Dissens statt Konsens

Demokratie als konstituierender Prozess

Im Januar 2012, zu Beginn der Zeit der Monster, veranstalteten die Rosa Luxemburg Stiftung und die Interventionistische Linke eine internationale Konferenz in Dresden, die systematisch reflektieren sollte, dass jenseits des Reform-Revolution-Gegensatzes operierende „Mosaiklinke“  eine grundsätzlich ungehorsame Linke sein muss. Mein Vortrag findet sich in dem von Friedrich Burschel, Andreas Kahrs und Lea Steinert herausgegebenen Sammelband „Ungehorsam! Disobedience!“, erschienen in der edition assemblage. (Länger)

Der folgende Text untersucht die vielversprechende Wahlverwandtschaft zwischen den jüngeren Bewegungen zivilen Ungehorsams und dem, was man „Demokratietheorie“ nennt. Dabei war diese Theorie, anders als der Marxismus, anders aber auch als Poststrukturalismus oder Feminismus, zunächst nicht der theoretische Ausdruck einer Widerstands- und Befreiungsbewegung. Als besonderes akademisches Forschungsprogramm und Unterdisziplin der Politikwissenschaft sollte Demokratietheorie das historische Entstehen demokratischer Regierungsformen sowie deren gegenwärtige Verfassung erklären, in der Regel in wertneutraler, rein beschreibender Weise.. Als sie sich in den 1970er Jahren politisierte und von einer bloß beschreibenden zu einer kritisch wertenden Theorie wurde, war das zunächst noch Teil des Rückzugs zuvor marxistischer Theoretiker auf moderate, bald offen linksliberale Positionen: prominentester Vertreter dieser Wende war Jürgen Habermas. „Kritisch“ wurde sie allerdings schon in diesen Grenzen: schließlich wird eine Theorie der Demokratie nur deshalb gebraucht, weil sich die Sache selbst – Demokratie – als problematisch erwiesen hat.

Zwischenzeitlich hat sich diese Ausgangssituation deutlich verändert. Stimmen, die anfangs eher den Rand der Forschung markierten, rückten Zug um Zug in ihr Zentrum, verschoben die Ausrichtung der Theorie deutlich nach links. In Frankreich geschah dies durch Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Jacques Derrida; weiter nach links wagten sich Étienne Balibar, Jacques Rancière oder Alain Badiou vor, die ihren „westlichen Maoismus“ nicht einfach hinter sich lassen, sondern demokratietheoretisch transformieren wollten. In Deutschland erfolgte die Verschiebung deutlich verdeckter, bei Ingeborg Maus zum Beispiel durch eine Aktualisierung des politischen Denkens Immanuel Kants mit allerdings explosiven Folgen. Die liegen darin, dass Demokratietheorie auch im Linkskantianismus Maus’ zur Theorie eigenmächtig und selbstermächtigend praktizierter „Volkssouveränität“ und damit des zivilen Ungehorsams wird.[1]

Diese Drift nach links hat sich mittlerweile auch namentlich niedergeschlagen. So hat sich vom noch immer von Habermas repräsentierten Hauptstrang der „deliberativen“ (von lat. deliberatio, Beratung, Bedenken), weil auf die Herstellung von Einvernehmen und Konsens ausgerichteten Demokratietheorie ein erklärtermaßen eigenständiger Ansatz abgetrennt, der sich als Theorie der „Radikaldemokratie“ versteht. Ist die erste nach wie vor Theorie des demokratischen Rechtsstaats, versteht sich die andere als „wilde“ Theorie einer „Demokratie gegen den Staat“ (Miguel Abensour).

