„Wer die Kanakisierung unserer Gesellschaft zurückdrängen will, ist in der Sache rechts“
Im Mai 2018 stellte ich im Züricher Kosmos mein Buch „Zur Ökologie der Existenz“ vor (Gruß an Samir Aldin). Am Nachmittag vor der Veranstaltung sprach ich mit Anna Jikhareva und Daniel Hackbarth von der Schweizer Wochenzeitung, das Interview erschien in der Ausgabe 23/2018. Merci für das schöne Gespräch und die Fotos, die Florian Bachmann schoss. (Kürzer)
WOZ: Thomas Seibert, Sie haben ein Institut namens Solidarische Moderne mitbegründet. Wie solidarisch ist unsere Gesellschaft heute überhaupt noch?
Thomas Seibert: Seit Jahrzehnten stehen die Zeichen auf Entsolidarisierung – was aber nicht heisst, es gäbe so etwas wie Solidarität nicht mehr. Der Sommer der Migration in Deutschland wäre ja ein schlagendes Beispiel dafür, dass solidarisches Handeln nicht vollständig verschwunden ist. Trotzdem wurden Solidarstrukturen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden sind, in den letzten Jahrzehnten systematisch abgebaut – in den Institutionen ebenso wie bei den subjektiven Einstellungen.
Das liegt vermutlich auch daran, dass die persönliche Freiheit im Neoliberalismus über allem steht.
Neoliberal zu sein, heisst, ein Leben zu leben, in dem sich alle nur um sich und ihre individuellen Eigenheiten drehen. Wie bei allen Transformationen des Kapitalismus sind dabei aber immer auch Freiheitspotenziale erschlossen worden. Ich komme aus Rüsselsheim, einer Industriestadt. Obwohl dort seit den Sechzigern bereits Zehntausende migrantische Arbeiter lebten, gab es lange nur ein einziges jugoslawisches Restaurant, später eine Pizzeria. Migrantinnen und Migranten waren im Stadtbild überhaupt nicht präsent, wurden nur am Wochenende sichtbar, wenn sie den Bahnhof zum Basar umfunktionierten. Im Zuge des neoliberalen Umbaus hat sich das komplett verändert: Die Rüsselsheimer Innenstadt ist jetzt migrantisch geprägt.
Dieser Realität hinkt die Politik allerdings hinterher.
Absolut. Aber bei den vielen Klagen frage ich mich: Wieso schafft es der Neoliberalismus überhaupt, seine Herrschaft aufrechtzuerhalten? Vermutlich im Wesentlichen auch, weil viele Leute ihn subjektiv als Befreiung erfahren.
In Bezug auf Migration gibt es eine Fünfzig-fünfzig-Spaltung. Die eine Hälfte der Gesellschaft begreift Einwanderung als positive Entwicklung, während die andere Hälfte sie immer abgelehnt hat. Letztere wurde seit 2015 systematisch ermächtigt, sich auch explizit politisch zu artikulieren. Das geht so schnell, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass wir vor einer Niederlage stehen, die dem Deutschen Herbst 1977 und dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 ähneln könnte. Dann lägen vor uns Jahre, in denen die Linke keinen Stich machen würde.
Schätzen Sie die Lage wirklich so pessimistisch ein?
Zumindest lassen sich für diese Sichtweise genug Belege finden. Gleichzeitig aber sind die Verhältnisse sehr volatil: Den Arabischen Frühling etwa hatte niemand kommen sehen. Dort aber wurde die Praxis des Aufstands wiederentdeckt, wurde die Form «Wir treffen uns alle in der Mitte der grossen Städte und bleiben so lange zusammen, bis die Regierung gestürzt ist» überall auf der Welt aufgegriffen. 2015 ist diese Entwicklung dann abrupt abgebrochen, sodass man manchmal das Gefühl bekommt, es wäre nichts mehr von diesem Aufbruch übrig. Man muss nur an manche Äusserungen von Politikern denken, die weit jenseits dessen liegen, was man noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten hätte.
Gerade in der Asylfrage gibt es doch schon sehr viel länger eine Entwicklung nach rechts.
In Deutschland zeigt sich gegenwärtig ein zugleich struktureller und militanter Nationalismus und Rassismus, der von ganz oben bis weit in die Gewerkschaften reicht. Dabei artikuliert sich politisch, was untergründig immer da war. Auf Landesebene werden wir wohl bald eine CDU-AfD-Koalition haben. Damit könnte die AfD, wie einst die Grüne Partei, auch bundesweit regierungsfähig werden. Setzt sich diese Option durch, wird man versuchen, die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre zurückzudrehen – mit autoritärer Staatsgewalt und permanenter rechter Mobilisierung.
