Figurationen der Ent-Bindung

Ein Versuch, Badiou mit und gegen seine(n) postmarxistischen Genoss*innen zu lesen.

Dieser etwas längere Text erschien in dem Sammelband „Treue zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious“, den Jens Knipp und Frank Meier 2010 im Unrast-Verlag veröffentlicht haben. Mein Beitrag kann als ein erster Begleittext zu dem ebenfalls 2010 erschienen Buch „Krise und Ereignis“ gelesen, dem Buch, mit dem ich selbst in die „Kommunismus“-Debatte eingegriffen habe. (Länger)

Die Krise des Marxismus ist ausgestanden. Sie ist das nicht, weil sie gelöst worden wäre, sondern weil an ihrer Stelle längst ein neues Spiel gespielt wird. Dieses Spiel heißt „Postmarxismus“ und verweist mit der Vorsilbe seines Namens auf seine Verwandtschaft mit ähnlich benannten Unternehmungen. Deren gemeinsame historische Signatur zeichnet der Begriff der Postmoderne, der selbst wieder auf den Mai 1968 verweist. Dabei entfaltet sich der Postmarxismus als ein „Denken mit…“, dessen Differenzen und Wiederholungen zunächst der weiteren Geschichte des Marxismus entstammen – prominent wären Antonio Gramsci oder Mao Zedong zu nennen, genauer: die Züge ihres Denkens, die erst jetzt zur Geltung kommen. Zum überwiegenden Teil aber sind diese Differenzen und Wiederholungen Effekte der Begegnung mit anderen Geschichten, etwa mit der des feministischen oder des postkolonialen Denkens. Im Folgenden wird allerdings primär aus einem dritten Archiv geschöpft, aus Problematisierungen, die Marxismus und Postmarxismus in der weiteren Geschichte der europäischen Philosophie verorten.

In dieser besonderen Perspektive sind dann bereits zwei Generationen postmarxistischen Denkens zu unterscheiden. Die erste umfasst im engeren Sinn des weitgespannten Begriffs poststrukturalistische Diskurse und denkt, um das namentlich zu markieren, mit und gegen Gilles Deleuze/Fèlix Guattari, Jacques Derrida und Michel Foucault. Die zweite bringt Diskurse zusammen, die zwar auch dem Mai 1968 entstammen, ihren eigenen Einsatz aber schon als Antwort auf den der ersten Generation ausspielen. Zu ihr gehören Alain Badiou, Jacques Rancière, Donna Haraway, Antonio Negri/Michael Hardt und Slavoj Žižek. Das Gemeinsame beider Generationen lässt sich nicht zufällig mit einem Begriff des letzten Denkers der Krise des Marxismus, Louis Althusser, benennen, der von Hardt/Negri später ausdrücklich als treffender Name dieses Gemeinsamen anerkannt wurde: aleatorischer Materialismus.

Althusser benennt mit ihm seinen endgültigen Abschied vom dialektischen Materialismus, in dem er 1968 noch eine „Revolution ohne Vorläufer in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis“, 1986 aber nur noch „ein Gräuel“ sah.[1] Materialistische Aleatorik (lat. alea, Würfel, Würfelspiel) meint dann ein Denken, für das die Geschichte nach der Zersetzung jeder Vorstellung einer sie in letzter Instanz prägenden Determinante zum „Prozess ohne Subjekt“[2] und damit ohne ersten Grund, höchstes Seiendes und letztes Ziel geworden ist. „Marxistisch“ bleibt diese Geschichte zu denken, weil sie gleichwohl, mehr noch: weil sie nun erst im vollen Sinn als Aleatorik sozialer Kämpfe auszutragen ist.

Die im Wechsel des qualifizierenden Adjektivs angezeigte Neubestimmung des Materialismus ist dann aber auch eine solche der Philosophie. Sie bleibt zwar „Kampfplatz“ der Wahrheiten und deshalb des Klassenkampfs in der Theorie, doch bilden dessen Kontrahenten Materialismus und Idealismus jetzt ein „Paar“, in dem sich viele Materialismen als bloß „umgekehrte“ Idealismen erweisen. Der Klassenkampf in der Theorie ist deshalb von nun an in jeder einzelnen Philosophie zu führen, nicht mehr als Widerspruch zweier „Blöcke“, sondern als Widerspiel einander kreuzender „Tendenzen“. In dem wird dann sogar die auf den ersten Blick widersinnige Option gangbar, nach der Badiou den aleatorischen als einen „platonischen Materialismus“ bzw. „Materialismus der Idee“ denken will.[3] Widersinnig erscheint diese Option, weil Althusser wie Hardt/Negri den aleatorischen Materialismus durch Eigennamen bestimmen, unter denen für Platon schon deshalb kein Platz zu sein scheint, weil deren einzige Übereinkunft in ihrem Antiplatonismus liegt: Epikur, Machiavelli, Spinoza, Marx, Nietzsche, Heidegger, Deleuze, Foucault, Derrida.[4]

Doch handelt es sich hier nicht um eine postmoderne Beliebigkeit im zu Recht verächtlichen Sinn des Worts. Natürlich geht es Badiou in der Berufung auf Platon nicht um den geläufigen Platonismus, und natürlich bleibt er dem Gemeinsamen aller Aleatoriken treu, nach dem es im Denken wie im Sein keine letzte Determinante und deshalb auch nicht die erste und höchste Idee geben kann, die für Platon den erstletzten Ausschlag gab. Mehr noch: Badiou dient die Berufung auf Platon dem selben Zweck wie seine Berufung ausgerechnet auf Heidegger, von dem der Platoniker Badiou auf der ersten Seite seines Hauptwerks sagt, dass er „der letzte Philosoph“ sei, „der universell anerkannt werden kann.“[5]

Der Punkt der Übereinkunft zwischen Badiou, Platon und Heidegger liegt in der von allen dreien anerkannten Pflicht, „unerschütterlich an der Hauptunterscheidung von Wissen und Wahrheit oder von Erkenntnis und Denken“ festzuhalten.[6] Heidegger brachte diese „Hauptunterscheidung“ in dem berühmt-berüchtigten Satz auf den Punkt: „Die Wissenschaft denkt nicht.“ Dass der nicht anti-wissenschaftlich gemeint war und ist, klärt unzweideutig der voranstehende Satz, in dem es heißt, dass die Wissenschaft „nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges.“[7] Knapp und natürlich nur äußerst grob gesagt führt dieser Gang zur objektiven Erkenntnis dessen, was objektiv ist, also zur Erkenntnis der innerweltlichen Tatsachen oder Begebenheiten im Wissen. Solche Tatsachenerkenntnis bewährt sich für Heidegger in der „Richtigkeit“ der sie aussprechenden Sätze, die deshalb allerdings keine „wahren Sätze“ sind und dies auch nicht sein können; Badiou variiert Heideggers Unterscheidung von „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ in der Unterscheidung von „Wahrheit“ und „Wahrheitsgemäßheit“ (veridicité).[8] Wahre Sätze sind demgegenüber allein dem Denken vorbehalten und richten sich, wiederum knapp gesagt, nicht auf Tatsachen oder Begebenheiten in der Welt, sondern auf die welterschließenden Wahrheiten der Existenz, des Seins und der Ereignisse.

Im Folgenden wird diese Übereinkunft Badious, Heideggers und Platons zum Ausgangspunkt einer Erkundung der vom aleatorischen Materialismus erschlossenen Möglichkeiten der Politik als einer Weise des Denkens. Den methodischen Anhalt dazu liefert der Umstand, dass das postmarxistische „Denken mit…“ ältester und bester marxistischer Tradition folgend immer auch ein „Denken gegen…“ ist, das Akte der Parteinahme einschließt, Züge und Gegenzüge des Klassenkampfs in der Theorie. Das schließt eine Klärung von Differenzen im aleatorischen Materialismus besonders an der Stelle ein, an der dieser sich zwar durchgängig als Ontologie versteht, den ontologischen Zirkel von Sein, Wahrheit und Subjektivität aber eben nicht gleichsinnig ins Spiel bringt. Parteilich zu sein heißt dann, an dieser Stelle Gemeinsamkeit erst herstellen zu wollen: mit und gegen Badiou, und im Interesse der fraglichen Sache selbst, d.h. des aleatorischen Materialismus.