Der Eigensinn des radikaldemokratischen Moments

Deutlicher als durch den Unterschied im Namen wird der Eigensinn radikaler Demokratietheorie durch die notwendig plurale politische Praxis markiert, die zwischenzeitlich zu ihrem Bezugspunkt geworden ist. So wurde „radikale Demokratie“ für einen kurzen, bald ausgelöschten Augenblick an den Rändern der Massenproteste praktiziert, die am Ende des 20. Jahrhunderts den Zusammenbruch der „realsozialistischen“ Staaten besiegelten: die schon bald in die Knie bzw. zurück in Staat und Kirche gezwungene Solidarność hat zu ihrer Zeit einen Anfang möglich gemacht, der auf seine Fortführung wartet. Nachdrücklicher bildete sich eine originär radikaldemokratische Praxis dann in den globalen Widerständen gegen den kapitalistischen Globalisierungsprozess heraus, deren Aufbruch auf die große Demonstration von Seattle (1999) datiert werden kann. Gewann diese Sequenz ihr politisches Profil in den stets vielstimmigen, im Rückblick gesehen zunehmend militanten Protesten gegen nahezu jedes Treffen der G8- oder IWF-Eliten, trat ihr strategischer Einsatz am deutlichsten in Lateinamerika hervor: in der zapatistischen Revolte in Mexiko, im bolivianischen „Wasserkrieg“ des Jahres 2000 und in der argentinischen Krise 2001, in der Hunderttausende den Slogan prägten, der seither zur eigentlichen Losung jeder radikaldemokratischen Aktion geworden ist: „Que se vayan todos – sie sollen alle gehen!“ In jüngster Zeit hat sich das radikaldemokratische Moment markant in den weltweit verbundenen Bewegungen artikuliert, die ihren Ausgang 2010/2011 im „Arabischen Frühling“ nahmen. Trotz zum Teil enormer innerer Unterschiede können diese Bewegungen ihre bemerkenswerte, weil völlig unerwartete und noch heute vielversprechende Resonanz aufeinander in den Schlüsselbegriffen radikaler Demokratietheorie formulieren: Ungehorsam, konstituierende Macht, Ereignis – „Unvernehmen“. Dem von Rancière geprägten Begriff des Unvernehmens (mésentente, Dissens) kommt dabei insofern die leitende Rolle zu, als er sich dem Leitbegriff des Einvernehmens (entente, Konsens) direkt entgegensetzt, dem die klassische wie die deliberative Demokratietheorie folgt. Ist das Einvernehmen stets die Übereinkunft der Mehrheit, so ist das Unvernehmen zunächst die Sache einer Minderheit. Es liegt auf der Hand, dass in der Umstellung von der einvernehmlich vereinten Mehrheit auf die „unvernehmend“ sich abtrennenden Minderheit nicht weniger als eine Revolutionierung des Begriffs wie der Sache selbst der Demokratie angelegt ist.

Sichtbar wird hier allerdings auch das Problem, das radikaldemokratische Theorie bis jetzt nicht zureichend zu lösen vermag: den Umstand nämlich, dass radikale Demokratie eigentlich immer nur eine punktuelle oder besser situative Unterbrechung, doch keine systematische Überwindung von Herrschaft markiert. Um dieses Problem deutlicher sichtbar zu machen, soll ihr theoretischer und politischer Einsatz im Folgenden im Nachvollzug der wesentlichen Unterschiede verdeutlicht werden, mit denen sie sich von der deliberativen Demokratietheorie trennt. Methodisch wird dabei auf die Haupteinwände zurückgegangen, die von der deliberativen gegen die radikale Demokratietheorie erhoben werden. Dabei wird sich zeigen, dass die deliberativen Einwände zwar ernst zu nehmen sind, von der radikalen Demokratietheorie aber Zug um Zug beantwortet werden können. Dass dabei auf Polemik verzichtet wird, ist einerseits eine Frage des Stils, soll andererseits aber deutlich machen, dass Demokratietheorie in der „dürftigen Zeit“ (Hölderlin), die wir noch immer nicht hinter uns gebracht haben, einen Fortschritt markiert, den es erst einmal zu teilen gilt.

Erster Zug, erster Gegenzug: Ungehorsam und Unvernehmen des Volkes

Bleibt man beim Namen, dann bringt der deliberative Ansatz die Demokratie mit dem Prozess der Beratung zusammen und endet deshalb beim Konsens, also bei der Übereinkunft oder beim gegenseitigen Einvernehmen. Dieses Einvernehmen liegt in der Regel und nach der Regel bei der Mehrheit und drückt sich deshalb stets im Staat und im Recht, d.h. in Staats- und Regierungshandeln sowie in Gesetzesform aus. Der radikale Ansatz wiederum geht der Demokratie an die Wurzeln (lat. radix, Wurzel) und drückt sich deshalb im Dissens, im Streit oder eben im Unvernehmen aus, für das, wie eben angemerkt, in der Regel und gegen die herrschenden Regeln meist nur eine Minderheit einsteht. Dem Begriff des Unvernehmens steht der des Ungehorsams zur Seite. Dessen politische Konkretion beginnt überall dort, wo sog. ziviler Ungehorsam geübt wird. Unvernehmen und Ungehorsam führen auf den Begriff des Agonismus (gr. agon, Kampf, Wettstreit, aber auch: Versammlung), der selbst wiederum auf den des Antagonismus (gr. antagonisma, der Widerstreit im Sinn des nicht zu schlichtenden Gegensatzes) verweist. Im Kontext der Demokratie liegt allen diesen Begriffen der des Volkes (gr. demos) voraus, genauer: der des Volkes im Unvernehmen und Ungehorsam. Ihm entsprechen, last but not least, die Begriffe der konstituierenden Macht bzw. des konstituierenden Akts, die ihrerseits dem Begriff des Ereignisses verschwistert sind, der den Zusammenhang aller eben genannten Begriffe stiftet.