«Meine linkssozialdemokratischen Freunde haben ein ganz anderes politisches Selbstverständnis als ich, der ich aus der autonomen Szene komme. Doch wir haben Verständnis für die Praktiken der jeweils anderen entwickelt.»
Sie sagen, rassistische Einstellungen seien auch in der Arbeiterschaft verankert. Ist nicht eher das prekarisierte Kleinbürgertum die soziale Basis des Rechtspopulismus?
Der entscheidende Punkt ist, dass sich die politischen Lager klassenübergreifend formieren, was demzufolge auch für die Front zwischen links und rechts gilt. Wir haben stabile liberale und linke Orientierungen in breiten Teilen der Mittel- wie in der Arbeiterklasse und finden Nationalismus und Rassismus gleich stark in beiden Milieus. Ich glaube daher, dass im Moment nicht die «Klasse» die Frontlinie bezeichnet.
Sie gehören also nicht zu denjenigen, die eine stärkere Betonung des Klassenantagonismus fordern, um den Rechtspopulismus zurückzudrängen?
Die Vorstellung, dass emanzipatorische Veränderungen der Gesellschaft primär im Klassenkampf errungen werden, stimmte schon in den sechziger Jahren nicht mehr. Leider sind die damals gewonnenen Einsichten in vielen Teilen der Linken völlig weggebrochen; jetzt haben wir ein Revival des Marxismus-Leninismus, das meiner Ansicht nach zu gar nichts führt, weil es an den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen vorbeigeht.
Aber ist es nicht auch sympathisch, dass inzwischen auch Soziologieprofessoren wieder von «Klasse» reden?
Dass der Marxismus und erst recht der Begriff des Kommunismus an den Universitäten lange tabu waren, stimmt. Das lag aber nicht nur an neoliberalen Intrigen, sondern auch daran, dass traditionslinke Kategorien in vielerlei Hinsicht nicht mehr tragen. Dabei unterschätzen viele Linke das Desaster der real existierenden Sozialismen des 20. Jahrhunderts. Schliesslich brach mit ihnen ein Projekt zusammen, das 150 Jahre lang weltweit den politischen Enthusiasmus von Millionen Menschen mobilisiert hat. Eine solche Enttäuschung überwindet man nicht in dreissig Jahren, und sie fordert von uns einen radikalen Neubeginn, auch auf der Ebene der Kategorien.
Aber die positive politische Dynamik, die etwa 1968 hatte, ist doch nicht restlos verschwunden, oder?
Wir haben 1968 und danach ganz neue Erfahrungen gemacht, wie sich Gesellschaften emanzipatorisch verändern lassen. Dazu gehört die Relativierung des Klassenkampfs auf sehr viel komplexere Prozesse von Emanzipation. Dabei sind Geschlechter- und Generationenverhältnisse zentral, genauso wie die Frage der Ökologie und, nicht zuletzt, die der Einwanderung – sowie ganz grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das alles ist heute mindestens so bedeutend wie die Klassenfrage.
Und wie lässt sich dieses Erbe in die Gegenwart übersetzen?
Zunächst fügt sich viel von dem, was 1968 passiert ist, ins traditionelle Register der Linken. Beim Pariser Mai etwa haben wir erst die Besetzung der Sorbonne und dann einen Generalstreik, an dem zehn Millionen Leute teilnehmen: Der damalige Präsident Charles de Gaulle flieht nach Deutschland, weil er glaubt, es komme zur Revolution. Das ist grossartig. Doch jetzt zu denken, der Generalstreik sei entscheidend gewesen, führt völlig in die Irre. Entscheidend war die radikale Verschiebung des Verständnisses emanzipatorischer Politik. Unzählige Menschen waren nicht mehr bereit, sich in eine Lebensform zu fügen, die darin bestand, erst eine Ausbildung zu machen, dann einen Arbeitsplatz und einen Ehepartner zu finden, schliesslich Kinder zu bekommen und dann bis zur Rente Autos, Fernseher und Urlaubsreisen zu kaufen. Dieser Lebenshorizont wurde damals weggewischt.
«Die migrantische Forderung nach gleichen Rechten für wirklich alle ist heute der massgebliche Anlass, Gesellschaft emanzipatorisch zu verändern.»
Dabei dürfte für viele Prekäre ein fester Job heute wie eine Utopie klingen.