Prozess ohne Subjekt?

Das erste Gemeinsame der beiden Generationen eines aleatorischen Materialismus ist der Versuch, ein Paradox zu lösen, das schon „im Marxschen Denken durchgängig anzutreffen ist: das Paradox, die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem ‚Prozess ohne Subjekt‘ anzuvertrauen.“[9] Die Lösung des Paradoxes ist zunächst durch eine nähere Bestimmung der in der Rede vom „Prozess ohne Subjekt“ ja bereits vorausgesetzten „Dekonstruktion“ des zuvor offenbar gegebenen Subjekts anzuzeigen. Im Blick auf die Politik ist dabei vorab ihr außerphilosophisches Reales zu erinnern, die Geschichte des Kommunismus des 20. Jahrhunderts, der dabei streng mit Marx und Engels nicht als utopischer „Zustand“ und nicht als normatives „Ideal“ zu verstehen ist, sondern als „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“[10] Tatsächlich liegt es nicht zuletzt an der Geschichte dieser Bewegung, dass die Dekonstruktion ihres Subjekts oft als Negation der revolutionären Subjektivität des Proletariats verstanden wird. Philosophisch ist dieser mächtigen doxa dann aber entgegenzuhalten, dass Dekonstruktion im Sinn ihrer Namensgeber Heidegger und Derrida wie im schlichten Wortsinn doch ein etwas komplexerer Akt ist: eben kein bloß negativer, sondern einer, der zugleich positiven Gehalts ist. Die Positivität solcher De-Konstruktion bestimmt Heidegger allgemein als die im „Wegräumen“ von „Verdeckungen und Verdunkelungen“ und im „Zerbrechen“ von „Verstellungen“ erreichte Freilegung der „ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.“ Gemeint sind damit die Bestimmungen des Seins überhaupt wie des Seins des Subjekts im Besonderen, die Heidegger dann postidealistisch im „Apriori des nur ‚tatsächlichen’ Subjekts“ entwirft, das er „Dasein“ nennt.[11]

Dieses Spiel von Negativität und Positivität im Verfahren der (nicht immer so genannten) Dekonstruktion spielen Marx und Nietzsche nicht weniger als Derrida, Deleuze/Guattari, Foucault, Rancière, Haraway, Hardt/Negri oder Žižek: sie alle negieren überkommene Subjektkonstruktionen „nur“ insoweit, als sie damit das Sein je einer anderen, dann emphatisch besetzten Subjektivität freilegen. Besonders aber gilt das für Badiou, der deshalb auch früh schon und nahezu umstandslos wieder vom Subjekt sprach.[12]

Wenn er dabei dem Heidegger von Sein und Zeit besonders nah kommt, liegt dies daran, dass beide ihr Subjekt explizit und konstitutiv in einem Zirkel verorten, den sie als solchen des Seins, der Wahrheit und der Subjektivität fassen und über einen Zirkelschlag qualifizieren, den sie je einem besonderen Ereignis zuschreiben. Außerhalb dieses Zirkels spricht Heidegger von der bloß „uneigentlichen Existenz“ seines Subjekts, des Daseins, Badiou noch einmal radikaler nur noch von „animalischem Leben“ anthropologischen Typs – ich komme auf diesen Punkt zurück.[13] Beide weisen der Philosophie deshalb ausdrücklich die Aufgabe zu, die Differenz von uneigentlichem und eigentlichem bzw. von „subjektivem“ und „animalischem“ Leben in explizit ethisch-politischer Absicht zu formalisieren: „Ich würde gerne sagen, dass (…) die Philosophie sich vornimmt, zu zeigen, dass es Formen der Existenz gibt, die kohärent und gerechtfertigt sind, und andere, die dies nicht sind. Die Frage des Universellen hat keinen anderen Sinn als zu versuchen, durch singuläre diskursive Mittel einen Formalismus der Existenz zu definieren, der derart ist, dass man im Ausgang von ihm unterscheiden kann, was ein wirklich subjektives und erfülltes Leben ist, soweit es dies sein kann, und was ein Leben ist, das in der Animalität verharrt.“[14]

Im Verhältnis von Heidegger und Badiou springen an dieser Stelle dann allerdings zwei Differenzen ins Auge, in denen ich einmal zugunsten Heideggers und einmal zugunsten Badious optiere. Die erste Differenz betrifft den Seinsbegriff selbst, den Badiou von der Mathematisierbarkeit alles Seienden her entwickelt. Wenn ich an dieser Stelle Heidegger zustimme, kann ich das trotz der Schwere dieser Entscheidung schon deshalb ohne weiteren argumentativen Aufwand tun, weil das Sein Badious auf den ersten Blick bereits und dennoch unbestreitbar aus einer nur regionalen Reduktion des Heideggerschen Seins resultiert: „ist“ ersteres ontologisch der Horizont des Denkens alles zählbaren Seienden, so „ist“ letzteres ontologisch der Horizont des Denkens alles überhaupt irgendwie Seienden, der das zählbare Seiende darum auch zwanglos einschließt.

Die zweite Differenz betrifft den Begriff des Ereignisses, den beide insofern gleichsinnig denken, als der Zirkel von Sein, Wahrheit und Subjektivität je von einem Ereignis geschlagen wird. Doch während Heidegger im Grunde nur zwei Ereignisse kennt (das der Eröffnung und das der Verwindung aller bisherigen „Seinsgeschichte“ in der Ankunft bzw. dem Tod Gottes und dem Beginn bzw. dem Ende von Ontotheologie), führt Badious Ereignisbegriff insofern weiter, als er eine Vierung von Seinsgeschichten denkbar macht, in der die Wahrheiten, Wahrheitszirkel und Wahrheitssubjekte der Kunst, des Wissens, der Liebe und der Politik zugleich getrennt und zusammengehalten werden. Wenn ich in dieser Frage Badiou folge, lässt sich das zunächst im Verweis auf die disziplinäre Aufspaltung der Philosophie begründen, in der die Vierung der Wahrheiten seit Platon ebenso grundlegend wie letztlich ungedacht ist.[15] Im zweiten Schritt erweist sich der aus der Vierung der Seins- und Wahrheitsgeschichten gewonnene Ereignisbegriff Badious dann aber nicht nur dem deutlich ärmeren Ereignisbegriff Heideggers überlegen, sondern auch den bis zur Vergleichgültigung vervielfachten Ereignisbegriffen Deleuze/Guattaris, Derridas, Foucaults oder Hardt/Negris.

Was aber ist mit all’ dem für die Lösung des Paradoxes gewonnen, „die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem ‚Prozess ohne Subjekt‘ anzuvertrauen?“ Es sind dies genau besehen zwei Punkte, wobei der erste für den Ansatz des aleatorischen Materialismus überhaupt relevant ist. Mit ihm wird gesetzt, dass und wie er sich zwar als Ontologie, doch nicht mehr als Disziplin der Erst- und Letztbegründung versteht, sondern als solche der Dekonstruktion. Dieses Selbstverständnis ist in beiden hier versammelten Generationen ausdrücklich unbestritten, ihm entspricht die in dieser Hinsicht gemeinsame Reverenz Heidegger gegenüber. Der politische Gebrauchswert, mehr noch: die politische Sprengkraft so verstandener Ontologie erschließt sich in dem Augenblick, in dem die ontologische Dekonstruktion des ersten Grundes, höchsten Seienden und letzten Zieles ihre politischen Konsequenzen ausdrücklich bejaht, und das nicht nur gegen Legitimationsdiskurse bürgerlicher Herrschaft, sondern auch gegen den dialektischen Materialismus.