Um dem jetzt Zug um Zug nachgehen zu können, sei als letztes der theoretische Akt genannt, mit dem die radikale Demokratie ihr eigenes Feld überhaupt erst eröffnet. Nach der Begrifflichkeit Badious liegt dieser Akt im Vollzug des Unterschieds zwischen dem eigentlich Politischen und der bloßen Politik, nach der Begrifflichkeit Rancières im gleichsinnigen Unterschied der Politik von der Polizei. Der Begriff „Polizei“ wird dabei nach seiner älteren, in Deutschland auf das 15./16. Jahrhundert zurückgehenden Bedeutung gebraucht, in der das Wort die wohlgeordnete Ordnung eines Gemeinwesens und die zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung notwendigen Verfahren bezeichnete und dabei sowohl das öffentliche wie das private Recht einschloss. Der demokratietheoretische Unterschied zwischen dem Politischen und der Politik ist deshalb als Unterschied zwischen der Demokratie und dem Staat zu fassen, als Unterschied zwischen der freien Versammlung des demos einerseits und dem verregelten Handeln derer, die an der Stelle, im günstigen Fall im Auftrag dieses demos handeln.

Auf diesen ersten Zug der Radikaldemokratie spielt die deliberative Demokratietheorie ihren ersten Gegenzug aus und wirft dem Radikalismus vor, im Rückgang auf die freie und öffentliche Versammlung des Volkes ein substanzielles Subjekt – eben das Volk – zu setzen. Damit werde verkannt, dass Konstruktionen wie das Volk, die Massen, das Proletariat oder die Multituden verdrängen, dass wir in Wahrheit viele Einzelne sind, dass jede und jeder für sich sein oder sein/ihr eigenes Leben führt und dass wir im ewigen Widerstreit der Vielen und ihrer Wünsche, Begehren, Neigungen, Leidenschaften, Nöte, Fähigkeiten und Interessen die Vernunft, das Recht und satzungsmäßig verfasste Verfahren der Beratung, also den Staat brauchen, um geordnet feststellen zu können, was unter uns vielen tatsächlich Konsens ist. Nach deliberativer Ansicht beginnen jenseits des verrechtlichten oder zumindest gewohnheitsmäßig eingeübten Konsenses die unauflöslichen Differenzen der Vielen, von denen niemand behaupten kann, absolut im Recht und in der Wahrheit zu sein. Die Politik, das Recht und der Staat müssen deshalb nach dieser Auffassung immer Vollzugsformen des Konsenses sein, der uns vor dem Widerstreit der Leidenschaften und Interessen schützen und uns derart zugleich den Raum gewähren, unseren Leidenschaften und Interessen nachzugehen. Der Konsens selbst wiederum kann nur in freier und vernunftgeleiteter Beratung gefunden werden, also im Prozess der Deliberation. Dass dieser Prozess nicht macht- und gewaltfrei ist und unter kapitalistischen Bedingungen vor allem durch die Macht des Geldes entstellt wird, weiß auch die deliberative Demokratie. Deshalb setzt auch sie – der Radikaldemokratie insoweit verbunden – Demokratie mit fortschreitender Demokratisierung gleich. Sie tut dies allerdings so, dass Demokratisierung im deliberativen Sinn heißt, im Prozess der Beratung den Konsens so weit als möglich auszuweiten: ideal gesehen allein dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments folgend.

