Die Lektion des Leninismus

Eine Antwort auf Micha Brumlik.

Der Gang durch das Denken Heideggers bleibt eine offensichtlich gefährliche, doch unvermeidliche Anstrengung im politischen Philosophieren der Neuen Linken. Gefährlich, weil Heidegger – wie alle immer schon wissen mussten – einer der radikalsten Denker der Freiheit und zugleich ein Nazi war. Unvermeidlich, weil (fast) alle Denker*innen der Neuen Linken sich durch Heidegger hindurchkämpfen mussten, um aus der marxistischen Scholastik ins Offene zu gelangen.Text erschien in den Blättern für deutsche und internationale Politik 9/2010. (Kürzer)

Als die herrschende Politik den Kommunismus 1989 endgültig zum Unwort erklärte, erhielt er postwendend, doch zunächst unbemerkt Asyl in der Philosophie. Den Anfang machten Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy, ihnen folgten Félix Guattari, Toni Negri, Michael Hardt, Jacques Rancière, Alain Badiou, Slavoj Žižek und andere. Hardt und Negris Empire (dt. 2000) markierte die offensive Wendung, und heute meldet das Feuilleton, dass die Jugend den Philosophen „die Türen einrennt.“ Wie dagegen ein Antikommunismus vorgeht, der diesem Phänomen Einhalt gebieten will, zeigt in der August-Ausgabe der „Blätter“ Micha Brumlik.[1]

Mit den von ihm als „Neoleninisten“ bezeichneten Philosophen teilt Brumlik die Diagnose, dass wir unter „postdemokratischen“ Bedingungen leben. Darunter ist eine Situation zu verstehen, in der die Demokratie zugleich absolut und leer geworden ist, weil– so Rancière – der „Streit des Volkes liquidiert“ und damit der Demos selbst passiviert wurde. Dies geschah in drei Zügen. Im ersten Zug wurden, in gewissen Grenzen unvermeidlich, die kollektive Willensbildung des Demos und die selbsttätige Äußerung dieses Willens, also der eigentliche demokratische Akt, in Apparaten und Prozeduren fest-gestellt und verregelt, die ihn zu „vertreten“ vorgaben. Im zweiten Zug wurde die Repräsentation des Demos zum Gehalt seines Willens selbst umgedeutet und der demokratische Akt auf seine betriebsmäßig instituierte Wiederholung in den Grenzen seiner Repräsentation beschränkt. Der dritte Zug schließt die jahrzehntelange Kolonisierung der Repräsentation durch den Markt zumindest vorläufig ab, indem er sie selbst in einen Markt umformt. ((Demokratietheoretisch kann dieser Prozess als Ersetzung des volonté générale durch den volonté de tous im Sinn der Ersetzung des Allgemeinwillens durch die Summe der Einzelinteressen gefasst werden.))

Dagegen setzen die Neoleninisten ihre Unterscheidung zwischen „der Politik“ und „dem Politischen“. Die Politik bildet die Menge aller betriebsmäßigen innerdemokratischen Streitfälle; mit dem Politischen dagegen bricht ein Streit auf, in dem die Demokratie selbst in Frage gestellt wird. In einer solchen „Problematisierung“ des „selbstverständlichen Bezugs auf ‚Freiheit und Demokratie’“ sieht Žižek die „eigentliche Lektion aus dem Leninismus für heute“.

„Die neoleninistischen Philosophen nehmen sich das Recht, die Demokratie zu bestreiten. Ebenso grundsätzlich wird ihnen dieses Recht von Brumlik bestritten.“

Tatsächlich nehmen sich die neoleninistischen Philosophen das Recht, die Demokratie zu bestreiten. Ebenso grundsätzlich wird ihnen dieses Recht von Brumlik bestritten. Diese Differenz ist das eigentliche Problem, das zur Debatte steht.

Konsequent zielt Brumliks erster Schritt auf diese Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen, die er auf eine bloße „Sehnsucht nach dem Politischen“ reduziert und in der er dann „den verzweifelten Versuch“ ausmacht, einen Ersatz für das „verlorene revolutionäre Subjekt“ zu finden.

