Einführung in die Ökologie der Existenz

wo wir stehen wer wir sind und worum es in der geschichte eigentlich geht.

Am 29. November 2017 lud mich die Gruppe Nitribitt – Frankfurter Ökonomien zur Vorstellung der „Ökologie der Existenz“ in das Hausprojekt Nika in der Niddastraße ein: „Thomas Seibert hat ein Krisenbuch geschrieben. Welche Krise? Viele Krisen. Everything is not okay. Wir sind die Proletarisierten eines Kapitals, das längst nicht mehr nur die Arbeit, sondern unser ganzes Existieren, unsere Ökologie in seinen Wachstumswahn zwingt. Wer sich daraus zur Freiheit befreien will, wird die Reformation der Lebensweisen fortführen müssen, deren bislang letztes Abenteuer der Mai 1968 war.“ Variationen des Vortrags habe ich mittlerweile auch anderswo präsentiert: weitere Gelegenheiten lassen sich finden…

1.

Nach Lage der Dinge ist mein Buch ein Krisenbuch. Ich setze ihm die sogenannte Vielfachkrise voraus, zu der wir – unter anderen noch – die Hungerkrise, die kapitalistische Krise, die Krise der Arbeit, die Krise der nahen und fernen sozialen Beziehungen, die Krisen der Vergeschlechtlichung, die Krise folglich unserer Selbst- und Weltverhältnisse, die Krise deshalb der Ethik, der Politik, der Religion und der Säkularität zusammenrechnen – ohne sie in ihrem Zusammenhang begriffen zu haben.

Den Begriff der einen Krise, die alle anderen durchherrscht, suche ich zunächst in der ökologischen Krise. Sie bildet den Horizont aller anderen: gelingt uns ihre Lösung nicht, wird die Erde schon zur Mitte dieses Jahrhunderts an vielen Orten unbewohnbar wie der Mond geworden sein. Deshalb bezeichne ich das politisch-philosophische Denken, das ich in meinem Buch erprobe, als Ökologie.

In einem zweiten Schritt grundiere ich das Krisengeschehen in einer offene Reihe von uns allen vertrauten Prozessbegriffen. Dabei beginne ich mit dem der Globalisierung als dem Leitbegriff der Epoche. Ihm ordne ich die Begriffe der Proletarisierung und Prekarisierung zu: Prekarisierung ist das, was uns in der Proletarisierung als dem Prozess widerfährt, in dem unser tägliches Leben dem globalen Kapital-und-Arbeit-Verhältnis unterworfen wird. Dieser Prozess wiederum ist durch die weltgeschichtlich einzigartige Kehre bestimmt, nach der seit den 1990er Jahren erstmals überhaupt mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben. Mit der globalen Urbanisierung wird der für alle bisherige Geschichte bestimmende Unterschied von Stadt und Land hinfällig: nach Henri Lefebvre ist das uns umfangende Städtische eben nicht bloß der Stadtraum, sondern ein Raum, der an jedem seiner Orte, in den Städten wie in den Dörfern, dem Kapital-und-Arbeit-Verhältnis einverleibt ist, das deshalb auch kein Außen und kein Anderes mehr kennt. Zur Urbanisierung tritt dann die Kybernetisierung, in der die elektronische Steuerungstechnologie zur ersten aller Technologien wird: zur vorherrschenden Produktivkraft im Gefüge aller Arbeit und damit zur ersten aller Weltmächte.

Damit aber ist die Dramatik der Entwicklung, die uns mit sich reißt, noch gar nicht in ihrem zentralen Moment umrissen. Dieses liegt darin, dass sich Globalisierung, Proletarisierung, Urbanisierung und Kybernetisierung als Individualisierung vollziehen: als der Prozess, in dem wir immer radikaler auf uns selbst vereinzelt werden, als Prozess zugleich, der sich selbst überall und jederzeit in jeder und in jedem von uns vereinzelt. Diese Individualisierung aber macht uns gerade nicht zu unverwechselbaren, in sich ruhenden Einzelnen, sondern prekarisiert uns in einer Konkurrenz, in der jede und jeder von uns gezwungen ist, das eigene Verhalten am jeweils anderen – genauer: am Durchschnitt aller anderen zu bemessen. Das Maßnehmenmüssen am Durchschnitt aller anderen bezeichne ich als Mediokrisierung, als Vermittelmäßigung: soziologisch zu fassen in der Hegemonie der globalen Mittelklassen, deren Sogwirkung auch die regiert, die gar keine Chance haben, ihr zuzugehören.

In den Zusammenhang von Globalisierung, Individualisierung und Mediokrisierung schreibe ich dann den Begriff der Existenz ein, in dem von Kierkegaard bis zu Foucault die Ambivalenz unserer Subjektivität gedacht wird: Objekt immer neuer Unterwerfung und zugleich Subjekt immer neuer Befreiung und darin Subjekt-Objekt der Geschichte zu sein. Deshalb handelt meine Ökologie im Unterschied zu den meisten anderen weniger von der Natur, vom Leben und von Lebewesen. Sie handelt vielmehr von der Geschichte und von uns als geschichtlich existierenden Wesen. Darin liegt dann auch meine Antwort auf die Frage nach der einen Krise, die alle anderen durchherrscht. Soll die Vielfachkrise begriffen werden, muss sie als Krise der Geschichte verstanden werden.