Diese Verflüssigung der konstituierten Macht in den partizipativen Prozess der Deliberation ist die Wendung des politischen Liberalismus nach links – markiert aber gleichwohl nach wie vor eine liberale Position. Das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil das Argument selbst durch und durch liberal ist und vom interessengeleiteten Individuum in seinem Gegensatz zu anderen, gleichermaßen interessengeleiteten Individuen ihren Ausgang nimmt: Weil der Menschen dem Menschen ein Wolf ist – homo homini lupus – brauchen wir zum gegenseitigen Schutz den Staat und das Recht. Damit zwingt der deliberativ-demokratische Gegenzug die Radikaldemokratie, ihren eigenen ersten Zug, die Wendung vom Staat in die freie Versammlung des demos, entscheidend zu verdeutlichen. Sie tut dies in zwei Zügen:

a.) Ja, der demos ist kein substanzielles Subjekt und schon gar kein Volk im ethnischen oder nationalen Sinn, er ist auch nicht die Klasse, sofern man unter diesem Kernbegriff des Marxismus eine empirisch identifizierbare gesellschaftliche Gruppe versteht.

b.) Wer aber ist dann der demos? Der demos, so antwortet Rancière, setzt sich aus denen zusammen, die im geregelten Verfahren nicht mitgezählt werden, denen dort Name und Stimme verweigert wird. Er ist die immer heterogene, nie zu homogenisierende Versammlung der Vielen, die im konstituierenden Akt ihrer Zusammenkunft den Anteil zuallererst sichtbar machen, der ihnen verweigert wird. Diese bisher nicht Mitgezählten können dann erst mit Namen benannt werden, die auf ein auch empirisch nachweisbares Unrecht und folglich auf bestimmte Subjekte verweisen: die Sklav_innen, die Plebs, Bäuer_innen und Arbeiter_innen, Frauen, die Unterworfenen der Erziehung und der Normalisierung, Fremde und Andere jedweder „Art“. Im Unvernehmen und Ungehorsam des konstituierenden Aktes stellt der so verstandene demos klar, dass bisher in Wahrheit eben nicht von allen die Rede war: die Versammlung des demos ist die Versammlung, in der der „Anteil der Anteillosen“ (Rancière) eingeklagt wird – und das im Namen aller und so verstanden im Namen der „99 Prozent“. Auf den Punkt gebracht: Des massenhaften Ungehorsams bedarf es gerade deshalb, weil den Ungehorsamen in den Beratungen der Gehorsamen kein Stimmrecht eingeräumt wurde – weil die Deliberation eben nicht die Deliberation aller war und dies auch nie sein wird. Noch einmal: Mit der Unterstellung eines substanziellen Subjekts, einer substanziellen Einheit hat das nichts zu tun, im Gegenteil.

Zwischenstück: Die secessio plebis – der Auszug der Menge

Einer vom Schriftsteller Livius aufgezeichneten mündlichen Überlieferung zufolge legten im Jahr 494 vor Christus die sog. „Plebejer“, d.h. die Menge (plebs) der nicht zu den adeligen „Patriziern“ (patres, Väter, Vorfahren) zählenden Einwohner_innen Roms, ihre Arbeit nieder und sammelten sich auf einem nördlich der Stadt gelegenen Hügel, der dem Gott Jupiter geweiht war und deshalb Mons Sacer, „Heiliger Berg“, genannt wurde. Mit dieser „secessio plebis“ (Auszug der Menge) legten sie das gesamte wirtschaftliche, aber auch das politische und kulturelle Leben der Stadt lahm und setzten so ihre lange Zeit vergeblich verfochtene Forderung durch, selbstgewählte „Volkstribune“ (tribuni plebis) in die Regierung entsenden zu können.

Wenige Jahre später, 449 oder 450 vor Christus, kam es zur zweiten secessio plebis. Diesmal sammelte sich die plebs auf dem Mons Aventinus, dem südlichsten der sieben Hügel Roms. Wieder brach das gesamte Leben der Stadt zusammen, wieder bildete sich eine in der politischen Verfassung so nicht vorgesehene Öffentlichkeit eigenen Rechts und eigener Macht. Diesmal setzten die Plebejer_innen das „Zwölf-Tafel-Gesetz“ durch, eine neue politische Verfassung, die so heißt, weil sie danach auf dem Hauptplatz der Stadt, dem Forum Romanum, auf zwölf Tafeln öffentlich ausgestellt wurde.

Zum dritten Auszug der plebs kam es 287 vor Christus. Jetzt sammelten sich die Leute auf dem Ianiculum, heute Gianicolo genannt, einem dem Gott Janus geweihten Hügel am rechten Tiberufer. Mit ihrem dritten Auszug erzwang die plebs endgültig ihre formelle Gleichberechtigung mit dem Adel, nach der Beschlüsse der Volksversammlung den Charakter von Gesetzen erhielten.