Das ist ja genau der Punkt: Dass das fordistische Lebensmodell – die kollektive soziale Absicherung und die individuelle Beteiligung am materiellen Reichtum – nach 1968 nicht mehr funktionierte, zwang dem Kapitalismus die Krise auf, die er mit seiner neoliberalen Transformation erst einmal gelöst hatte. Das erlaubt aber gerade nicht, zu vergessen, dass ihm diese Transformation von der alltäglichen Renitenz von Millionen Menschen auferlegt wurde, die sich politisch oft gar nicht explizit artikulierten.
Wenn es heute darum geht, den Neoliberalismus anzugreifen, darf man nicht hinter diese Renitenz zurückfallen, sondern muss gerade sie zum Ausgangspunkt einer neuerlichen linken Offensive machen. Es wird keine Rückkehr zum Fordismus geben, und es darf sie, emanzipatorisch gesehen, auch gar nicht geben.
Wie haben Sie persönlich die Zeit nach 1968 erlebt?
Ich wurde erst in den siebziger Jahren politisiert, in der sogenannten Jobberbewegung. Damals brachen Hunderttausende junge Leute Schule, Lehre oder Studium ab, weil sie die auf das Normalarbeitsverhältnis gegründete Lebensweise radikal ablehnten. Das betraf sehr viel mehr als nur diejenigen, die unter roten und schwarzen Fahnen auf die Strasse gingen. Der Ton-Steine-Scherben-Song «Ich will nicht werden, was mein Alter ist» stand stellvertretend für die Haltung einer ganzen Generation.
War die Jobberbewegung organisiert?
Richtig organisiert waren nur die radikalen Kerne. Mao sagte ja, man solle wie ein Fisch im Wasser schwimmen. Wir sind damals wie Fische im Wasser der jungen Generation geschwommen. Dann aber kam der Kapitalismus und sagte: Ihr wollt das Normalarbeitsverhältnis nicht mehr? Kein Problem, dann lösen wir das eben auf!
Ein oft diskutierter Anknüpfungspunkt an das Erbe von 1968 wäre ja auch, Klassen- und Identitätspolitik nicht als Gegensätze zu denken.
Diese Diskussion wird allerdings auf erschreckend niedrigem Niveau und mit grosser Naivität geführt. Viele denken, dass man Klassenpolitik betreibt, wenn man die «soziale Frage» stellt und sich hinter eigentlich nur sozialdemokratischen Forderungen sammelt. Das ist doch absurd! Bei Marx sollte Klassenpolitik mit allen Klassen Schluss machen. Deshalb ging es da weniger um die positive Formierung einer Klasse als um die Abschaffung des Umstands, dass man im Leben klassifiziert wird. Bei der Identitätspolitik ist es dasselbe: Es gibt eine liberale Identitätspolitik, etwa in der Institutionalisierung des Feminismus. Identitätspolitik meinte ursprünglich aber gerade eine Politik der Entidentifizierung: die existenzielle Weigerung, die vorgesehene Rolle zu spielen, egal ob als Arbeiter, als Frau oder Jugendlicher. Das ist in den heutigen Debatten so wenig präsent, dass man da erst einmal Erinnerungsarbeit leisten muss. Und dann eine Politik entwickeln, die diese unterbrochene Linie fortsetzt.
Wie könnte das konkret aussehen?
Unsere Gesellschaften sind weithin migrantisch geprägt, wir sind alle kanakisiert. Die zentrale Frage ist deshalb, wie sich das von links, also emanzipatorisch, politisieren lässt. Das heisst nicht, dass Migrantinnen und Migranten das revolutionäre Subjekt wären. Entscheidend ist vielmehr, dass die Zugehörigkeit zur Gesellschaft nach wie vor ethnisch codiert ist. Das ist das, was zur Debatte steht – und auch praktisch infrage gestellt werden muss.
Die Frage der Migration wäre demnach für die Linke die Gretchenfrage?
Sie ist mit Sicherheit eine der zentralen strategischen Fragen – ebenso wie die Frage der Ökologie und die der Globalisierung. Das macht die Auseinandersetzung über die richtige Migrationspolitik in der deutschen Linkspartei auch so desaströs. Ich sage dabei gar nicht, dass die Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer, die für eine Begrenzung der Migration sind, die Position der AfD vertreten würden: Da würde man Wagenknecht unrecht tun.
Sie haben aber einen offenen Brief mitunterzeichnet, in dem Wagenknecht als rassistisch bezeichnet wird.