Auf der theoretischen Ebene stelle ich mich damit in radikalem Gegensatz zu allen Diskursen eines „Endes der Geschichte“ und eines „Abschieds von den Großen Erzählungen.“ Mit ihm hat man sich nicht nur von Hegel und Marx, sondern sogar vom Poststrukturalismus verabschiedet, der in seinen Anfängen bei Foucault, Deleuze, Guattari oder Derrida selbst nach einer „Großen Erzählung“ gesucht hat: nach einer Universalgeschichte des Kapitalismus in und vermittels einer Geschichte der abendländischen Rationalität und Irrationalität.

Wie die eben aufgerufenen „Großen Erzählungen“ versucht auch meine Ökologie der Existenz, auf den Begriff zu bringen, wo wir heute stehen, wer wir heute sind und worum es in der Geschichte eigentlich geht: der vorgebliche Widerspruch von „Universalgeschichte“ und „Gegenwartsontologie“ ist ein Scheinwiderspruch, eine Verkennung dessen, was Denken immer schon war und noch immer sein kann. Nach einer Wendung von Georg Lukács versuche ich deshalb, den „Gesichtspunkt der Totalität“ einzunehmen – mit Betonung erst einmal auf die in Frage stehende Totalität: die Große Erzählung von der Gegenwart der Großen Geschichte. Lukács folge ich auch, wenn ich das methodisch in politischem Philosophieren versuche, also in einem Denken, in dem die Philosophie, die kritische Theorie der Gesellschaft und die Reflexion der politischen Praxis zusammenkommen sollen. Gelingen kann das nur, wenn in der Wendung vom „Gesichtspunkt der Totalität“ die Betonung zugleich auf den „Gesichtspunkt“ gelegt wird, also auf den ganz besonderen Blickwinkel, aus dem die Totalität anvisiert wird – und von dem sie gar nicht getrennt werden kann. Mein methodisch leitender Gesichtspunkt und Blickwinkel ist dann die Bestimmung der Geschichte aus der Geschichte der modernen Revolutionen, datiert über die Jahreszahlen 1789, 1848, 1871, 1917 und 1968. Mit der Wahl dieses Gesichtspunkts gelingt mir ein legitimer Zirkelschluss: lässt sich doch leichthändig zeigen, dass um die genannten Jahre herum in jeweils ganz besonderer Weise der Versuch unternommen worden ist, Philosophie, kritische Theorie der Gesellschaft und Reflexion der politischen Praxis zusammenkommen zu lassen: bei Hegel und Marx nicht weniger als bei Foucault und Deleuze, trotz ihrer Differenzen.

Als politischer Aktivist, der in den 1970er Jahren zugleich zur Politik und zur Philosophie gekommen ist, liegt mein ganz persönlicher „Gesichtspunkt der Totalität“ dann aber im Mai 68 als dem Ereignis der modernen Revolutionsgeschichte, das irgendwann in den 1950er Jahren beginnt und irgendwann in den 1980er Jahren abbricht. Von ihm aus wird die Ökologie der Existenz – mit gebotener Ironie – zur Phänomenologie des Geistes des Mai 68: zur Wissenschaft von der Erfahrung der modernen Revolutionsgeschichte, erschlossen über die Erfahrung des Mai 68 und unternommen mit dem Ziel, die Krise dieser Geschichte zu verstehen.

Was aber war der Mai 68? Ich habe ihn eben als revolutionsgeschichtliches Ereignis bezeichnet und mit anderen Ereignissen in eine Reihe gestellt, maßgeblich mit denen der Jahre 1789 und 1917. Dem in der Jahreszahl 1789 datierten Ereignis verdanken wir die Köpfung des absoluten Souveräns und die doppelte Konstitution der Politik: ihre Konstitution zum einen unter der menschenrechtsbasierten Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, und ihre Konstitution zum anderen im Übergang von der kolonialen zur kapitalistischen Globalisierung. Dem Ereignis des Roten Oktober und der Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ verdanken wir dann den ersten Anlauf einer Aufhebung der kapitalistischen in eine sozialistische Globalisierung: am fatalen Scheitern dieses Anlaufs tragen wir noch heute.

Das Ereignis des Mai hat seine erste Besonderheit darin, den Prozess der Globalisierung gleichermaßen gegen seine kapitalistische und seine sozialistische Form wenden zu wollen. Wie die Revolutionen von 1789 und 1917 bricht auch die von 1968 ab, ohne ihre Wahrheit totalisiert zu haben. Sie dauerte aber lange genug, um ihren Ertrag in wenigstens drei Maßgaben verdichten zu können, die noch für uns verbindlich bleiben.