Der zweite Punkt betrifft die Folgen, die sich aus dieser polit-ontologischen An-archie für ihr Subjekt ergeben, das dann ja ebenfalls notwendig polit-ontologisches Subjekt ist. Hier ist entscheidend, dass das postmarxistisch de- und also rekonstruierte Subjekt nicht mehr das autonome Subjekt des Idealismus wie des dialektischen Materialismus, sondern ein „responsorisches“ Subjekt ist, das sein Sein gleichursprünglich einem Ereignis wie seiner Antwort auf dieses Ereignis verdankt. Unterstellt die idealistisch wie dialektisch-materialistisch gedachte Subjektautonomie die „Selbst-Setzung“ ihrer Subjektivität, ist das im aleatorischen Materialismus gedachte responsorische Subjekt in der Formel vom „Sich-als-Gesetztsein-Setzen“ zu fassen, die sich so nicht aus der Verleugnung, sondern „aus dem radikalen Zuendedenken des autonomistischen Begriffs der Subjektivität“ ergibt und ihre klassische Bestimmung im Existenzial des „geworfenen Entwurfs“ gefunden hat.[16] Anlass genug, den Zirkel des Seins, der Wahrheit und der Subjektivität dort aufzuschließen, wo seine Brisanz auch zu bewähren bleibt: in der Politik.

Der Zirkel der Politik

Will man Badious Begriff des Wahrheitssubjekts angemessen verstehen, ist zunächst festzuhalten, dass dieses Subjekt nicht notwendig ein auf sich vereinzeltes Selbst ist. Am deutlichsten ist das im Wahrheitszirkel der Politik, denn diese wird, so Badiou, von den „Massen“ und ihrer „Partei“ gemacht: ein Sachverhalt, den die politische Ontologie in dem Satz fasst, nach dem „die zentrale Aktivität der Politik die Versammlung“ und die ihr zugehörige Wahrheit die ontologisch (welterschließend), nicht ontisch (innerweltlich) verstandene Gleichheit aller ist, die Badiou auch schlicht Gerechtigkeit nennt.[17]

Im zweiten Schritt orientiert sich Badiou dann an Marx, Lenin und Mao Zedong als den wesentlichen Denkern der Massen und der Partei. In der Metapolitik referiert er die dazu gängigen Einwände, nach denen die Massen entweder eine bloße Fiktion von Intellektuellen oder ein homogenisierter Block, wenn nicht gar ein manipulierter Mob sind und die Partei nichts als ein System der Repräsentation sei, das aus einer Mixtur von Autoritarismus, Cliquenherrschaft und Askese erwachse, um sich bei passender Gelegenheit des Staates und so des gesellschaftlichen Reichtums zu bemächtigen. Gemeinsamer Nenner dieser Massen und dieser Partei sei die „Eins“ als Zeichen einer „ursprünglichen, einheitsstiftenden Bindung“, von der gebunden das Paar Masse/Partei „zwischen der Barbarei des reinen Realen und dem grandiosen Schwindel des Imaginären oszilliere.“[18]

Die Dekonstruktion dieser ontisch ja nicht ungedeckten Einwände leitet er dann vermittels des analog der Heideggerschen „Seinsvergessenheit“ gebildeten Begriffs der „Politikvergessenheit“ ein, deren aktuell prominenteste Form er im Liberalismus ausmacht. Dabei stimmt Badiou der liberalen Kritik zunächst insoweit zu, als auch er das „große Rätsel“ der Politik in dem Umstand ausmacht, dass „der Gewinn der heroischsten Volkserhebungen, der hartnäckigsten Befreiungskriege, der fraglosesten Mobilisierungen im Namen von Gerechtigkeit und Freiheit nur in undurchsichtigen etatistischen Konstruktionen“ bestand, „in denen von dem, was ihrer historischen Genese einst Sinn und Möglichkeit verlieh, nichts mehr zu lesen ist.“ Gegen den Liberalismus und in Ausführung des methodischen Vorwurfs liberaler Politikvergessenheit insistiert er dann allerdings darauf, dass das Rätsel der Politik nur zu lösen ist, wenn man an der „Hypothese“ festhält, dass es Politik emphatischen Sinns überhaupt gegeben hat, jetzt noch gibt und weiter geben wird.[19] Dazu dürfen die den emphatischen Begriff der Politik erfüllenden Prozeduren der Gleichheit und der Gerechtigkeit nicht als etwas „Objektives“ verstanden – mit Heidegger gesprochen: nicht mit einem Seienden verwechselt, sondern müssen in ihrem Sein gedacht werden. Geschieht dies, dann geht es bei der von der Politik ebenso vorausgesetzten wie allererst ins Sein gebrachten Gleichheit eben „nicht um die Gleichheit der Rechtsstellung, Einkommen oder Funktionen, und noch weniger um die angenommene egalitäre Dynamik der Verträge oder der Reformen.“ Stattdessen muss sie als „eine politische Maxime, eine Präskription“ verstanden, d.h. je schon befolgt werden. Dass Badiou die Begriffe der Maxime und der Präskription nicht „normativ“, sondern als Anzeige einer „wirklichen Bewegung“ Marx’schen Sinnes versteht, verdeutlicht er in der Bestimmung, nach der Gleichheit nicht etwas ist, das man bloß „will oder projektiert“, sondern „das, was man im Feuer des Ereignisses hier und jetzt deklariert als das, was ist, nicht als das, was sein soll.“ Eben deshalb können Gleichheit und Gerechtigkeit „kein Programm des Staats sein“: „Gerechtigkeit ist die Qualifikation einer egalitären Politik in actu. (…) Infolgedessen ist man in der Gerechtigkeit, oder man ist es nicht.“[20]

Hält man diese spezifische Bestimmung fest, kann die Gleichheitspräskription jedenfalls zunächst nur als ein Zirkel und aus diesem Zirkel heraus verstanden werden: sie „ist“ nur in ihrer wesentlich praktischen subjektiven Bejahung, die eine solche selbst wieder nur „sein“ kann, wenn Politik, d.h. wenn Gleichheit und Gerechtigkeit je schon zur Präskription geworden sind und als solche bejaht wurden. Wer diese Zirkularität formallogisch zum Einwand in der Sache nimmt, sei an die lakonische Antwort verwiesen, mit der Heidegger solchen Vorbehalten bereits in Sein und Zeit entgegengetreten ist: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“[21]

Die nähere Bestimmung so verstandener Politik gewinnt Badiou dann konsequent in einer ebenso knappen wie dichten Phänomenologie „egalitärer Politik in actu“, die er von den Jakobinern über die Kommunistische Partei des Jahres 1848 bis zu den Bolschewiki und schließlich den Rotgardisten der Kulturrevolution spannt. Anhalt in der Sache ist dabei die Einsicht, dass Masse und Partei dort gerade nicht unter dem Zeichen der „Eins“ als dem Zeichen einer „ursprünglichen, einheitsstiftenden Bindung“ stehen, sondern sich umgekehrt durch ihre Loslösung aus solcher Bindung auszeichnen und derart zu einem „Signifikanten der äußersten Partikularität, der Nichtbindung“ geworden sind.[22] Und tatsächlich: die Partei, deren Manifest Marx 1848 schreibt, wird von ihm schon definitorisch nicht als homogener Block entworfen, sondern als offener Prozess der Kommunikation zwischen den radikalsten, weil im Wortsinn rückhaltlos ent-bundenen Elementen der gesamten Klassenbewegung: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien.“[23] Erste Bestimmung dieser Partei in und jenseits der besonderen Arbeiterparteien ist deshalb auch nicht ihre Geschlossenheit, sondern ihre „Porosität zum Ereignis“, die ihr im gelingenden Fall „eine nicht fixierbare Omnipräsenz“ verleiht, „deren eigentliche Funktion weniger ist, die Klasse zu repräsentieren“ als sie „zu entgrenzen“. Die selbe Logik findet Badiou bei den Bolschewiki und in Lenins Verhältnis zur Partei der Bolschewiki: weit entfernt, durch die „eiserne Disziplin“ ihrer „Berufsrevolutionäre“ bestimmt zu werden, ist „die Partei Lenins, die Partei von 1917, nicht nur eine disparate Partei voller öffentlich ausgetragener Meinungsverschiedenheiten“, sondern für Lenin selbst in dem Augenblick nur Gegenstand wüster Schmähungen, „als diese, die Bindung über das Risiko stellend, vor der fälligen Insurrektion zurückschreckte.“[24] Den bis heute radikalsten Schritt vollziehen dann die Roten Garden der Kulturrevolution, sofern sie in ihrer Revolte gegen die in den Staat inkorporierte Partei „die Grenzen des Leninismus“ erproben und derart den Ausgangspunkt der nächsten, noch ausstehenden Sequenz einer Wahrheitspolitik markieren: „eines Beginns, von dem sie nur Seite der reinen Negation erforscht haben, so sehr war ihre Wut noch in dem befangen, wogegen sie sich erhoben.“[25]