Und eben hier, das heißt schon in seinem allerersten Schritt, irrt Brumlik. Denn den Neoleninisten geht es um etwas ganz anderes. Für sie war das Subjekt, das Brumlik und vielen anderen Linken verloren ging, von Anfang an nur eine sei’s bewusstseinstheoretische, sei’s ökonomisch-soziologische Substantialisierung des wirklichen „subjektiven Faktors“ des Politischen. Den bestimmen sie selbst deshalb zunächst nur formal: Subjekt ist, wer die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen vollzieht und ihre Folgen austrägt. Eine solche Subjektivität „in actu“ haben Marx und Engels zu ihrer Zeit „Proletariat“ genannt und als ein Subjekt bestimmt, dessen konkrete Individuen „nur insofern eine Klasse (bilden), als sie gemeinsam einen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben.“ Dem entspricht, dass diese Individuen einander „im übrigen“, das heißt außerhalb des Akts, der sie Subjekt werden lässt, „in der Konkurrenz feindlich gegenüberstehen.“[2]

Für Brumlik aber ist ein nur in actu gegebenes Subjekt ein voluntaristisches und dezisionistisches, also ein irrationalistisches Subjekt. Dessen Begriff führt er deshalb weniger auf Marx als auf Heidegger zurück. Die Neoleninisten trifft er damit insoweit, als sie sich tatsächlich auch auf Heidegger beziehen und die Differenz der Politik und des Politischen aus dessen Differenz des Seienden und des Seins gewinnen.

Bezeichnet Brumlik die Neoleninisten deshalb zugleich als „Linksheideggerianer“, kommt es ihm allerdings nicht auf deren philosophische Herkunft, sondern auf den denunziatorischen Effekt an. Bekanntlich hat Heidegger 1933/34 aktiv das Naziregime unterstützt und vorher wie nachher eine völkische Konzeption des demos und folglich des Politischen vertreten. „Sieht man einmal von dem selbst erklärten Wunsch nach Emanzipation ab“, schreibt Brumlik, weist das neoleninistische Denken „in Kern und Struktur exakt jene Merkmale auf, die die Philosophen des Faschismus und Nationalsozialismus auszeichnete“.

Nun kann diese Denunziation historisch und logisch zurückgewiesen werden. Historisch, weil – von Brumlik auch vermerkt – niemand anderes als Herbert Marcuse bereits 1928, also ein Jahr nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, die erste linke Aneignung existenzialer Analytik unternahm und sie damit vorab schon vom „Fall Heidegger“ trennt. Dabei löst er die völkische Entstellung des demos auf und fasst das Dasein des Politischen in einem in existenzialer Wendung ent-substantialisierten Proletariat zusammen. Liest Brumlik darin nur „etymologische Spielerei“, ist dies, mit Verlaub, sein Problem: Im Umfeld Sartres wie bei Lacan, Axelos oder Castoriadis, in der osteuropäischen Dissidenz (Kosìk, Praxis-Gruppe) und in der antikolonialen Revolte (Fanon) folgen auf Marcuse gleich mehrere Ansätze linker Existenzialanalytik, deren Potenzial dann von Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Michel Foucault entfaltet wird. Daran erst knüpfen Negri, Badiou und Žižek an.

Die logische Bestreitung der versuchten Denunziation, die natürlich dem Vorwurf des Dezisionismus gilt, kann mangels Raums hier nur angerissen werden. Tatsächlich ersetzen weder Heidegger noch Derrida oder Badiou die Verpflichtung zur durchgängigen rationalen Begründung leichtfertig durch bloße Dezision. Die Nötigung zur Entscheidung verorten sie vielmehr nur dort, wo sich im Kalkül rationaler Gründe der Spaten am harten Fels zurückbiegt.[3] Dies aber ist im „Realen“ (Lacan) eines welterschließenden Ereignisses der Fall, weil ein solches Ereignis – eine wissenschaftliche, künstlerische, politische Revolution, der Augenblick, in dem eine Liebe beginnt – weder bewiesen noch widerlegt, sondern nur bejaht oder verneint werden kann. Doch selbst dort sind die Nötigung wie die Treue zur Entscheidung stets Verpflichtung zur rationalen Prüfung. Deshalb ist Heideggers letztes Wort nicht die vielgeschmähte „Entschlossenheit“, sondern die „Entschlossenheit zur Wiederholung ihrer selbst“, in der sich das Dasein für die „mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme“ seines Entschlusses „freihält“.[4] Deshalb widmet Badiou dem Bösen, das aus einer Entscheidung resultieren kann, ein eigenes Buch, das er mit Bedacht Ethik nennt.[5]