Die erste Maßgabe habe ich schon genannt: Der Mai 68 hat sich ethisch und politisch auf den bereits laufenden Globalisierungs- und Individualisierungsprozess eingelassen, und er hat dies in doppelter Kritik der kapitalistischen und der sozialistischen Form dieses Prozesses getan. Er ist darin dem nicht eingelösten Versprechen der vorangegangenen Revolutionsereignisse treu geblieben, Globalisierung und Individualisierung emanzipatorisch zu wenden: ein Versprechen, das Hegel und Marx im Begriff einer „weltgeschichtlichen Existenz der Individuen“ verdichtet haben, auf die ich noch mehrfach zurückkommen werde. Die zweite Maßgabe des Mai 68 liegt in der konkreten Politikform, mit der dieses Versprechen realisiert werden sollte. Die Emanzipationsbewegungen des Mai haben diese Politikform in der Verknüpfung von Sozial- und Künstler*innenkritik gesucht, für die sie zwei strategische Wendungen gefunden haben: die Wendung von der „Politik in erster Person“ und die Wendung „Das Private ist politisch!“ In der Phase des Abbruchs des Mai hat Foucault die Verknüpfung von Sozial- und Künstler*innenkritik in dem Begriff einer „Ästhetik der Existenz“ gefasst. Darunter verstand er Formen eines zugleich widerständigen und schöpferischen Lebens, in denen die Existenz ihrer Begierde folgt, keinem ferneren Zweck unterworfen und darin nach dem Maß eines Kunstwerks Zweck an sich selbst zu sein. Zu einer Lebenspraxis jenseits des Unterschieds des Privaten und des Politischen wird solche Existenzästhetik dann, wenn sie in und aus ihrer Vereinzelung ihre obligatio in solidum übernimmt: ihre freie Verpflichtung auf das gleichermaßen freie Ganze des Mitseins mit Anderen und Anderem. Für den so verstandenen Begriff der Solidarität fand der Situationist Raoul Vaneigem die Losung „Die autonome Emanzipation der Individuen ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft“: Sie ist die Losung des Mai 68.

Die dritte und letztlich wichtigste Maßgabe des Mai 68 liegt darin, die überkommene Dialektik von Reform und Revolution in einem Prozess der Reformation aufzuheben. Auch diese Maßgabe hat ihre Formulierung bei Foucault gefunden, der sie aus einer formalen Analogie zwischen der Epoche des Mai und der historischen Reformation gewann:

„Ich glaube, dass man in der Geschichte des Abendlands eine Periode finden kann, die der unseren ähnelt, auch wenn sich die Dinge natürlich nicht wiederholen, nicht einmal die Tragödien in Form der Komödie: nämlich das Ende des Mittelalters. Vom 15. zum 16. Jahrhundert bemerkt man eine völlige Reorganisation der Regierung der Menschen, jenen Aufruhr, der zum Protestantismus geführt hat, zur Bildung der großen Nationalstaaten, zur Konstitution der autoritären Monarchien, zur Verteidigung der Territorien unter der Autorität der Verwaltungen, zur Gegenreformation, zu der neuen weltlichen Präsenz der katholischen Kirche. All das war gewissermaßen eine große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen. Mir scheint, dass wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden.“

Das also ist die Besonderheit des Mai 68, die für mich den „Gesichtspunkt der Totalität“ markiert: „eine große Umgestaltung der Art und Weise“ gewesen zu sein, „wie die Menschen regiert wurden, sowohl in ihren individuellen wie in ihren sozialen, politischen Beziehungen.“ Zu ihr gehört dann allerdings, dem ethisch-politischen Gefüge von Reform, Revolution und Reformation einen vierten Begriff hinzufügen zu müssen: den Begriff der Revolte, der noch einmal auf die Notwendigkeit verweist, dass in der Überschreitung des Bestehenden jede und jede Einzelne mit sich selbst den Anfang machen muss. Der Begriff oder besser noch die Sache selbst der Revolte schließen ein, zugleich gegen die herrschenden Formen der Vergesellschaftung und gegen die herrschenden Formen der Vereinzelung gerichtet zu sein. Damit ist dann allerdings gesagt, dass es für das Gelingen einer radikal verstandenen Existenzästhetik keine Garantie geben kann, weil so etwas nie zuvor gewagt worden ist.

2.

Der Epoche des Mai 68 diese überragende weltgeschichtliche Bedeutung zuzuschreiben heißt dann allerdings, sich dem Problem ihrer Absorption in die Modernisierung des globalen Kapital-und-Arbeits-Verhältnisses stellen zu müssen, die unsere Gegenwart bestimmt. Wie bei der Absorption der Ereignisse von 1789, 1848, 1871 und 1917 resultiert sie zuerst aus der historisch einzigartigen Macht des Kapitals, zugleich ein Verhältnis der Beherrschung, Ausbeutung und Missachtung und ein Verhältnis der Befreiung und der Anerkennung zu sein. Es heißt zugleich einräumen zu müssen, dass meine Rekonstruktion des Mai 68 nicht die Rekonstruktion seiner Durchschnittlichkeit, seiner Mediokrität, sondern die seines Überschusses und Unabgegoltenen ist: die Rekonstruktion seiner radikalsten Tendenzen. Aufgespürt hab ich sie in dem, was ich die fünf Konstellationen seines Geistes nenne: fünf ineinander verwobenen, wenn auch untereinander strittigen Versuchen, in der Verbindung von Philosophie, kritischer Gesellschaftstheorie und Reflexion der politischen Praxis den „Gesichtspunkt der Totalität“ einzunehmen. Dabei handelt es sich nicht um bloße Geistes- oder Ideengeschichte: das Gesichtspunkthafte des „Gesichtspunkts der Totalität“ liegt ja gerade darin, dass er immer nur mitten in dem „Handgemenge“ eingenommen werden kann, das Marx als das zugleich praktische und theoretische „Handgemenge der Kritik“ bezeichnet hat. Seine notwendig parteiische Rekonstruktion nimmt den mittleren Teil meines Buches ein. Ich habe versucht, sie in der Form einer kritischen Einführung darzulegen, um sie zum Archiv unserer eigenen Möglichkeiten des Denkens und Handelns machen. Es handelt sich dabei erstens um die Konstellation der Zusammenführung von Marxismus, Existenzialismus und Surrealismus, die ich nach ihrer reifsten Tendenz als situationistische Konstellation bezeichne. Es handelt sich zweitens um die Konstellation des Poststrukturalismus, die sich von der ersten in der Radikalisierung der Kritik an Hegel, damit aber auch am Marxismus unterscheidet. Es handelt sich drittens um die Konstellation der Feminismen, in der aus einem spezifischen Gesichtspunkt der Totalität die nächsten Folgerungen einer Aufhebung des Unterschieds des Privaten und des Politischen gezogen werden. Es handelt sich viertens um die Konstellation der „Kommunismus“-Debatte, die zwar erst in den 1980er Jahren beginnt, doch maßgeblich von Protagonist*innen des Mai bestimmt wird. Die fünfte und letzte Konstellation ist die der Kritischen Theorie, die ich von ihren Anfängen in den 1920er Jahren bis zu ihren jüngsten Artikulationen verfolge.