Badious Bestimmung kommunistischer Massen- und Parteipolitik als einer in praxi vollzogenen Präskription der Gleichheit und Gerechtigkeit, die sich ihrer Subjektivität im „Feuer des Ereignisses“ auferlegt und von ihr augenblicklich bejaht und bezeugt wird, kreuzt sich im Feld des aleatorischen Materialismus dann aber ausgerechnet mit dem Diskurs, der dort in Tonfall und Temperament zunächst als der seines Antipoden wahrgenommen wird: mit dem Derridas. Tatsächlich denkt auch Derrida die Politik aus einem Zirkel heraus, in dem ihr Sein, ihre Wahrheit und ihre Subjektivität so aufeinander verweisen, dass die Gerechtigkeit als Sein und Wahrheit der Politik in actu mit dem Zeugnis zusammenfällt, in dem ein politisches Subjekt seine je schon praktisch gewordene Treue zur und seinen je schon praktisch gewordenen Glauben an die Gerechtigkeit bejaht. Dabei geht Derrida so weit, die jedem positiven Recht vorausgehende und jedes positive Recht überschreitende Gerechtigkeit mit der Dekonstruktion selbst zu verknüpfen: „Diese Gerechtigkeit, die kein Recht ist, ist die Bewegung der Dekonstruktion: sie ist im Recht und in der Geschichte des Rechts am Werk, in der politischen Geschichte und in der Geschichte überhaupt, bevor sie sich als jener Diskurs präsentiert, den man in der Akademie, in der modernen Kultur als ‚Dekonstruktivismus’ betitelt.“[26] Natürlich ist die Rede von der Gerechtigkeit als der vorphilosophischen „Bewegung der Dekonstruktion“ wie Badious Rede von der Gerechtigkeit als der „Qualifikation einer egalitären Politik in actu“ ein Echo der Marx-Engels’schen Rede vom Kommunismus als einer „wirklichen Bewegung“: alle drei Formulierungen widersprechen so der Bestimmung von Gerechtigkeit und Gleichheit als herzustellendem Zustand (Utopie) und zu befolgendem Ideal (Normativität) ebenso wie ihrer liberalen Herabstufung zur Qualifikation positiven Rechts.

In scheinbarem Widerspruch zu Badious definitiver Trennung der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit von der „Gleichheit der Rechtsstellung, Einkommen oder Funktionen“ und der „egalitären Dynamik der Verträge oder der Reformen“ weist Derrida dann aber ausdrücklich darauf hin, dass die Gerechtigkeit in actu gleichwohl nicht ohne dieses Recht gedacht werden kann: sie ist zwar ein Überschuss über jedes Recht, hat aber insoweit im gegebenen Recht selbst ihren Ort, als sie es je in actu auf ein neues Recht anweist. Dass dieser Widerspruch nur ein scheinbarer ist, klärt sich dort, wo Derrida den politischen Akt, in dem sich die Gerechtigkeit dem positiven Recht durch Anweisung auf ein neues Recht einschreibt, als eine „Politisierung des Rechts“[27] bezeichnet: eine Formel, die sich dann aber eben nicht nur formell, sondern eben auch der Sache nach mit der Formel von der „Präskription des Staates“ trifft, in der Badiou den Präskriptionscharakter der Politik nicht nur auf ihre eigene Subjektivität, sondern auch auf den Staat bezieht. Dabei konkretisiert Badiou die gleichsam „realpolitische“ Leistung der in actu vollzogenen Gerechtigkeit im Verweis auf das Faktum, dass die in der ereignisoffenen Versammlung der Massen wie der ereignisoffenen Hochspannung ihrer Partei aktualisierte Gleichheit und Gerechtigkeit allererst den „Abstand“ zum Staat schafft, aus dem heraus dieser dann einem je historisch spezifischen „Maß“ unterstellt werden kann: „Die auf ein Ereignis folgende Fixierung eines Maßes der Staatsmacht wollen wir eine politische Präskription nennen.“[28]

Erscheint die eingangs aufgerufene Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert von ihrem Ende her als Abbruch gleich mehrerer Prozesse der Politisierung des Rechts bzw. der Präskription des Staates, kann dem dann aber schon deshalb kein finales Urteil über die Wahrheit des je verfolgten Einsatzes entnommen werden, weil im Auf- und Abbruch „wirklicher Bewegungen“ die Geschichtlichkeit von Ereignissen und je singulärer „Modi“ oder „Sequenzen“ des Politischen, nicht die teleologisch gerichtete Geschichte eines universalen Subjekts Hegelschen Zuschnitts zu denken bleibt, d.h. eben nach wie vor ein Prozess, besser: in sich singuläre Prozesse ohne ein solches Subjekt. Unter Rückgriff auf eine Formulierung Sylvain Lazarus’ geht Badiou deshalb noch einen Schritt weiter und spricht Politiken emphatischen Sinns generell von Zuschreibungen möglichen „Scheiterns“ frei: „Die Politik ist prekär, der Modus setzt ein und hört auf, ohne dass das Aufhören ein Maß für den Modus gäbe und ohne dass jemals von Scheitern zu sprechen Anlass bestünde. (…) Dass eine Politik aufhört, identifiziert sie nicht. Im Gegenteil muss notwendig gedacht werden, dass jede Politik aufhört. Das Aufhören ist dann keine Probe auf die Wahrheit mehr, sondern das, was am Ende der Sequenz eintritt und die Idee der Sequenz konstituiert.“[29] Gehört zu den Effekten, die das so verstandene Aufhören singulärer Sequenzen der Politisierung des Rechts bzw. der Präskription des Staates dennoch zeitigt, genau die Politikvergessenheit, mit der „Politik“ auf die bloße Verwaltung gebundener Gesellschaften durch das Recht und den Staat reduziert wird, ist solcher Politikvergessenheit entgegenzuhalten, dass die je am Beginn solcher Sequenzen stehenden Ereignisse welterschließende Akte und folglich keine innerweltlichen Tatsachen oder Begebenheiten des Wissens bzw. der Erkenntnis, sondern „Sachen des Denkens“ (Heidegger) sind. Zur Prekarität ihres Seins gehört dann, dass die Stiftungsereignisse einer politischen Sequenz ihren Subjekten nie unmittelbar präsent, sondern immer nur in der Weise des Entschwindens bzw. des Kommens gegeben sind – mit der Folge, dass die Antworten der Subjekte auf „ihr“ Ereignis zu keiner Zeit „objektiv“ gedeckt sein können, folglich stets nur Deutungen und damit immer auch solche Deutungen sind, die – nochmals Heidegger – in die „Irre“ gehen können. Die Möglichkeit solcher Irre darf dann aber nicht als ein Ungenügen, sondern muss als eigentliche Herausforderung der Freiheit ihrer deshalb ja responsorischen und nicht autonomen Subjektivität verstanden werden. Badiou und Derrida stimmen deshalb auch darin überein, dass die Möglichkeit der Irre von der Nötigung zur freien Antwort nicht befreit und deshalb auch nie zum Anlass liberaler Mäßigung werden darf – eine Bejahung der Freiheit, die Derrida in der Präskription auf den Punkt bringt: „Man muss der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein.“[30]