Die drei noch heute gültigen Lehren dieser Auszüge der Menge sind:

a.) dass die eigenmächtig einberufene Versammlung und die eigenmächtige Wortmeldung der aus der öffentlichen Sichtbarkeit und Anerkennung wie aus der öffentliche Rede Ausgeschlossenen notwendig ist, soll überhaupt sichtbar werden, dass es diesen Ausschluss gibt.

b.) dass die Unterbrechung des öffentlichen Lebens, die Ausrufung des Ausnahmezustands „von unten“ unumgänglich sind, soll sich der konstituierende Akt in einer Konstitution niederschlagen. Anmerkung: die volle Bedeutung des Unterschieds der konstituierenden und der konstituierten Macht erschließt sich erst, wenn die konstituierende Macht als verfassungsgebende und die konstituierte als verfasste Macht verstanden wird und ihr Unterschied auf das Problem der Verfassung bezogen wird.

c.) dass die Unterbrechung der herrschenden Ordnung, also der verfassungsmäßig fixierten Ordnung, immer neu unterbrochen werden muss, jeweils im eigenen Namen und kraft eigenen Rechts.

Man geht nicht fehl, wenn man in dem, was im antiken Rom von Straße zu Straße, von Stadtteil zu Stadtteil mitgeteilt und verstanden wurde, den ältesten uns bekannten Vollzug des Unterschieds zwischen dem Politischen und der Politik und damit das strategische Modell erkennt, dem eben nicht nur die Versammlungen in Tunis wie im Kairo der Jahre 2010/2012, sondern lange vorher schon wie nachher und künftig immer wieder unzählige andere Versammlungen ungezählter anderer Orte gefolgt sind und neu folgen werden: je auf ihre Weise, je gegen „ihre“ Polizei, „ihren“ Staat, je im Vollzug des konstituierenden Akts.

Zweiter Zug, zweiter Gegenzug: Das Problem der Entscheidung

Auf diesen ersten Zug und Gegenzug folgt dann allerdings der zweite deliberativ-demokratische Einwand: Wer auf das Unvernehmen und den Ungehorsam, also auf die Verletzung des geltenden Rechts und der geltenden Regeln setzt, wer also gegen den Konsens der Beratung auf den Dissens des Kampfes in der Selbstermächtigung der Versammlungen und Demonstrationen setzt, verfällt dem Dezisionismus (lat. Entscheidung). Tatsächlich ist der konstituierende Akt eine Entscheidung im rechtsfreien Raum, die eigenmächtig Freund_in und Feind_in trennt und sich derart zur gesetz- und rechtlosen Gewalt ermächtigt: im Extrem zum Terror und zur Diktatur. Dies gilt umso mehr, wenn ausdrücklich anerkannt wird, dass es keine substanzielle Einheit, kein substanzielles „Wir alle!“ gibt. Die radikaldemokratische Richtigstellung erfolgt auch hier in mehreren Teilzügen:

a.) Der erste verweist auf die Notwendigkeit, die Entscheidung zum Ungehorsam wahrhaftig im Namen der 99 Prozent zu treffen: nicht im Sinn einer substanziellen oder empirischen Behauptung, sondern in der tatsächlichen Einforderung eines Anteils der Anteillosen und nur in diesem Sinn tatsächlich im Namen aller.

b.) Sofern der radikaldemokratische Rechts- und Verfassungsbruch in einem Kampf erfolgt, der im Namen aller eröffnet und geführt wird, unterliegt dieser Kampf zumindest im Prinzip keinem Freund_in-Feind_in-Schema: er darf noch im Akt der Gewalt keinen absoluten Ausschluss vollziehen, sondern muss so geführt werden, dass zumindest im Prinzip jede und jeder einzelne aufgefordert ist, an diesem Kampf teilzunehmen, selbst ungehorsam zu werden. Der Kampf ist deshalb, darauf hat vor allem Chantal Mouffe immer wieder verwiesen, ein Agonismus, aber kein Antagonismus. Um das politisch zuzuspitzen: Demokratisch ist der Kampf nur als einer, der „von unten“ geführt wird, niemals dann, wenn er „von oben“ geführt wird.