Keine Angst: es folgt jetzt kein Referat der fünf Konstellationen: mehr dazu gerne in der Diskussion. Jetzt beschränke ich mich darauf, ihr in sich strittiges Gemeinsames zu bestimmen. Gefunden habe ich dieses Gemeinsame dicht zusammengedrängt in den zehn wichtigsten Seiten, die je zur politischen Philosophie geschrieben worden sind: den Seiten der Phänomenologie des Geistes, auf denen Hegel seine Dialektik von Herr und Knecht entwickelt. Spätestens seit dem Mai 68 können sie nur noch vermittels der Kritik gelesen werden, die sie zuerst bei Marx bzw. der Sozialkritik und dann bei Nietzsche bzw. der Künstler*innenkritik gefunden haben. Dass der Mai 68 Sozial- und Künstler*innenkritik zusammenführt, heißt dann, dass er Marx‘ und Nietzsches Kritiken an Hegels Herr-Knecht-Dialektik zusammenführt. Daher rührt dann auch die oft missverstandene, weil tatsächlich außerordentlich ehrerbietige Geste, mit der sich Foucault im Namen des Geistes des Mai 68 von Hegel trennt:

„Ich weiß wohl, (…) dass unsere Epoche (…) sei es mit Marx oder mit Nietzsche Hegel zu entkommen trachtet. (…) Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muss man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muss ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.“

Voilà – worum geht’s in der Dialektik von Herr und Knecht, und was hat sie mit uns und unserer Gegenwart zu tun? Es geht um eine wortwörtlich todernste Angelegenheit, nämlich um einen Kampf, der auf Leben und Tod geführt wird. Für Hegel markiert er den logischen Ausgangspunkt der Weltgeschichte, d.h. den Gesichtspunkt, von dem her sie in ihrer Totalität verstanden werden kann. Geführt wird er von zwei Lebewesen als ein Kampf um Anerkennung, in dem sie sich gegenseitig als Wesen anerkennen, die mehr als nur ein Lebewesen sind: Wesen nämlich, die als sterbliche Lebewesen zugleich freie Wesen sind, Wesen, deren Essenz in ihrer freien Existenz liegt. Der Kampf um Anerkennung wird als Kampf auf Leben und Tod geführt, weil nur so der existenzielle Beweis erbracht und dem Anderen mitgeteilt werden kann, in der eigenen Freiheit noch vom Naturzwang der Selbsterhaltung frei zu sein, der alle Lebewesen in seiner Gewalt hat. Der turning point des Herr-Knecht-Kapitels liegt dann aber darin, dass einer der beiden Kämpfenden im letzten Augenblick dieser Probe ausweicht und sich zur Rettung seines Überlebens zum Knecht oder zur Magd des Anderen macht. Für uns bleibt dabei zu begreifen, dass die Freiheit als die Bedingung der Möglichkeit wie der Wirklichkeit von Geschichte immer auch die Möglichkeit zur Abwahl ihrer selbst, d.h. zum Selbstverzicht bereitstellt. Von daher ist alle Geschichte nicht einfach Geschichte der Freiheit, sondern immer auch Geschichte der freiwilligen Knechtschaft. Der konkrete, in seinem Verlauf ganz kontingente Verlauf dieser Geschichte liegt zunächst einmal darin, dass das Resultat des Kampfes auf Leben und Tod für beide Seiten unbefriedigend bleibt. Bei den Knechten und Mägden liegt das auf der Hand: sie verlieren ihr Leben zwar nicht im Tod im Kampf, doch im Frondienst der Herr*innen, von deren Willkür sie selbst im nackten Überleben abhängen. Für die Herr*innen bleibt die Situation unbefriedigend, weil sie ihre Knechte und Mägde zwar zur Anerkennung ihrer Freiheit gezwungen, damit aber nur eine Anerkennung durch Knechte und Mägde, nicht die Anerkennung freier Wesen gewonnen haben. Im Verlauf der Weltgeschichte, so Hegel weiter, kommen die Knechte und Mägde Zug um Zug in die stärkere Position: während die Herr*innen im Letzten über nichts als ihre Todesbereitschaft verfügen, bilden die Knechte und Mägde im Frondienst der Herr*innen die Kräfte, Fähigkeiten und das Wissen aus, sich in und durch ihre Arbeit die ganze Welt verfügbar zu machen. Den Höhepunkt dieser Bildungsgeschichte der Arbeit markiert die Französische Revolution: Mit der nachholenden Tötung des Königs machen sich die Knechte und Mägde von ihren Herr*innen frei und anerkennen sich gegenseitig als frei und gleich.