Wenn Badiou und Derrida die subjektive Bejahung der ereignishaften Ent-Bindung aus der innerweltlichen Ordnung der Dinge in die Freiheit des Antwortens und folglich der Verantwortung als ein Verhältnis des Glaubens an das bzw. der Treue zum Ereignis definieren, tun sie dies aus jeweils entgegengesetzter Perspektive: gelten Badiou Treue und Glaube je einem gewesenen, bezieht sich Derrida umgekehrt stets auf ein kommendes Ereignis.[31] Mein Vorschlag, beide Weisen des Glaubens wie der Treue zusammenzunehmen, verdankt sich dann nicht nur der Evidenz der Sache selbst, sondern auch der Evidenz, das allein so das in Treue und Glauben vollzogene Sich-als-Gesetztsein-Setzen des Wahrheitssubjekts voll bestimmt wird. Dieses selbst wäre dann mit Lacan aus der „Extimität“ (Externität/Intimität, TS) des Ereignisses zu denken: das Sein des Subjekts in seinem Innersten und von dort her konstituierend und derart in diesem Innen situiert, bleibt das Ereignis ihm gerade dadurch das äußerste Außen und darin der „mystische Grund der Autorität“ der eigenen Freiheit.[32]

Massen, Minoritäten, Multituden und Cyborgs

Wenn die folgenden Ausführungen nur eine Zwischenbemerkung darstellen, hängt dies daran, dass sie eine Auseinandersetzung nur anreißen, die andernorts noch zu führen bleibt. Deren wichtigste Position wird von Hardt/Negri markiert, ihr sind dann, was an dieser Stelle mein Einsatz ist, die Positionen von Derrida, Deleuze/Guattari, Foucault und Haraway ebenso zu integrieren wie die Badious. Ein Grund dafür liegt darin, dass Badiou tatsächlich nur insoweit von den Massen spricht, als er sich gegen die liberale Reduktion von Massenpolitik auf einen staatsparteilich homogenisierten Block wendet. Ihr setzt Badiou seinen Begriff der Massen als einer Figuration der Ent-Bindung und darin der Subjektivität antistaatlicher, zumindest aber staatsferner Sequenzen der Politik entgegen – einen Punkt, in dem alle genannten Aleatoriken übereinkommen. Zuerst gesetzt haben ihn Deleuze/Guattari und ihnen folgend Foucault, für die sich Politik immer in „Minoritäten“ subjektiviert. Diesen Begriff missversteht, wer ihn als Quantitätsbestimmung deutet: eine Minderheit ist nicht zahlenmäßig zu verstehen, sondern als eine Bewegung qualitativen „Minder-Werdens“, die einer ebenso qualitativ konstituierten Majorität „entflieht“. Die Basisdefinition der Mehrheit liegt in einer „Konstante“, die Deleuze in der Formel „Mensch-weiß-westlich-männlich-erwachsen-vernünftig-heterosexuell-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache“ fasst: „Offensichtlich hat der ‚Mensch’ die Mehrheit, auch wenn er weniger zahlreich ist als die Moskitos, Kinder, Frauen, Schwarzen, Bauern, Homosexuellen etc. (…) Die Mehrheit setzt ein Rechts- und Herrschaftsverhältnis voraus und nicht umgekehrt. Sie setzt das Standardmaß voraus und nicht umgekehrt.“ Im letzten Satz liegt der politische Einsatz Deleuze/Guattaris wie Foucaults: wird jede Mehrheit vom Staat und vom Recht konstituiert, konstituiert sich eine Minderheit in dem Maß, in dem sie zu Staat und Recht Abstand gewinnt und sich damit – da hätten sie Badiou und Derrida nicht widersprochen – die Möglichkeit einräumt, den Staat unter eine Präskription zu stellen bzw. das Recht zu politisieren. Da sich Minderheiten dann aber immer wieder in Angeboten staatlicher oder rechtlicher „Anerkennung“ verfangen, erweitern Deleuze/Guattari das Doppel Mehrheit/Minderheit vermittels des Begriffs des Minder-Werdens zu einem Dreieck, in dem sich Mehrheit und Minderheit zueinander verhalten wie ein System zu seinen Sub-Systemen, während das Minder-Werden genau besehen aus beiden flieht: „Das Problem kann nie darin bestehen, die Mehrheit zu erlangen, selbst wenn man dabei eine neue Konstante einführen sollte. Es gibt kein mehrheitliches Werden, Mehrheit ist niemals ein Werden. Die Frauen sind, wie viele sie auch immer sein mögen, eine Minderheit, die man als Zustand oder Untermenge definieren kann; aber sie sind nur insoweit schöpferisch, als sie ein Werden ermöglichen, über das sie nicht wie über ein Eigentum verfügen, ein Werden, in das sie selbst eintreten müssen, ein Frau-Werden, das den ganzen Menschen affiziert, Nicht-Frauen einbegriffen.“ [33] Während Foucault diesen Entwurf an den Politiken der Post-68er Neuen Linken und Neuen Sozialen Bewegungen konkretisiert hat,[34] halten Deleuze/Guattari seinen Zusammenhang zu Politiken des Klassenkampfs zumindest definitorisch fest, indem sie ausdrücklich darauf verweisen, dass „die Macht der Minderheit“ ihr „Vorbild und universelles Bewusstsein im Proletarier“ hat.[35]

Der doch sehr zeitbedingte Primat der Neuen Sozialen Bewegungen und die bloß definitorische Anbindung des Minder-Werdens an den Klassenkampf gab dann Hardt/Negri das Problem vor, das sie mit ihrem Entwurf einer Politik der „Multituden“ zu lösen suchen. Tatsächlich führen erst Hardt/Negri aus, was Deleuze/Guattari nur festhalten: dass die Macht des Minder-Werdens im Kampf um die Produktion und Produktionsmittel des gesellschaftlichen Reichtums ihre wesentliche Probe findet. Dabei ent-orten Hardt/Negri den tradierten Klassenkampfbegriff und weiten ihn von der Fabrik auf überhaupt alle gesellschaftlichen Verhältnisse aus: eine Einsicht, die sie maßgeblich dem Feminismus verdanken.

Wer aber sind, wo und wann gibt es Multituden? Im Schritt über Deleuze/Guattari und Foucault wie über Derrida und Badiou hinaus bezeichnen Hardt/Negri diesen wörtlich mit „Menge“ oder „Masse“ zu übersetzenden Begriff einerseits als „Klassenbegriff“, der so heißt, weil er nur in politökonomischer Untersuchung zureichend bestimmt werden kann.[36] Wenn sie ihn andererseits mit Deleuze/Guattari, Foucault, Derrida und Badiou von den bürgerlichen Begriffen des Volkes bzw. der Nation ebenso ausdrücklich abtrennen wie vom traditionsmarxistischen Doppel der Klasse entweder als eines Universalsubjekts oder einer soziologischen Kategorie, schreiben sie zwar deren Kritik an Subjektkonstruktionen in Referenz staatlich und rechtlich fixierter Souveränität fort, bestehen aber auch in dieser Hinsicht auf der konkreten politökonomischen Bestimmung. Dabei folgen sie Deleuze/Guattari und Foucault auch in der Dekonstruktion des Begriffs des Individuums und denken die Generation von Multitudensubjektivitäten als eine „Singularisierung“, die auch und gerade der Identifikation in einem In-Dividuum entflieht. Multituden bzw. Singularitäten sind dann als an politökonomische Bedingungen gebundene Möglichkeiten proletarischer wie postproletarischer Subjektivierungen zu denken, die in Klassenkämpfen von dieser Bedingtheit freigesetzt werden.[37]