c.) Weil der Ungehorsam des Politischen gegenüber der Politik nicht antagonistisch, sondern agonistisch ist und deshalb kein Ende im letzten Sieg einer letzten Schlacht kennt, sind das Unvernehmen und der Dissens immer neu zu formulieren. Das aber heißt nichts anderes, als dass die Entscheidung zum Ungehorsam immer neu zu treffen ist. „Dezisionistisch“ ist die im Auszug der Plebs getroffene Entscheidung also eben deshalb nicht, weil sie sich nicht auf die einmal getroffene Entscheidung fixiert, sondern sich zumindest im Prinzip auf ihren eigenen Widerruf anweist und sich so verstanden immer neu zur Entscheidung stellt. An dieser Stelle hilft der Verweis auf eine real existierende politische Verfassung zumindest ein Stück weiter – der Verweis nämlich auf den Artikel 146 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Ursprünglich unterstrich dieser Artikel lediglich den provisorischen Charakter des Grundgesetzes unter den Bedingungen der Zweistaatlichkeit von BRD und DDR. Indem er – übrigens auf ausdrückliche Initiative Oskar Lafontaines – nach der Wiedervereinigung nicht gestrichen, sondern beibehalten wurde, formuliert er nun in allgemeinem und grundsätzlichem Sinn unser Recht auf Vollzug des verfassungsgebenden Akts im Ungehorsam:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ (Art. 146 GG)

Genau in diesem Sinn nennt Jacques Derrida die radikale Demokratie eine „kommende Demokratie“: nicht, weil sie morgen ein für alle mal erreicht wäre, sondern weil sie immer im Kommen bleibt, weil wir uns immer neu eine andere Verfassung geben und dafür die geltende Verfassung außer Kraft setzen werden und folglich ungehorsam werden müssen – im Verfassungsbruch „von unten“ allerdings, nicht im Staatsstreich „von oben“.

Dritter Zug, dialektisches Einvernehmen: Das Problem der Konstitution

Der Verweis auf das verfasste Recht zum Verfassungsbruch führt jetzt allerdings auf den politisch entscheidenden Punkt im radikaldemokratischen Prozess: den Punkt nämlich, dass es sich tatsächlich um einen Prozess handelt. Konstituierende (verfassungsgebende) und konstituierte (verfasste) Macht stehen sich nicht abstrakt gegenüber, die konstituierende Macht reduziert sich nicht auf ihr eigenes Ereignis. Sie eröffnet vielmehr einen Prozess, der frei gesprochen als Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht zu denken bleibt. Auch an dieser Stelle kommt zum Tragen, dass der Ungehorsam als fortgesetzter Agonismus im Unterschied zum endgültigen Entweder-Oder eines Antagonismus zu denken ist.

Tatsächlich kommen sich radikale und deliberative Demokratie an dieser Stelle am nächsten: Gibt es eine Dialektik von Konsens und Dissens, von Einvernehmen und Unvernehmen, dann gibt es auch eine Dialektik zwischen der direkten Aktion der Rechts- und Regelverletzung und dem rechtsförmig verregelten Prozess der Beratung, zwischen Demokratie und Staat.

Allerdings, und daran hängt jetzt alles, wechseln sich Unvernehmen und Einvernehmen dabei nicht einfach einvernehmlich ab: das Unvernehmen ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es überhaupt eine Dialektik von Unvernehmen und Einvernehmen geben, dass sie in Gang bleiben oder neu in Gang gebracht werden kann. Genau deshalb kann sich das Unvernehmen nur im Ungehorsam äußern: im Akt des Rechts- und Regelbruchs, der überhaupt erst zur Beratung stellt, was recht ist und zur Regel werden kann. Im gleichen Zug gilt dann allerdings, dass sich die konstituierende Macht des Ungehorsams und des Kampfes nicht auf Dauer stellen kann, sondern ereignishaft bleibt: eine Unterbrechung. Sie ist anarchisch im Sinn der Bestreitung und Umwälzung der herrschenden Ordnung, darf darin aber nicht mit der Anarchie eines Bürger_innenkriegs verwechselt werden, in dem der Kampf nicht mehr Mitteilung des Unvernehmens ist, sondern zur Mitteilung selbst wird, zum bloßen Gewaltakt.

Die Bejahung einer unabschließbaren Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht stellt insofern auch eine kritische Reflexion auf die Geschichte der konstituierenden Macht in den zweieinhalb Jahrhunderten der Revolution dar: vom Ereignis der französischen Revolution 1789 über die Oktoberrevolution 1917 und bis zu den Staatsrevolutionen und Staatreformismen, die ihnen folgten. In allen diesen Fällen führte der gegen den Staat gerichtete konstituierende Akt zur Machtergreifung im und über den Staat, mit dem die Dialektik selbst ihren Abschluss finden sollte, de facto aber nur die Staatsmacht legitimiert hat.