Der eigentlich problematische Punkt in der Rationalisierung der Entscheidung liegt – auch das vermerkt Brumlik – in ihrer Bindung an ihr Wahr-Sein, in der das Ereignis Wahrheitsereignis und das Subjekt der Entscheidung Wahrheitssubjekt zu sein haben. Das Problematische daran ist die allerdings ab-gründige Zirkularität, in der sich das Subjekt einem Ereignis verdanken wird, das seine Wahrheit allein im Zeugnis dieses Subjekts bekunden kann. Die Entscheidung schlägt folglich den Zirkel, der Ereignis, Subjekt und Wahrheit im Kreisbogen aufeinander bezieht. Das ist es, was nicht nur Brumlik, sondern selbst Badiou erschreckt. Brumlik zitiert Badiou: „Was man sehen muss, ist, dass man, wenn man der vitalen Kontinuität einen Heroismus der Diskontinuität aufzwingt, notwendig beim Terror endet.“[6] Wenn Brumlik hier von der unverstellten Folgerichtigkeit des Denkens auf die willentliche Vergleichsgültigung des Problems schließt, tut er so, als sei die pathetische Formulierung Badious (wie bei Žižek die Provokation) schon für bare Münze zu nehmen. Doch ist auch das Denunziation.

Die Neoleninisten halten die postdemokratische Berufung auf das Menschenrecht nicht für den letzten Schluss des Politischen.“

Wie aber steht es mit den Neoleninisten und dem Terror? Es klang schon an: Sie verweigern sich in pathetischer oder provokanter Form dem totalitarismustheoretischen Diskurs und nehmen sich das Recht, die postdemokratische Berufung auf das Menschenrecht nicht für den letzten Schluss des Politischen zu halten. Das ist immer auch problematisch, fällt gelegentlich geschmacklos aus, hat seine Grenze aber darin, dass Badiou den Terror unmissverständlich als Artikulation gleich zweier der drei Bösen seiner Wahrheits- und Entscheidungsethik fasst: als Artikulation der Hybris (in der die Anerkennung einer Wahrheit erzwungen wird) oder als Artikulation des Verfalls an ein Trugbild (in dem eine Unwahrheit als Wahrheit anerkannt wird). Unmissverständlich auch deshalb, weil Badiou diese beiden Bösen mit ihren Namen nennt: Stalin und Heidegger.[7]

Dem entsprach die Schlussrede zur Kommunismus-Konferenz, die Badiou – Brumlik war zugegen – am 27. Juni 2010 in der Berliner Volksbühne hielt. Im wiederholten Bekenntnis seiner Treue zum 20. Jahrhundert bestand er zugleich darauf, dass die kommende kommunistische Bewegung mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts brechen muss. Sind die historischen Gründe, die er dafür angab, alles andere als originell, so ist das, wie Mao gesagt hätte, nicht schlecht, sondern gut. Es belegt, dass revolutionäres Pathos und antiliberale Provokation nicht gegen gesichertes historisches Wissen, sondern gegen dessen Funktionalisierung unter postdemokratischer Herrschaft ausgespielt werden, was ein Unterschied ums Ganze ist. Gefährlich bleibt allerdings, dass auch die kommende kommunistische Bewegung Ereignischarakter haben und das Verhältnis von Ereignis, Subjekt und Wahrheit wieder zirkulär sein wird. Das aber ist keine dezisionistische Willkür, sondern etwas, „was man sehen muss.“

„Die Neoleninisten entziehen sich dem Entweder-Oder von Liberalismus und Fundamentalismus und setzen auf die Möglichkeit einer dritten Front.“