Vergleicht man den so verstandenen Massenbegriff Hardt/Negris insbesondere mit dem Badious, ergibt sich eine Ambivalenz, die von beiden Seiten aus zu bearbeiten wäre. So haben Hardt/Negri die Generation von Multituden in welterschließenden Ereignissen bisher entweder nur in sehr allgemeiner Weise oder umgekehrt in der sehr konkreten, doch kaum begrifflich reflektierten Form zeitdiagnostischer politischer Interviews ausgeführt.[38] Andererseits erscheinen Badious sehr viel bestimmter über solche Ereignisse gedachten Massen insofern deutlich ärmer als die Multituden Hardt/Negris, als er sie nur beiläufig aus ihrem Bezug zur „biopolitischen“ Entgrenzung des Kapitalismus auf alle gesellschaftlichen Verhältnisse und damit das Ganze des Lebens denkt – eine Verarmung im Begriff, die Negri gesprächsweise auf den Vorwurf zuspitzt, Badiou betreibe einen „Materialismus ohne Materie.“

Zu verdeutlichen ist die biopolitische Entgrenzung des Kapitals mit Donna Haraway, die im Begriff des „Cyborgs“ eine spezifisch biopolitische Subjektivierungsweise analysiert, in der sich die ontologischen Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Maschine verwischen und alle Politik derart unter ihr historisch bisher weitgespanntestes Entweder-Oder stellen: „Aus einer Perspektive könnte das Cyborguniversum dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzwingen, die endgültige Abstraktion, verkörpert in der Apokalypse des im Namen der Verteidigung geführten Kriegs der Sterne, die restlose Aneignung der Körper der Frauen in einer männlichen Orgie des Kriegs. Aus einer anderen Perspektive könnte die Cyborgwelt gelebte soziale und körperliche Wirklichkeiten bedeuten, in der niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu Tieren und Maschinen zu fürchten braucht und niemand mehr vor dauerhaft partiellen Identitäten und widersprüchlichen Positionen zurückschrecken muss.“ Vor diesem Entweder-Oder geht es Haraway wie auch Hardt/Negri darum, Politik immer auch als einen „anthropologischen Exodus“ zu denken, in dem die Multituden und ihre Singularitäten ein postanthropologisches Sein hervorbringen können.[39] Es ist diese Option, die bei Badiou fehlt, obwohl er sie dringend aufgreifen müsste, um seine an Nietzsche, Heidegger und Foucault anschließende Kritik des Humanismus politisch konkretisieren zu können.[40] Suchte man den Ansatzpunkt dazu, wäre der systematisch erst im zweiten Hauptwerk Logiken der Welten eingeführte, bisher aber eher kultur- und philosophiekritisch verwendete Begriff des „demokratischen Materialismus“ auch politökonomisch zu entfalten.[41]

Die Bedeutung dieser am deutlichsten zwischen Hardt/Negri und Badiou aufzuweisenden Ambivalenz lässt sich dann aber abschließend durch einen neuerlichen Gegenzug diesmal auch in Richtung Deleuze/Guattaris, Foucaults und Haraways unterstreichen, die ihre Politiken wie Hardt/Negri ohne Bezug auf die „Metapolitik“ der Gleichheit und Gerechtigkeit formulieren, die umgekehrt den Einsatz Badious und Derridas bildet. Am greifbarsten wird diese Schwäche im vitalistischen Historismus Foucaults, der immer dann in die Nähe eines nur noch liberalen Politikverständnisses gerät, wenn er sich im Auf und Ab der Metamorphosen des Lebens nur noch an einem „Hyper- und pessimistischen Aktivismus“ orientieren will. In dem geht es der gleichwohl ausdrücklich eingeforderten „ethisch-politische Wahl“ nicht mehr um einen emphatisch verstandenen und deshalb auch durch „gut“ und „böse“ zu qualifizierenden Unterschied, sondern allein um die notwendig defensive Bestimmung dessen, was jeweils heute „die Hauptgefahr“ birgt.[42]

Endlichkeit und Unsterblichkeit

Tatsächlich kann sich Badiou dieser bloß noch defensiven Position gerade deshalb entziehen, weil er sich nicht nur vom Vitalismus Foucaults, sondern auch von den optimistischer gefärbten Vitalismen Deleuze/Guattaris, Hardt/Negris und Haraways und zuvor schon von denen Spinozas, Marx’ und Nietzsches trennt, um sich genau an dieser Stelle auf Platon zu beziehen. „Materialistisch“ kann seine Hinwendung zu Platon dabei insofern genannt werden, als ihm das Gute kein ontotheologisch Höchstes, sondern eine immanent-ontologische Bestimmung je eines Zirkels von Sein, Wahrheit und Subjektivität ist: „Gut“ ist, was die Verweisung von Subjekt und Wahrheit aufeinander verstetigt und derart die Macht ihres Zirkels bejaht (Treue und Glauben), „böse“ ist, was sie untergräbt oder gegen sich selbst kehrt (Verrat, Hybris und Verfall an das Trugbild eines Ereignisses).[43] In der platonischen Beschränkung der Ethik auf das Verhältnis des Subjekts zu der von ihm bezeugten Wahrheit kommt Badious eingangs angesprochener „Formalismus der Existenz“ auf den Punkt, der die radikale Diskontinuität eines „subjektiven“ (wahrheitsbezogenen) und eines „animalischen“ (auf a-subjektive Leidenschaften des „bloßen Sexes“ bezogenes) Lebens unterstellt und deshalb nur dort von Subjekten spricht, wo mit einem Ereignis ein Zirkel der Wahrheit, des Seins und der Subjektivität geschlagen und zu einer Wahrheitsprozedur der Kunst, der Wissenschaft, der Liebe oder Politik entfaltet wurde. Jenseits solcher Prozeduren kennt Badiou nur lebendige, d.h. sterbliche Wesen, von denen die äußerst seltenen Subjektwesen deshalb auch dadurch geschieden sind, dass sie als Träger/innen je einer „ewigen“ Wahrheit selbst „unsterblich“ sind.[44]

Wenn Slavoj Žižek, ansonsten Badious engster Mitstreiter im aleatorischen Materialismus, hier den entscheidenden Schritt weiter gehen konnte, liegt dies daran, dass er Badious Dualismus von „Animalität“ und Subjektivität als nur abstrakte Verkehrung des ansonsten zu Recht abgewiesenen Vitalismus kritisiert. Sein derart zugleich gegen Badiou wie gegen Deleuze/Guattari, Foucault, Hardt/Negri und Haraway gerichtetes Argument hat Žižek dabei unter Rückgriff auf die psychoanalytische Freilegung des „Todestriebs“, die existenzialanalytische Freilegung des „Seins zum Tode“ und die kantische „Analytik der Endlichkeit“ (Foucault) gewonnen, in der die Schließung des Seins zu einer durchgängig bestimmten positiven Ordnung zum ersten Mal ausdrücklich unter Berufung gerade auf diese Endlichkeit bestritten wurde. Gewonnen hat er dabei ein Subjekt, das seinen ontologischen Ort zwar postidealistisch „im Leben“ hat, auf dieses Leben aber eben deshalb nicht reduziert werden kann, weil es sich in und aus seiner Lebendigkeit und also Sterblichkeit als „die negative Geste des Ausbruchs aus den Zwängen des Seins“ bestimmt, „die erst den Raum für eine mögliche Subjektivierung eröffnet.“[45] Dies gelingt ihm, weil er den unverstellten Vollzug der „Grenzerfahrung“ des Seins zum Tode als einen Akt der Konversion denkt, in der sich der Todestrieb in die Sublimierungsleistungen verkehrt, die sich sequenziell je in der Treue zu einer Wahrheit der Kunst, des Wissens, der Liebe oder der Politik aktualisieren. So kann Žižek den Dualismus, in dem Badiou die Unsterblichkeit des Wahrheitssubjekts gewaltsam von der Endlichkeit des Lebewesens abtrennt, als „Regression auf ein ‚Nicht-Gedachtes’“ dekonstruieren, das er dann im „Thema der menschlichen Endlichkeit“ freilegt, „vom heideggerianischen ‚Sein-zum-Tode’ bis zum freudianischen ‚Todestrieb’.“[46] Zum entscheidenden Punkt der Dekonstruktion wird ihm dabei die Einsicht, dass Badious abstrakte Unterscheidung „zwischen der Sterblichkeit (eines endlichen Wesens, das zum Zugrundegehen bestimmt ist) und dem Vermögen, an der Ewigkeit eines Wahrheits-Ereignisses zu partizipieren“, das subjektive Sein des Menschen verfehlt, da wir es in beidem, im Sein zum Tode und in der Teilhabe an ewiger Wahrheit, „mit einem endlichen/sterblichen Wesen zu tun haben“: einem endlichen Subjekt, das die sequenzielle Subjektivierung von ewigen Wahrheiten erst ermöglicht und folglich gerade und nur als Lebewesen mehr als ein Lebewesen ist bzw. sein kann.[47] Im selben Zug kann Žižek dann aber auch die vitalistischen Ontologien Deleuze/Guattaris, Hardt/Negris und Haraways dekonstruieren, in denen die menschlichen Lebewesen und ihr „mehr als ein Lebewesen“ ohne ausdrücklichen Durchgang durch den im Todestrieb ausagierten „äußersten Rand menschlicher Erfahrung“ und die in ihm erlittene „radikale subjektive Destitution“ zusammengebracht werden sollen.[48]