Abschließender Einwand von dritter Seite

Radikale Demokratie besteht deshalb auch an dieser Stelle auf ihrem Unterschied zum Staat. Badiou hat dafür das folgende Bild gefunden: die ereignishafte Demokratie schafft im Akt des zivilen Ungehorsams eine „Distanz“ zum Staat und bleibt als Ungehorsam in diesem Sinn „zivil“: eine Angelegenheit der Bürger_innen und Bürger. Im gelingenden Fall – darin liegt die Dialektik – ergeht aus der Distanz zum Staat eine „Direktive“, die sich dem Staat auferlegt und ihn zu einem anderen Staat macht. Im Beispiel konkretisiert: Indem der Ungehorsam der Migrant__innen, die illegal ihren Heimatstaat verlassen und sich auf eigene Faust einen Gaststaat suchen, eben diesen Gaststaat zur steten Revision seiner Grenzen und darin auch zur steten Veränderung seines Staatsbürger_innenrecht nötigt, empfängt der Staat aus der Distanz des migrantischen Rechtsbruchs eine Direktive, der er so oder so zu entsprechen hat. Ihrem Gehalt nach läuft diese Direktive darauf hinaus, die Bürger_innenschaft selbst von einer exklusiv nationalen in eine der Tendenz nach globale Bürger_innenschaft zu verwandeln. Hier präzisiert sich einerseits, was unter dem „Anteil der Anteillosen“ als dem Gegenstand eben nicht des Einvernehmens, sondern des Unvernehmens zu verstehen ist: „anteillos“ sind diejenigen, denen hier das Bürger_innenrecht, die Gleichheit und Freiheit der Bürger_innen verweigert wird, weil sie Fremde sind. Zugleich aber präzisiert sich, warum der Ungehorsam die Bedingung der Möglichkeit einer Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht ist: es ist der Ungehorsam der Migrant_innen und nichts anderes als dieser Ungehorsam, der das Problem einer globalen Bürger_innenschaft allererst auf die Tagesordnung setzt.

Trotzdem bleibt an dieser Stelle ein Problem zu klären: Reicht es eigentlich aus, sich immer wieder in Distanz zum Staat zu begeben und sich immer anders in Distanz zum Staat zu halten – und die Umsetzung der Direktive anderen zu überlassen? Muss die Dialektik zwischen konstituierender und konstituierter Macht nicht auch direkt im Staat ausgetragen werden, muss der Ungehorsam nicht doch den Staat selbst besetzen, sich in den Staat begeben – was ja nicht heißen muss, ihn ganz zu „übernehmen“?

Damit sind wir bei dem eingangs vorgebrachten Verdacht, nach dem nicht nur die deliberative, sondern auch die radikale Demokratietheorie letztlich auf eine bloß (links)liberale Position beschränkt sei. Genährt hat sich dieser Verdacht ausgerechnet dort, wo der Widerspruch zwischen Demokratie und Staat zu Recht auf einen agonistischen Widerspruch eingehegt und unterstrichen wurde, dass dieser Agonismus kein Antagonismus ist, d.h. dass er keine letzte Schlacht kennt und dass die Demokratie so verstanden immer im Kommen bleibt.

Aber heißt das nicht, dass wir, die „99 Prozent“, immer in einer subalternen Position bleiben, dass wir immer neu in eine subalterne Position geraten oder uns immer neu in einer subalternen Position finden? Heißt dass nicht, dass wir den Fortgang der Herrschaft zwar vorübergehend unterbrechen können, ihm danach aber neuerlich unterworfen bleiben? Und zeigt sich diese eigentümliche Schwäche der Radikaldemokratie nicht umso deutlicher, wenn sie nicht nur zum Staat, sondern auch zum Kapital ins Verhältnis gesetzt wird: bleibt die Demokratie da auch immer nur im Kommen, geht sie in ihrem Ungehorsam da auch immer nur auf Distanz zum Kapital, das als solches aber fortdauert – wie der Staat, der ja auch nur unterbrochen werden kann? Kann die Demokratie Staat und Kapital nur verändern, aber nicht abschaffen, kann sie beide nicht einmal, wie Friedrich Engels vorschlug, „absterben“ lassen? Für die deliberative Demokratietheorie ist das keine Frage: wie der Staat gehört für sie auch das Kapital zur Demokratie. Die radikale Demokratie bleibt hier unentschieden, und das nicht nur, weil ein Ende des Kapitals momentan nicht absehbar ist. Muss man den demokratischen Agon also doch als Antagonismus zum Kapital und damit auch zu dessen Staat denken? Schließt dass nicht ein, zwischen Demokratie und Kapital ein Freund_in-Feind-in-Verhältnis zu setzen, das auf eine letzte Aufhebung angewiesen bleibt? Der Vollzug dieser Aufhebung wäre, soweit ist dem demokratietheoretischen Beharren auf der Unabschließbarkeit ihres Prozesses zuzustimmen, kein „Ende aller Geschichte“: doch würde er eine Vorgeschichte der Menschheit zum Abschluss bringen, in der sie sich des Kapitals und des Staates endgültig entledigt hätte. „Man muss sich“, schreibt Nicos Poulantzas zu recht, „in die Globalperspektive des Absterbens des Staates stellen.“[2]