Das war ein taktischer Fehler. Ich ging davon aus, dass alte Errungenschaften antirassistischer Theorie heute selbstverständlich seien – etwa die Unterscheidung zwischen einem bekennenden Rassisten und jemandem, der mit seiner Politik institutionellen Rassismus stützt. Ich war der Meinung, dass das in der Linken ein Allgemeinplatz wäre. Offenkundig ist das nicht der Fall: Mir wurde empört unterstellt, ich hätte Sahra Wagenknecht in völlig überzogener Polemik zur Rassistin erklärt.
Inwiefern stützt Wagenknecht den institutionellen Rassismus?
Der Rassismus beginnt schon bei ihrer Problemdefinition: Dass Migrantinnen und Migranten kommen und gleichen Zugang zu unseren Möglichkeiten und Rechten haben wollen, ist für Wagenknecht etwas, das ordnungspolitisch unterbunden, zumindest eingeschränkt werden muss.
Unabhängig davon ist aber der Konflikt in der Linken zwischen dem «Offene Grenzen für alle»-Flügel und demjenigen, der das ablehnt, virulent.
Ja. Entscheidend ist die Frage, ob wir strategisch an den Sommer der Migration anknüpfen oder uns in den strukturell rassistischen Konsens derer stellen, die ablehnen, was 2015 möglich wurde. Faktisch haben wir eine Situation, in der von der AfD bis zu Teilen der Linkspartei gesagt wird: Das zentrale Problem unserer Gesellschaft ist der Zustrom von Migranten. Dabei weiss ich nicht, was ich eigentlich für infamer halte: Leute, die Schwarze, die nach Europa kommen, ablehnen, weil sie Schwarze sind, oder Leute, die sie ablehnen, weil sie angeblich aus der schwarzen «mobilen Elite» stammen und die Kampfkraft deutscher Arbeiter schmälern. Das steht wortwörtlich in einem Linksparteipapier, das vorgibt, im Streit vermitteln zu wollen. Um es klar zu sagen: Jeder Versuch, die Kanakisierung unserer Gesellschaft zurückzudrängen, ist in der Sache rechts und wird deshalb auch zwangsläufig autoritär.
Aber auch für eine linke Partei bleibt ja die Frage: Wie denkt und organisiert man Migration?
Die migrantische Forderung nach gleichen Rechten für wirklich alle ist heute der massgebliche Anlass, Gesellschaft emanzipatorisch zu verändern. Das ist die linke Problemdefinition. Gelänge es, die Position «Offene Grenzen für alle» so stark wie irgend möglich zu machen und auf Solidarpraxen wie im Sommer der Migration zu stützen, wären Bedingungen gegeben, um für das bestmögliche Einwanderungsgesetz einzutreten. Natürlich wäre auch so ein Gesetz institutionell rassistisch, denn es sortiert die Zugänge ins Land weiter nach der ethnischen Herkunft und der Verfügung über den Ausweis. Doch wäre damit endlich anerkannt, dass wir längst in einer Einwanderungsgesellschaft leben. Die Leute aber, die das Grenzsicherungspapier der Linkspartei geschrieben haben, zerbrechen sich den Kopf darüber, welche Politik sie machen würden, wären sie in Deutschland an der Regierung. Bei ihnen ist Migration ein Problem, das ordnungspolitisch geklärt werden muss.
Das ist doch ein gutes Beispiel dafür, wie Parteien generell eine Tendenz haben, nach rechts zu rücken.
Ja. Doch im Gegensatz zu früher ist es mir nicht mehr gleichgültig, welche bürgerliche Partei regiert. Ich habe mich im letzten Bundestagswahlkampf für eine rot-rot-grüne Regierung eingesetzt, weil ich glaube, dass eine solche Regierung im hegemonialen Land Europas die Rechtsentwicklung hätte unterbrechen können. Eine Koalition aus Linkspartei, Grünen und SPD hätte sich Griechenland gegenüber anders verhalten müssen als Wolfgang Schäuble – und damit die Kampfbedingungen in ganz Europa verändert.
Ein Alternativvorschlag dazu wäre eine parteiübergreifende Sammlungsbewegung, wie Wagenknecht sie propagiert. Was halten Sie davon?
Eine solche Sammlungsbewegung wäre die autoritäre Variante dessen, was wir beim Institut Solidarische Moderne schon lange wollen. Wagenknecht will kopieren, was Jean-Luc Mélenchon in Frankreich tut: eine Bewegung mit einer charismatischen Führung und einem Projekt, das sich in die herrschenden Problemdefinitionen einschreibt, etwa bei der Distanzierung von Europa, der Rückkehr in den Nationalstaat, der Wahrung des institutionellen Rassismus und so weiter. Da ist die autoritäre Struktur nach dem Vorbild von La France Insoumise nur konsequent: Die Aktivisten sind Wahlkämpfer, die Wählerinnen Stimmvieh, und die Politik wird oben gemacht.