Politisch relevant wird Žižeks eigener Punkt in dem Scheitern sowohl Badious als auch Hardt/Negris, in der Figur der „Militanten“ ein dann doch im wörtlichen Sinn auf sich vereinzeltes Subjekt der Politik zu bestimmen.[49] Denn obwohl beide das Subjekt der Politik zunächst in der Subjektivität der Massen bzw. Multituden ausmachen, stoßen sie aus ihrer politischen Erfahrung selbst auf das Problem einer im äußersten Fall sogar einsamen Subjektivität des Politischen. Zeigen Hardt/Negri die Prominenz dieses Schritts schon dadurch an, dass sie der Subjektivität der Militanten das Schlusskapitel von Empire widmen, zeigt er sich bei Badiou nicht zufällig in der Auseinandersetzung mit dem früheren Weggefährten Jacques Rancière. Ihm wirft er vor, sein Denken der Politik „tendenziell“ auf die Konfrontation „phantomartiger Massen mit einem unbenannten Staat“ zu reduzieren und dabei zu überspringen, dass in der „realen Situation“ der Gegenwart „ein paar wenige Militante der ‚demokratischen’ Hegemonie des parlamentarischen Staats gegenüberstehen.“ Diese auf sich vereinzelten „Wenigen“ sind in hervorgehobenem Sinn Subjektivität des Politischen, weil sie sich nicht nur durch die massenhafte Teilnahme an der Unmittelbarkeit des Ereigniseinbruchs, sondern noch und besonders in der Treue zum gewesenen wie zum kommenden, darin aber abwesenden Ereignis auszeichnen und insofern eben Militante im Unterschied zum bloßen Aufständischen sind. Definitorisch unterstreicht Badiou: „Die zentrale subjektive Figur der Politik ist der politische Kämpfer.“[50]

Während Hardt/Negris Entwurf der Militanz über einen Lyrismus vitaler Kreativität kaum hinauskommt, zeichnet sich Badious Militante in der Folge seiner abstrakten Fest-Stellung der Differenz von „animalischem“ und „subjektivem“ Leben nur durch die Forcierung der Gewalt aus, in der sie sich von dem Lebewesen abspaltet, dem sie zugehört. Dieser Reduktion entspricht die Unklarheit, in der Badiou die Frage belässt, wie ausgerechnet ein derart von seinem Dasein abstrahiertes Subjekt die Beweglichkeit gewinnen soll, die Wahrheit des Ereignisses stets aufs Neue, d.h. in stets neuer Art und Weise zu erproben. Vitalismus und Antivitalismus entgegen führt Žižek die Figur der Militanten auf das lebendige Sein zum Tode zurück, in dem eine Subjektivität auf sich und das ihr Mögliche verwiesen wird: „Es kommt also nicht darauf an“, schreibt Žižek mit und gegen Badiou, „den spezifisch menschlichen Modus der ‚Unsterblichkeit’ zu leugnen (die Teilnahme an einem Wahrheits-Ereignis, das eine Dimension aufrechterhält, die nicht auf die beschränkte, positive Seinsordnung reduziert werden kann), sondern im Gedächtnis zu behalten, inwieweit diese ‚Unsterblichkeit’ auf dem spezifischen Modus menschlicher Sterblichkeit beruht.“[51] Dieser aber zeichnet sich durch eine ganz eigene Wahrheit aus, die den Wahrheiten der Politik ebenso vorausgeht wie denen der Kunst, der Wissenschaft und der Liebe. Heidegger hat sie als die „Wahrheit des Seins“ bezeichnet, die in ihrer Subjektivierung zur „Wahrheit der Existenz“ werden kann. Auf diese Wahrheit wäre ein „Formalismus der Existenz“ zu gründen, der den Unterschied zwischen einem Lebewesen und seinem „mehr als ein Lebewesen“ weder abstrakt fest-stellt noch in bloße Metamorphosen eines élan vital vergleichgültigt.[52]

Was wäre mit einem solchen Formalismus für die Aleatorik der Wahrheiten und die Frage gewonnen, „zu welchem Ende“ sie praktiziert wird? Nicht weniger als der „reale Punkt“, von dem aus das Verhältnis neu zu denken und dann auch zu verwandeln ist, in dem die Militanten der jetzt freizusetzenden politischen Sequenz sich auf die Kritik der biopolitischen Ökonomie verpflichten, d.h. auf den aktuellen Modus der Gleichheit und der Gerechtigkeit.[53]

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[1] Althusser (1968), S. 207 bzw. (1994a), S. 582. Vgl. auch Negri (1996).

[2] Althusser (1995), S. 9ff.

[3] Althusser (1968), S. 207 bzw. (1994b), 49ff. und Badiou (2010a), S. 54; zuvor Badiou (1997), S. 19ff.

[4] Althusser (1994b) a.a.O. und Hardt/ Negri (1997), S. 17.

[5] Badiou (2005), S. 15.

[6] Badiou (1997), S. 70.

[7] Heidegger (1984a), S. 4.

[8] Heidegger (1978), S. 177-203. Zur Bestimmung der „Wahrheitsgemäßheit“ in nuce Badiou (1997), S. 22.

[9] Hardt/Negri (1997), S. 23.

[10] Marx/Engels (1969), S. 35f.

[11] Zur De(kon)struktion vgl. Martin Heidegger (1984b), S. 19ff. und S. 129 sowie systematisch in der Programmschrift Anzeige der hermeneutischen Situation, in der es in bündiger Vorwegnahme der späteren Subjekthermeneutik Foucaults definitorisch heißt: „Die Philosophie der heutigen Zeit bewegt sich bei der Ansetzung der Idee des Menschen, der Lebensideale, der Seinsvorstellungen vom menschlichen Leben in Ausläufern von Grunderfahrungen, die die griechische Ethik und vor allem die christliche Idee des Menschen und des menschlichen Daseins gezeitigt haben. Auch antigriechische und antichristliche Tendenzen halten sich grundsätzlich in denselben Blickrichtungen und Auslegungsweisen. Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität sieht sich demnach (…) darauf verwiesen, die überkommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vorzudringen. Die Hermeneutik bewältigt ihre Aufgabe nur auf dem Weg der Destruktion.“ Heidegger (1986/87, S. 237 – 274.). Zur weithin übersprungenen Identität und Differenz von „Subjekt“ und „Dasein“ im „Apriori des nur ‚tatsächlichen‘ Subjekts“ vgl. definitorisch Heidegger (1984b), S. 229.

[12] Badiou (1982).

[13] Vor der Einführung des Begriffs „Daseins“ verwendet Heidegger an dessen Stelle den des „faktischen Lebens“; von diesem Begriff bzw. dem der „Faktizität“ ist dann auch die Rede vom „nur ‚tatsächlichen’ Subjekt“ zu verstehen. Vgl. v.a. Heidegger (1988).