Man kann nun – was Brumliks Vorschlag und der aller Liberalen ist – die mit dem Politischen notwendig verbundene Gefahr prinzipiell bannen wollen, muss dann aber postdemokratischen Verhältnissen als notwendig herrschenden Verhältnissen zustimmen. Man wird dann in letzter Konsequenz und natürlich bedauernd auch dem Krieg gegen den Terror zustimmen, dessen Kriegsparteien in ihrer unverhüllten Zusammengehörigkeit das heutige Gesicht des Schreckens zeichnen. Dagegen beweisen die Neoleninisten, obwohl dem Politischen und folglich Kampf und Feindschaft verpflichtet, gegen Brumliks Unterstellung eine gänzlich un-schmittianische Wahlfreiheit. Sie entziehen sich dem Entweder-Oder von Liberalismus und Fundamentalismus und setzen auf die Möglichkeit einer dritten Front. Greifbar war diese zuletzt am 15. Februar 2003, dem historischen Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegungen. Die organisierten in weltweiter Kooperation an diesem Tag gegen den amerikanischen Überfall auf den Irak die größten Anti-Kriegs-Demonstrationen der Geschichte und eröffneten für einen kurzen Augenblick die dritte Front eines globalen Demos, welcher sich zugleich der kapitalistischen Postdemokratie und der antidemokratischen Despotie entgegensetzt.

Nun vermerkt Brumlik, dass die Neoleninisten gerade an diesem Punkt uneins sind, Badiou und Žižek hier gegen Hardt und Negri stehen. Tatsächlich ist dieser Streit das eigentlich dynamische Moment am Neoleninismus, weil hier konkret ausgefochten wird, wie die „Idee des Kommunismus“ gegen den Terror der Ökonomie und den Terror der Despotie ihre eigene Machtfrage stellen soll.[8] Wenn Brumlik dabei nicht mithalten kann, liegt das daran, dass er von den Neoleninisten zwar zu Recht den Übergang von einer philosophisch-formalen zu einer materialen Gesellschaftskritik einfordert, sich als guter Liberaler darunter aber nichts anderes als „soziologische Analyse“ samt „moralischer Begründung“ vorstellen kann. So verpasst er den Punkt, um den der Streit geführt wird: die strategische Bestimmung des Zusammenhangs zwischen der postdemokratischen Passivierung des „Streits des Volkes“ und damit des Politischen und der aktuellen, aus der Ausbeutung auch der „immateriellen“ Arbeitskraft bestimmten, deshalb auf das ganze Leben entgrenzten und darum „biopolitisch“ genannten Ökonomie des Kapitals. Dazu werden Gründe aus marxistischem wie aus psycho- und existenzialanalytischem Register angeführt, um in ihrem Verhältnis zueinander eine Herrschaftsweise aufzuklären, die gleichsam „von innen“, weil schon in der Konstitution der ihr unterworfenen Individuen und Gruppen wirkt. Darin erst wird auch material der „Ereignisort“ (Badiou) umgrenzt, an dem Postdemokratie „problematisiert“ (Žižek) werden kann. Solche Feinheiten aber interessieren Brumlik nicht: Er hat seine Entscheidung schon getroffen.

[1]           Micha Brumlik, Neoleninismus in der Postdemokratie, in: „Blätter“, 8/2010, S. 105–116.

[2]           Karl Marx und Friedrich Engels, MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 67 f.

[3]           Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 217. In: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 350.

[4]           Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1994, S. 307 f.

[5]           Alain Badiou, Ethik, Wien 2003.

[6]           Alain Badiou, Das Jahrhundert, Zürich 2006, S. 27.

[7]           Alain Badiou, Ethik, S. 79-119. Das dritte Böse ist der Verrat, in dem ein Subjekt sein Ereignis und seine Entscheidung verleugnet. Brumlik vermerkt unkommentiert, dass Badiou dabei „den größten Teil ehemals radikaler linker Intellektueller“ des Mai 1968 im Blick hat.

[8]           Vgl. dazu Thomas Seibert, Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009.

Dieser Text erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2010