Hier setzen Marx und Nietzsche ein. Marx bzw. die Sozialkritik bleiben im Prinzip ganz in Hegels Perspektive, binden das Ende der Geschichte aber an die Überwindung noch der bürgerlich-kapitalistischen in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Sie erst wird die Gesellschaft der noch vom Staat und noch vom Recht befreiten Arbeit, die Marx „Praxis“ nennt. Nietzsche und die Künstler*innenkritik gehen noch einen Schritt weiter. Für sie sind die Gesellschaften Hegels und Marx‘ keine freien Gesellschaften, sondern nur proletaro-bourgeoise Gesellschaften der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen, Gesellschaften der allgemeinen Verknechtung in Kapital und Arbeit, Gesellschaften, ökologisch gesprochen, des unbegrenzten Wachstums zugleich des Kapitals wie der Arbeit. Weil das so ist, weil wir uns selbst und das Ganze unserer Umwelt zum Material der Praxis und ihres unbegrenzten Wachstums gemacht haben, bildet die ökologische Krise den Horizont aller Krisen und darin auch den Horizont der Krise der Geschichte. Das ist das Gemeinsame, in dem die fünf Konstellationen des Geistes des Mai 68 zusammenkommen: trotz der jeweils ganz eigensinnigen Weise, in der sie Hegel, Marx und Nietzsche zu- und gegeneinander ins Verhältnis setzen. Wenn der Situationismus, der Poststrukturalismus, der Feminismus, die Kommunismus-Debatte und die Kritische Theorie das Archiv noch unserer Möglichkeiten des Denkens und Handelns bereitstellen, dann tun sie das, weil sie je auf ihre Weise Hegels Deutung der Weltgeschichte als einer Bildungsgeschichte der Arbeit gegen den Strich lesen, weil sie je auf ihre Weise Marx‘ Entwurf einer radikal zu sich selbst befreiten Arbeit in Frage stellen, und weil sie mit und gegen Nietzsche eine Gesellschaftskritik entwickeln, die den Ausweg aus einer Weltgesellschaft-der-Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen sucht. Dazu gehört die Einsicht, dass wirkliche Emanzipation unumgänglich mit der Selbstbefreiung aus der eigenen freiwilligen Knechtschaft beginnt, weil wir zunächst und zumeist in und aus der freiwilligen Knechtschaft existieren: Wenn wir alle Opfer von Herrschaft, Ausbeutung und Missachtung sind, dann auch deshalb, weil wir uns im Selbstverzicht auf unsere Freiheit zu diesen Opfern machen. Wir tun das, weil wir in der einen oder anderen Weisen nicht mit der Ambivalenz zurechtkommen, zugleich freie und sterbliche Wesen, zugleich Existenz und Lebewesen zu sein.

Die ethisch-politische und darin existenziell-praktische Bedeutung dieser Grundeinsicht des Geistes des Mai 68 lässt sich nicht zufällig an den beiden wesentlichen Selbstmissverständnissen der existenzästhetischen bzw. existenzökologischen Politiken in erster Person zeigen. Das erste nenne ich das knechtische Selbstmissverständnis. Es verbirgt sich nur scheinbar paradox in dem Narzissmus, nach dem es in der Politik in erster Person zuerst und zuletzt um die eigene erste Person gehen soll. Tatsächlich liegt in dieser Politik der Selbstsucht gerade eine Reduktion unserer Existenz auf unser Lebewesen und dessen Sorge um nichts als um die eigene Selbsterhaltung und Selbstbehauptung. Das zweite Selbstmissverständnis kann als das herrische Selbstmissverständnis verstanden werden. Hier wird der Kampf auf Leben und Tod wortwörtlich als Bedingung der Selbstbefreiung zur Freiheit missverstanden und deshalb im Selbstopfer realisiert: im Mai 68 war dies das Problem, dass die Rote Armee Fraktion für uns alle auf sich genommen hat. Der ebenso lebensentscheidende wie todernste Witz dieser kritischen Unterscheidungen im Selbstmissverständnis von Existenzästhetik bzw. Existenzökologie liegt dann aber in der Einsicht, sie nicht einfach weganalysieren zu können. Eine Politik der ersten Person wird immer auch Ausdruck der Sorge um sich selbst sein, und sie wird immer auch ein Kampf auf Leben und Tod sein, sofern dieser Kampf der Preis einer jeden Selbstbefreiung aus der freiwilligen Knechtschaft bleibt. In meinem Buch habe ich dieses Problem wenigstens begrifflich geschärft, in dem ich den Kampf auf Leben und Tod in einen Kampf um Leben und Tod umbenannt und den Kampf damit selbst einer offeneren Form und einem offeneren Ausgang zugewiesen habe. Festzuhalten ist allerdings, dass das knechtische wie das herrische Selbstmissverständnis die wesentlichen inneren Gründe für die Absorption der reformatorischen Bewegungen des Mai 68 waren: Grund mindestens für den Rückfall vieler ihrer Protagonist*innen in die Mediokrität der Weltgesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen, die anderswo als Weltgesellschaft der imperialen Lebensweise oder als globale Externalisierungsgesellschaft bezeichnet wird. Festhalten will ich allerdings auch, dass die freiwillige Knechtschaft und ihre falschen Aufhebungen nicht einfach eine moralische Verfehlung, sondern ein strukturelles Moment einer Geschichte der Freiheit darstellen: etwas, das bearbeitet, aber nicht weggearbeitet werden kann. Hier liegt der Grund, warum eine über Hegel hinausgetriebene Dialektik nur eine negative Dialektik sein kann.