Vorläufiger Schluss

Die Antwort auf diese Fragen ist zuguterletzt weniger eine Sache der Theorie als des zivilen Ungehorsams selbst: reicht er weiter als seine radikaldemokratische Theoretisierung, wird er sich früher oder später einen besseren theoretischen Ausdruck schaffen. Die im vollen Sinn des Wortes „politische“ Sequenz der Jahre 2010-2012 hat dafür insoweit einen unbedingt ernst zu nehmenden Beleg geliefert, als sie in besonders eindrucksvoller, ja in geradezu schöner Weise globale Dimension gewonnen hat. Die Kette der Versammlungen hat uns nicht nur von Tunis und Kairo nach Tripolis, Bahrain und Damaskus geführt, sondern von dort nach Tel Aviv, dann nach Athen, von dort nach Madrid, schließlich nach New York, dann nach London, zuletzt nach Moskau, Lagos und, im Blick auf den Putsch von 1973 von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung, nach Santiago de Chile: einmal rund um den Erdball. Zwar wurden überall andere Dinge ins Unvernehmen gesetzt – in Kairo andere als in Tel Aviv oder in New York, in Athen oder gar in Moskau und Lagos –, doch wählte der demos überall die gleiche politische Form: die Rückkehr des Politischen in seinem Unterschied zur bloßen Politik. Mittlerweile ist der „Arabische Frühling“ und, ebenso wichtig, die globale Resonanz, die ihm binnen Wochen und Monaten zuteil wurde, einer Phase der Stagnation gewichen, die nicht nur in Syrien durch brutale Gewalt und millionenfaches Leiden grundiert wird. In diesem Augenblick des Zweifels lohnt sich die Erinnerung an das, was Kant zu seiner Zeit von der Französischen Revolution gesagt hat. Ihm zufolge hatten wir es damals mit einem Ereignis im vollen Sinn des Wortes zu tun, mit einem „Phänomen“, das sich nicht mehr „vergisst“. Kant zufolge ist dies der Fall, weil das Ereignis (in seinem Fall die Französische Revolution, in unserem Fall vielleicht der „Arabische Frühling“) „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Verlauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall, verheißen konnte.“[3]

Wer sich die Mühe macht, diesen voraussetzungvoll verschachtelten und hochverdichteten Satz Zug um Zug auseinanderzulegen, gewinnt einen Ausblick, der noch über die Radikaldemokratie hinausführt – zumindest solange, als sie sich selbst als eine „unendliche Aufgabe“ (Heil/Hetzel) missversteht. Das soll niemanden hindern, sich auf den Ungehorsam und das Unvernehmen einzulassen, von dem sie besser als andere Rechenschaft abzulegen weiß.

[1]              Ich verzichte auf eine Literaturliste: wer das Feld der Demokratietheorie selbst erkunden will, kann den genannten Namen folgen und die Website http://www.radikal-demokratie.de/ durchforsten. Für eine Einführung in die radikale Demokratietheorie sei auf den im Netz zugänglichen Text Radikale Demokratie von Reinhard Heil und Andreas Hetzel verwiesen, zu dem eine zureichende Literaturliste gehört: http://www.radikal-demokratie.de/wp-content/uploads/2010/05/radikaldemokratie1.pdf

[2] Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatsmus, Hamburg 2002: 291

[3]             Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, http://www.toprue.homepage.t-online.de/ads/dsdf1798.pdf. Geschrieben 1798.