Situationist*innen auch Autoren wie Marcuse, Sartre, Bataille und Fanon zählen. Die zweite Konstellation wird durch die Philosoph*innen bestimmt, die man gegen ihren Willen als „Poststrukturalist*innen“ bezeichnet hat. Mit ihnen hört der Marxismus der Arbeiter*innenbewegung auf, den Horizont der Verbindung von Sozial- und Künstler*innenkritik zu bilden – auch wenn das Denken von Marx ein unverzichtbares Moment aller Kritik bleibt. Die drei anderen Konstellationen treten in gewisser Weise zu den beiden ersten hinzu und verleihen ihnen jeweils einen eigenen Akzent. Es handelt sich um den Feminismus oder vielmehr die Feminismen, um die Kritische Theorie und um das, was ich die „Kommunismus“-Debatte nenne. Sie beginnt zwar erst im 21. Jahrhundert, wird jedoch maßgeblich von Protagonist*innen des Mai 68 geführt: von Badiou, Negri, Zizek – und von Gramsci, der zwar sehr viel älter ist, doch in gewisser Weise auch als Denker des Mai 68 bezeichnet werden kann. Wenn ich die Ökologie der Existenz als eine Phänomenologie des Geistes dieser Konstellationen bezeichne, dann deshalb, weil ich sie dort in eine Dialektik verwickle, der es um die Bergung ihres Überschusses und Unabgegoltenen geht: um die Aktualisierung der Revolution. Einen verwandten Weg in eine solche Phänomenologie eröffnet hier der Beitrag von Claire Fontaine.