3.

Ich versuche jetzt, das bisher Gesagte im Blick auf unsere Gegenwart und auf die Frage „Was tun?“ zu bewähren. Das führt mich zurück auf meine erste These, nach der sich alle Krisen im Horizont der ökologischen Krise sammeln, in dem sie alle von der Krise der Geschichte durchherrscht werden. Die ökologische Krise ist das zwingende Resultat der globalen Entgrenzung des Kapital-und-Arbeits-Verhältnisses: zum bloßen Material der Praxis herabgewürdigt, sind wir, alles Leben und die Erde selbst der Vernutzung und Verwüstung im endlosen Prozess ihres Wachstums preisgegeben. Absehbar ist, dass der ökologischen Krise innerimperiale Macht- und Verteilungskämpfe ungeahnten Ausmaßes entspringen werden, absehbar ist, dass die massenhaften Flucht-, Vertreibungs- und Migrationsbewegungen weiter anwachsen werden, und dass sie sich weiter auf den globalen Norden ausrichten werden. Wer hier ein Beispiel will: In den 1950er Jahre hatte Pakistans Industriemetropole Karatschi 600.000 Einwohner*innen. In der Folge ethnischer Säuberungen und aussichtslosen Elends wurde die Stadt zum Ziel der muslimisch-südasiatischen Binnenmigration und beherbergt heute, 60 Jahre später, 20 Millionen Menschen: sie ist so groß wie das Saarland. Karatschi wird in eins, zwei Jahrzehnten wortwörtlich ein Brennpunkt der Klimakrise geworden sein, mit innerstädtischen Temperaturen von deutlich über 50 Grad, bei rapide abnehmender Wasserversorgung. Heute schon sterben in den heißen Monaten Hunderte den Hitzetod. Deshalb werden sich, wird die Klimakrise nicht gestoppt, Millionen auf den Weg nach anderswo machen – oder sonstwie versuchen müssen, aus ihrer Situation auszubrechen.

Die Krise der Geschichte artikuliert sich zwar im neoliberalen Dogma von der Alternativlosigkeit des Bestehenden, resultiert als solche aber aus dem Fiasko der Realsozialismen des 20. Jahrhunderts, aus der Enttäuschung des politischen Enthusiasmus von weltweit Millionen, die glaubten, in diesen Sozialismen ihre „weltgeschichtliche Existenz“ gefunden zu haben. Das heißt nun allerdings nicht, dass das Begehren nach einer solchen Existenz gelöscht wäre. Es heißt auch nicht, dass die Dialektik von Herr und Knecht stillgestellt wäre, es heißt noch nicht einmal, dass unsere Epoche den Kampf auf Leben und Tod nicht mehr kennen würde – ganz im Gegenteil! Doch fällt der Antagonismus zum Ganzen des Bestehenden heute den gleichermaßen auf die Vernichtung ihres Anderen eingestimmten Weltmächten des Terrors und des Antiterrors zu. Nicht zufällig, wenn auch unerwartet, liegt die Initiative bei gleich mehreren religiösen Fundamentalismen. Unerwartet ist das, weil die Religion noch vor wenigen Jahrzehnten weltweit zur Privatsache von immer weniger Menschen reduziert schien. Nicht zufällig ist das, weil der Säkularismus der Moderne die ihm gestellte Herausforderung immer schon unterschätzt hat: Marx selbst hat nirgendwo mehr geirrt als in dem Satz, nach dem die Kritik der Religion in Deutschland „im Wesentlichen beendet sei.“ Dabei reden wir nicht nur von den Fundamentalismen, die sich auf den Islam beziehen. In Indien regiert mit klarer Mehrheit ein Regime, das sich auf den Hinduismus beruft, unter Berufung auf Buddha betreiben Fundamentalismen in Myanmar und Sri Lanka ethno-religiöse Genozide mit Hunderttausenden von Opfern, es gibt Fundamentalismen unter Berufung auf den christlichen und den jüdischen Gott, die dem Heiligen Krieg nicht abgeneigt sind, ihn auch schon begonnen haben. Europa wird von nationalistischen und rassistischen Fundamentalismen heimgesucht, das russische, das chinesische und das türkische Regime träumen mit der Unterstützung breiter gesellschaftlicher Mehrheiten ihre eigenen Fundamentalismen. Sofern es nicht direkt an dem einen oder anderen Fundamentalismus partizipiert, setzt das kapitalistische Empire dem Terror seinen kybernetisch hochgerüsteten Anti-Terror-Krieg entgegen. Der stützt sich innenpolitisch auf den Ausnahmezustand, anderswo auf den Bomben- und Drohnenkrieg, auf systematische Folter und extralegale Tötungen. Der Terror wiederum kulminiert nicht zufällig im Selbstmordattentat: einer Form des Kampfes auf Leben und Tod, in dem das Begehren nach dem ganz Anderen irre geworden ist und den eigenen Tod an den Tod möglichst vieler, oft zufällig ausgesuchter anderer bindet. Hinzuzurechnen sind hier die ebenfalls nach Hunderttausenden zählenden Opfer der Kämpfe auf Leben und Tod, in denrn sich süd- und mittelamerikanische Banden gegenseitig massakrieren. Hinzuzurechnen sind zuletzt – als ein Beispiel für immer mehr andere – die Passagiere des Lufthansa-Amokflugs 4U9525. Dessen Pilot Andreas Lubitz war nach Eilmeldung des Spiegel „letztlich ein Mann ohne Auffälligkeiten“: „nett, lustig, vielleicht ein bisschen ruhig“, fern jedes Fundamentalismus auf sich vereinzelt, ganz so wie (fast) alle anderen. Bevor er seinen Kollegen aus dem Cockpit ausschloss, unterhielt er sich mit ihm über ganz beiläufige Dinge. Nachdem er die mit 149 Menschen besetzte Maschine auf tödlichen Sinkflug brachte, und während seine Kolleg*innen verzweifelt an die verriegelte Tür hämmerten, bleib seine Atmung völlig ruhig. Sein Konzernchef bescheinigte ihm in den Abendnachrichten „100% Flugtauglichkeit, ohne Einschränkung und Auflagen.“