Und wie sähe die Vision des Instituts Solidarische Moderne aus?
Wir waren für eine Koalition der drei Parteien. Zugleich haben wir uns gefragt, wie man diejenigen organisiert, die weder Parteimitglieder noch Bewegungsaktivisten werden wollen. Wir hatten über Jahre praktisch fünfzig Prozent, die für eine rot-rot-grüne Regierung wären, doch nur ein Bruchteil davon würde einer Stadtteilinitiative beitreten. Wir haben dann beschlossen, öffentliche Orte zu schaffen, an denen progressive politische Optionen vorgetragen werden: Veranstaltungen zu organisieren, die Diskussionen fördern.
Wie nachhaltig ist denn ein solches Vorgehen?
Wir sind damit erst einmal gescheitert. Und doch haben sich in den letzten Jahren stabile Kommunikationsnetze gebildet, die von autonomen Bewegungslinken bis in die formell linken Parteien, aber auch in die Medien und in Institutionen von Forschung und Wissenschaft reichen. Solche Netze waren die Voraussetzung für alle linken Kampagnen der vergangenen Jahre in Deutschland: Blockupy, G20, TTIP. Wenn ich nach wie vor für die Bildung einer progressiven Regierung eintrete, dann geht es mir immer auch um die Möglichkeiten einer linken Opposition zu einer solchen Regierung: Diese Möglichkeiten wären besser als diejenigen einer Opposition gegen eine CDU-AfD-Koalition.
Wäre ein möglichst breites Netzwerk auch die Antwort auf den Rechtsruck?
Für eine mögliche Sammlung der Linken sind alte ideologische Streitpunkte relativ gleichgültig geworden. Wichtiger sind heute die Differenzen in der Art und Weise, in der man praktisch links ist. Meine linkssozialdemokratischen Freunde etwa haben ein ganz anderes politisches Selbstverständnis als ich, der ich aus der autonomen Szene komme. Doch in den letzten Jahren haben wir Verständnis für die Praktiken der jeweils anderen entwickelt, konnten im sozialdemokratischen Milieu beispielsweise klarmachen, warum sich die radikale Linke so verhält wie während des G20-Gipfels in Hamburg: weil es eine Position geben muss, die sich nicht befrieden lässt und die der Gewalt des Staats entgegentritt. Solche Erkenntnisse muss man zu geteiltem Wissen machen.
Wie geht das eigentlich bei Ihnen persönlich zusammen: der Linksradikalismus und die Arbeit beim Institut Solidarische Moderne?
Da ich mir meiner eigenen radikalen Position irgendwann sicher war, konnte ich mich moderaten Positionen öffnen. Es ist deshalb gar nicht paradox, dass ich im Moment gerade aus diesem Verständnis heraus gegen die schleichende Sozialdemokratisierung der radikalen Linken streite. Ich bin sehr skeptisch gegen das Abdriften ausgerechnet der radikalen Linken in Stadtteilinitiativen mit möglichst niederschwelligen Forderungen nach billigem Wohnraum und so weiter. Das muss es geben, keine Frage. Ich glaube aber nicht, dass das die Aufgabe von Linksradikalen ist. Ihre Funktion ist, die vorderste Front der Auseinandersetzung zu markieren, also eben etwa «Grenzen auf für alle» zu fordern. Es muss jemanden geben, der solche Positionen unverhandelbar ins Spiel bringt.
Thomas Seibert
Der Philosoph und langjährige politische Aktivist Thomas Seibert (60) ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien im Hamburger Laika-Verlag «Zur Ökologie der Existenz – Freiheit, Gleichheit, Umwelt».
Seibert, der in Frankfurt am Main lebt, ist Referent bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International und Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne (ISM). Das ISM versteht sich als «Programmwerkstatt für neue linke Politikkonzepte» und versucht, den linken Dialog in Deutschland über Parteigrenzen hinweg zu organisieren. Ins Leben gerufen wurde es 2010, zu den Gründungsmitgliedern zählen unter anderem die Kovorsitzende der deutschen Linkspartei, Katja Kipping, die SPD-Linke Andrea Ypsilanti und der kürzlich verstorbene Ökonom und WOZ-Autor Elmar Altvater.
Mitte Mai referierte Thomas Seibert im «Kosmos» in Zürich über das Erbe von 1968.