[14] Alain Badiou (2009), S. 18, sowie meine Ausführungen in Seibert (2009), S. 194. In der berühmten Davoser Disputation mit Cassirer bezeichnet Heidegger die in diesem „Formalismus der Existenz“ entworfene „Befreiung des Daseins im Menschen“ sogar als „die eine Aufgabe, der der Philosoph sich zu beugen hat“, weil sie „das Einzige und Zentrale“ ist, „was Philosophie als Philosophieren leisten kann.“ Heidegger (1998), S. 285.

[15] Zur Vierung der Seins-, Wahrheits- und Ereignisgeschichte bei Badiou vgl. in nuce Badiou (1997), S. 17ff.

[16] Gethmann (1974), S. 141 bzw. S. 145; den Begriff „responsorisches Subjekt“ führt Gethmann S. 80 ein. Zum „geworfenen Entwurf“ vgl. Heidegger (1984b), § 31.

[17] Badiou (2003a), S. 81ff. bzw. S. 152.

[18] Ebd., S. 82.

[19] Ebd., S. 82f.

[20] Ebd., 111f.

[21] Heidegger (1984b), S. 153.

[22] Badiou (2003a), 86. Von „Ent-Bindung“ und „Loslösung“ als dem wesentlichen Zug des Politischen und des Denkens überhaupt spricht Badiou auch in (1996), S. 249, (1997), S. 61f., in (2003b), S. 117 und in (2006), S. 116f.

[23] Marx/Engels (1972), 474.

[24] Badiou (2003a), S. 87f.

[25] Badiou (2010b), S. 549.

[26] Derrida (1991), S. 51f.

[27] Ebd., 57f.

[28] Badiou (2003a), S. 155. In der Bestimmung des „Staates“ bedient sich Badiou eines Wortspiels mit den Begriffen des ‚État (Staat) und des état (Zustand) und versteht unter „Staat“ derart immer auch den gegebenen „Status“ einer „Situation“, vgl. Badiou (2005), S. 123, Fn. 50 sowie passim (auch in 2003a).

[29] Badiou (2003a), S. 60.

[30] Derrida (1991), 40.

[31] Vgl. neben Derrida (1991) u.a. auch Derrida (1995) und (2001).

[32] Diesen Untertitel seines Buchs entlehnt Derrida Pascal, der ihn Montaigne entlehnt, vgl. (1991), S. 24.

[33] Deleuze (1980), S. 27.

[34] Vgl. in nuce Foucault (2005a)S. S. 273ff. und Seibert (2009), S. 179ff.

[35] Deleuze/Guattari (1992), S. 653. Vgl. ebd., 145ff, 396 ff, 650ff; zur verwandten Bestimmung der Minderheiten als der „Klasse der Klassenlosen” vgl. Deleuze/Guattari (1977), S. 326ff.

[36] Vgl. Hardt/Negri (2002), S. 107ff sowie Negri (Berlin 2003a), S. 111f.

[37] Inwiefern Hardt/Negri so zwar nicht mehr in der Tradition des dialektischen Materialismus, wohl aber in der Marx’ und Engels’ stehen, zeigt ein Blick ins Manifest der Kommunistischen Partei. Denn auch das Proletariat des Manifests ist kein homogenisierter Block, sondern ein diffuses Milieu, das aus der Dekonstruktion überkommener Subjekte hervortritt. So „rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung“, aus Angehörigen der kleinen Mittelstände, sogar aus Kleinindustriellen, Kaufleuten und Rentiers, deshalb „fallen“ auch Handwerker und Bauern ins Proletariat „hinab“ und mit ihnen der „Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“ Die Singularitäten dieses Proletariats sind dann nicht nur materiell, sondern auch subjektiv „eigentumslos“, sind dem „bürgerlichen Familienverhältnis“ ebenso entflohen wie sie „allen nationalen Charakter abgestreift“ haben. Potenziell revolutionär sind sie nicht zuletzt deshalb, weil ihnen „die Gesetze, die Moral, die Religion ebenso viele bürgerliche Vorurteile sind, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.“ Vgl. Marx/ Engels (1972), S. 469ff.

[38] Zu Negris allgemeinem Ereignisbegriff vgl. (2003b), zu einer impliziten Logik ereignisgestifteter politischer Sequenzen vgl. den Interviewband Negri/Scelsi (2009).

[39] Haraway (1995), S. 40. Zur Aufnahme des Denkens Haraways bei Hardt/Negri vgl. (2002), S. 104ff. und S. 227ff., methodisch S. 61f; vgl. auch Seibert (2009), S. 94ff.

[40] Vgl. Badiou (2006), S. 203-219.

[41] A.a.O., S. 17ff.

[42] Foucault in: Dreyfus/ Rabinow (1987), S. 268. Der politischen Schwäche Foucaults steht allerdings die Stärke gegenüber, die er in der Dimensionierung seiner Ethik auf das Maß einer „Reformation“ gewinnt. Vgl. dazu Seibert (2009), S. 183ff.

[43] Vgl. dazu Badiou (2003c), S. 81ff.

[44] Ebd., S. 23 und pass. Die Bestimmungen des Guten und des Bösen von Wahrheitsprozessen wären natürlich um die in Logiken der Welten eingeführte Differenzierung im Begriff des Wahrheitssubjekts zu erweitern, die dem treuen Subjekt je ein „dunkles“ und ein „reaktives“ Subjekt an die Seite stellt, vgl. dazu Badiou (2010b), S. 61 – 69 sowie definitorisch S. 619. Um diese Differenzierung wenigstens im Beispiel zu verdeutlichen: Kann das treue Subjekt des Wahrheitsereignisses der Oktoberrevolution mit dem Namen der „Bolschewiki“ benannt werden, wäre das ihm entsprechende „reaktive“ Subjekt als das sozialdemokratische, das ihm entsprechende „dunkle“ Subjekt als das faschistische zu bezeichnen. Eine nicht mehr nur formale, sondern dann auch materiale Untersuchung dieser Wahrheitssequenz könnte diese Unterscheidung natürlich weiter ausdifferenzieren – und auf politökonomische Bestimmungen beziehen.

[45] Žižek (2001), S. 219.

[46] Ebd., 224.

[47] Ebd., 225.

[48] Ebd., 221. Wenn ich Foucault hier ausnehme, so deshalb, weil er in einem kleinem Text aus seinem letzten Lebensjahr die „Sorge um die Wahrheit“ ausdrücklich auf die Untersuchung der Formen des Daseins verwiesen hat, „durch welche der Mensch in dem ihm beschiedenen Schicksal seiner Lebendigkeit und Sterblichkeit sich äußert, sich erfindet oder sich verneint.“ Foucault (2005b), S. 798.

[49] Im deutschen Sprachraum ist an dieser Stelle stets darauf zu verweisen, dass die „Militante“ im außerdeutschen Sprachgebrauch nicht notwendig eine Gewalttäter/in, wohl aber eine „politische Kämpfer/in“ meint, die sich vor anderen durch ihre Treue und ihren Glauben auszeichnet.

[50] Badiou (2003a), S. 132.

[51] Žižek (2001), S. 225.

[52] Zur „Wahrheit der Existenz“ vgl. Heidegger (1984b), S. 221, 297, 307f. Mit Alenka Zupančič wäre Žižeks Kritik an Badiou so zu vertiefen, dass Badious abstrakte, weil bloß antivitalistische Spaltung von animalischem Leben und Subjekt in Wahrheit als Spaltung zwischen einem animalischem und einem gespaltenem Leben zu denken wäre: letzteres ist dann in sich zugleich animalisches und subjektives Leben und hat seine „Freiheit“ darin, „gespalten zu sein und seine eigene Spaltung zu wählen.“ Vgl. Zupančič (2001), S. 31.

[53] Zum Begriff des „realen Punkts“ vgl. Badiou (2008), S. 23f., 39f., 43ff., 47-75 und Badiou (2010b), S. 423 – 450.