Weil all‘ das überall auf der Welt mehr oder minder deutlich genau so wahrgenommen wird, weil wir nicht nicht wissen können, dass sich die ökologische Krise und die Krise der Geschichte zu einer Endzeitkrise auswachsen, stimmen die Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen dort, wo noch gewählt wird, für Trump, für den Brexit, für Erdogan, Orban, Modi oder Duterte, hierzulande, im Ganzen milder noch, für die AfD. Die zentrale These meiner Gegenwartsdiagnose besteht darin, dass in allen diesen Wahlen, denen des Terrors wie des Antiterrors, die Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen auf die bislang tiefste Krise ihre Geschichte – und damit auf eine Verzweiflung treffen, der man mit der Abschaffung von Hartz 4 nicht beikommen wird.

Natürlich gibt es überall auf der Welt andere, gegenläufige Prozesse. Ich könnte jetzt vom Arabischen Frühling und der Wiederkehr des Aufstands sprechen, dessen Protagonist*innen sich auf dem größten Platz der Stadt versammeln und den Sturz des Regimes fordern. Ich müsste dann, wichtiger noch, davon sprechen, dass die Wiederkehr des Aufstands in den Jahren 2010 bis 2015 überall auf der Welt begeistert aufgenommen worden ist und diese Jahre weltweit zu den Jahren der Platzbesetzungen hat werden lassen, in den USA wie in Israel, Spanien und Griechenland. Ich könnte dann von der nicht zu unterschätzenden Kommunikation zwischen anti- und außerinstitutionellen Kämpfen und den Kämpfen in den Institutionen sprechen, die sich in SYRIZA, in Podemos, in der Sanders-Campaign wie in der Erneuerung der Labour Party verdichtet hat. Ich könnte auch vom Sommer der Migration und den Solidarity Cities sprechen. Ich würde so von Beispiel zu Beispiel eilen und versuchen, empirisch gedeckten Trost zu spenden: bis zum nächsten Loch im Auf und Ab der Kämpfe, an denen auch ich mein Leben lang teilgenommen habe und weiter teilnehme. Ich möchte aber philosophisch bleiben und deshalb den Schlusspunkt des zweiten Teils meines Vortrags wieder aufgreifen, nach dem die freiwillige Knechtschaft nicht einfach eine moralische Verfehlung, sondern ein strukturelles Merkmal einer Geschichte der Freiheit ist. Ich möchte darauf insistieren, dass die freiwillige Knechtschaft deshalb nicht weggearbeitet, doch bearbeitet werden kann: in Künsten der Freiheit, wie ich das im Schlussteil meines Buches nenne, oder in „Künsten der freiwilligen Unknechtschaft“, um eine Wendung Foucaults zu erinnern.

Deshalb frage ich jetzt in den Prozessen der Globalisierung und Individualisierung unserer Existenz nach den Modifikationen der Existenz, auf die wir uns im Widerstand einlassen können und müssen. Meine strategische These besteht darin, dass wir diese Modifikationen unserer Existenz nicht zufällig in den inneren Widersprüchen der historischen Emanzipationsbewegungen finden, die sich wiederum nicht zufällig in der Triade von Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus artikuliert haben. Dazu dürfen wir diese Widersprüche nicht, wie dies im 19. und 20. Jahrhundert geschehen ist, einseitig auflösen, sondern müssen sie in ihrer Dialektik entfalten. Dabei verstehe ich diese Dialektik weniger als eine ideologische oder gar parteipolitische, auch nicht als eine Dialektik nur der Arbeiter*innenbewegung und ihrer Linken. Deshalb entwerfe ich eine Phänomenologie des Sozialismus, des Anarchismus und des Kommunismus, die sie als drei jeweils eigensinnige, in sich auch notwendige Versuche entschlüsselt, sich der freiwilligen Knechtschaft zu entwinden. Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus sind dann die drei Modifikationen des politischen Existierens, einer Ästhetik und Ökologie der Existenz, die in allen sozialen Kämpfen nach deren Möglichkeiten variiert werden.

Die erste, die sozialistische oder sozialdemokratische Weise der politischen Existenz, entspringt den Widersprüchen in der Weltgesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen. Ihr leitendes Motiv ist das Interesse: unser Interesse, nicht so regiert zu werden, um ein besseres Leben leben zu können. Die Macht des Sozialismus ist eine aufbauende, eine konstituierende Macht: sie geht Schritt für Schritt vor, und sie geht am liebsten in kleinen Schritten vor. Sie tut das, weil sie weiß, dass sich die meisten von uns immer nur ein Stück weit von der freiwilligen Knechtschaft befreien, dass wir uns nur von ihr lösen, um bei nächster Gelegenheit wieder in sie zurück zu fallen: eben weil es sich bei der freiwilligen Knechtschaft nicht einfach um eine moralische Verfehlung, sondern um ein strukturelles Moment der Geschichte der Freiheit handelt.

Die zweite Tendenz entspringt der anarchistischen Modifikation des politischen Existierens. Sie bringt sich in den Widersprüchen nicht bloß in, sondern zur Weltgesellschaft der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr*innen in Geltung. Ihr leitendes Motiv ist nicht das stets zur Verhandlung gestellte Interesse, sondern das in seinem Kern unverhandelbare Begehren: das Begehren, nicht nur nicht in dieser Weise, sondern überhaupt nicht regiert zu werden, Zweck an sich selbst zu sein. Die Macht des Anarchismus ist die Macht des Exodus, die nicht konstituierende, sondern destituierende Macht des Auszugs aus der Gesellschaft, eine Augenblickssache von wenigen Einzelnen oder von immer flüchtigen Massen. Anarchistische Einzelne und anarchistische Massen wollen sich radikal von der freiwilligen Knechtschaft lösen, ohne der Verführung durch die Herrschaft zu erliegen – sie praktizieren in reinster Form, was Foucault die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“ genannt hat. In einzelnen Fällen kann der Anarchismus so mächtig werden, dass er das Glück und Unglück eines ganzen Lebens bestimmt.

Die dritte Tendenz entspringt der kommunistischen Modifikation des politischen Existierens, die Marx und Engels im zweiten Abschnitt des Manifests der Kommunistischen Partei entworfen haben: in wenigen, in sich zutiefst philosophischen, vielleicht deshalb aber hunderttausendfach fehlgedeuteten Sätzen. Im krassen Widerspruch zur folgenden Realgeschichte des 20. Jahrhunderts heißt es dort ausdrücklich, dass die „Kommunisten keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien“ sind, sondern dass sie in und zwischen diesen Parteien – in meinen Worten: unter und zwischen den Sozialist*innen wie den Anarchist*innen – die Agenten des Gemeinsamen und der Zukunft in der Einheit von Theorie und Praxis sind – philosophisch gesprochen: im Zusammengehören von Denken und Sein. Ihr leitendes Motiv ist deshalb auch weniger das Interesse und das Begehren, sondern das Denken der Geschichte, das sich in der Einsicht wiederum von Marx und Engels verdichtet, nach der „der Kommunismus, seine Aktion, nur als ‚weltgeschichtliche‘ Existenz überhaupt vorhanden sein kann; weltgeschichtliche Existenz der Individuen, d.h. Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist.“ Als solche haben die Kommunist*innen eigentlich gar keine eigene Praxis und deshalb auch keine eigene Partei: sie treffen immer neu die Wahl, in der die politische Existenz nach Lage der Dinge eher sozialistisch oder eher anarchistisch modifiziert werden muss, um die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“ eher in der Form der konstituierenden oder in der Form der destituierenden Macht auszuspielen.

Ist die politische, d.h. „weltgeschichtliche Existenz der Individuen“ ein Zweck an sich selbst, liegt ihr von uns allen auszuarbeitendes Programm im 21. Jahrhundert in der Überwindung des globalen Kapital-und-Arbeit-Verhältnisses zugunsten einer Weltgesellschaft des Postwachstums und eines guten Lebens für alle. Das aber heißt so, weil es sich der „Furcht des Todes, des absoluten Herrn“ stellt, in der Hegel den existenziellen Grund zugleich der Religion und der freiwilligen Knechtschaft sah. Die Verwirklichung dieses Programms liegt in einer Kritik des Rechts, in der sich die Konstitution immer neuer und zugleich immer anderer Rechte mit dem Exodus noch aus der Unterwerfung unter das Recht verbindet. Gelingen kann uns diese Kritik nur, wenn wir die Lehre des Mai 68 festhalten, nach der die freie Assoziation freier Individuen eben nicht nur eine Sache der kollektiven Aktion, sondern in der kollektiven Aktion und in gewissen Sinn sogar vor ihr die Sache einer Politik der ersten Person, die Sache einer Ästhetik der Existenz ist, in der jede und jede mit sich selbst den Anfang machen muss.